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Play-Kolumne / Thomas Glavinic über Big-Data-Desaster

von Thomas Glavinic
Handyfotos sind unsere Autobiographie. Doch was, wenn die Kamera kaputt geht? Ein Reset Bilder, SMS und Nummern löscht? Ein Big-Data-Desaster.

Es gibt viele Dinge, die mich Nerven kosten. Die internationale Politik lässt in mir von Zeit zu Zeit ein Monster erwachen, das in mir zurückzudrängen ich große Mühe habe, einstweilen gelingt es aber noch. In meinem persönlichen Umfeld sehe ich dagegen keine großen Probleme. Das Kind ist gesund. Keiner der Freunde leidet unter so heftigem Liebeskummer, dass ich mich nachts im Pyjama ins Auto setzen müsste. Die neue Wohnung ist groß und hat schöne junge Nachbarspaare ohne Vorhänge. Zwar ist mir kalt, weil ich nicht die leiseste Ahnung habe, wie ich die Gasheizung ankriege, aber das stecke ich locker weg. Alles wäre wunderbar, würde mein Iphone funktionieren.

Ich finde es unangenehm, mit einer knarzigen Stimme zu reden und diesen Menschen nicht zu sehen.

Das tut es aber nicht. Schon eine Weile. Die allerwichtigste Funktion, das SMS-Schreiben, macht keine Schwierigkeiten. E-Mails ebenfalls nicht, und wenn doch, es wäre mir egal. Die beantworte ich sowieso selten. Wenn jemand anruft, hebe ich noch seltener ab. Ich finde es unangenehm, mit einer knarzigen Stimme zu reden und diesen Menschen nicht zu sehen. Ich weiß, dass ich klinge wie Kaiser Wilhelm, aber ich stehe zu meinen Neurosen. Außerdem werde ich sowieso abgehört. Nur fotografieren kann ich nicht mehr.

„Nur“ nicht mehr fotografieren können – was für ein Euphemismus. Ich muss fotografieren, ständig und überall. Mein Gedächtnis ist schlecht, ich weiß ja nicht mal, wo ich letzte Woche war. Meine Biografie, das Album meines Lebens, das sind meine Handyfotos. Doch eines Tages drücke ich auf Kamera, und der Bildschirm wird schwarz. Beim zehnten Versuch, wenigstens diese Selbstfotodingskamera zu aktivieren, bin ich erfolgreich. Aber so selfiesüchtig bin ich auch wieder nicht, dass mir das reichen würde. Ich durchforste das Internet nach Abhilfe. Nichts klappt. Die letzte Maßnahme lautet: Totalreset. Oder wie man das nennt. Ich soll ein Backup machen und dann das Iphone sozusagen reflorieren. Was da alles passieren kann, denke ich, womöglich sind alle meine Daten trotzdem weg. Natürlich mache ich, was die da sagen. Und natürlich sind alle meine Daten weg. Das Handy hat ein Monate altes Backup verwendet, das Luder.

Wenn man die Nummern der Freunde verliert, kann das schlimme Folgen haben – wenn sie anrufen.

Die Unpässlichkeit meiner mobilen Kommunikationseinheit hat zu Verwerfungen in meinem Privatleben geführt. Erstens: Gut die Hälfte aller Nummern ist ins digitale Nirwana entschwunden. Nun kriege ich SMS von Unbekannten, und wenn ich höflich frage, wer da spricht, setzt es wildes Gekeife. Aha, lese ich in solchen Fällen, du hast mich also gelöscht? Habe ich
mir eh gedacht. Darauf ich: Nein, ich habe bloß … Handydings … Die Nummer: Spar dir die blöden Ausflüchte. Ich: WER SPRICHT DENN NUN DA? Nummer: Finds selbst raus. Ich: Wie soll ich das bitte rausfinden? Nummer: Hättest du mich eben nicht gelöscht! Ich: Herrgott im Himmel … Nummer: Womit habe ich dich denn beleidigt? Ich, verzweifelt: Mit dem Wassersack. Und dem Reptil. Nummer: Spinnst du? Was für ein Wassersack? Was für ein Reptil??? Ich: ICH WEISS NICHT, WER DU BIST, WEIL DAS HANDY ALLE NUMMERN GESCHLUCKT HAT! Nummer: Funkstille.

Zweitens: Ich habe für Aufsehen in einem Handyshop gesorgt. Mein fotografieruntaugliches, jedoch wenige Monate altes Iphone in der Hand, schildere ich nach kaum mehr als einer halben Stunde Wartezeit mein Problem. Er erklärt mir, er müsse das Telefon einschicken. Ich frage, ob ich für diese Zeit ein Ersatzhandy bekomme. Er: Nein. Ich: Wofür gibt es dann eine Garantie?
Er: Wir reparieren das Handy ja kostenlos. Ich: Und wofür bezahle ich monatlich eine Versicherung? Er: Die gilt nur bei Diebstahl oder Bruchschaden. Ich: Wünschen Sie, dass ich das Telefon hier vor Ihnen auf den Boden schmeiße? Er: Das können Sie gern tun, aber es dauert trotzdem drei Wochen. Ich: … (Aufsehen beziehungsweise Tumult).

Ich kann noch immer nichts fotografieren. Via SMS werde ich von unbekannten Nummern beschimpft. Das Telefon einschicken lassen geht nicht. Andererseits: drei Wochen keine SMS? Wäre vielleicht nicht das Schlechteste.

Thomas Glavinic lebt als Schriftsteller in Wien. Sein letzter
Roman „Das größere Wunder“ erschien 2013. Für WIRED
schreibt er regelmäßig über seinen Alltag mit der Technologie

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