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Chatten ohne Internetverbindung: Sind Mesh-Netzwerke die Zukunft der Kommunikation?

von Sonja Peteranderl
Chatten ohne Internetverbindung: Sind Mesh-Netzwerke und Messenger wie Firechat die Zukunft?

Hinweis der Redaktion: Dieser Text stammt aus der Magazin-Ausgabe von WIRED aus dem Jahr 2014. Wir haben ihn freigeschaltet, weil das Thema zur Frage passt, wie man in Krisensituationen wie nach den Anschlägen von Brüssel kommunizieren könnte ohne Netz.

Wenn Menschen verzweifeln, weil das Netz ausfällt, kann daraus auch eine Erfolgsmeldung werden: Als Zehntausende in Hongkong Ende September für mehr Demokratie auf die Straße gingen, das Mobilfunknetz überlastet war, China soziale Netzwerke zensierte und eine Internetblockade drohte, wurde Firechat zum Download-Hit. 100.000 Demonstranten holten sich die kostenlose Chat-App innerhalb von nur 24 Stunden auf ihre Smartphones. In der Sieben-Millio­nen-Metropole Hongkong wuchs die Firechat-Nutzergemeinschaft auf eine halbe Million an, sieben Pro­zent der Bevölkerung — und die App wurde zur digitalen Waffe der Proteste. In Millionen öffentlichen Chats verbreiteten die Demons­tranten Infos und Fotos, warnten vor Polizeiattacken, Straßenblo­ckaden, riefen nach Wassernachschub, vernetzten sich.

Chatten mit anderen funktioniert auch ohne Telefon- oder Internetverbindung.

Das Geheimnis des Erfolgs? Optisch unterscheidet die kostenlose Gruppen-Chat-App nichts von anderen Messengern — aufgeräumtes Design, Nutzer können sich anonym anmelden, Chats eröffnen, bei bestehenden Gesprächen mitdiskutieren, alles ist öffentlich.

Doch das Chatten mit anderen in der Nähe funktioniert auch ohne Telefon- oder Internetverbindung — ein Feature, das Firechat immun gegen technische Ausfälle oder staat­liche Blockaden macht. Und eine Fähigkeit, die das Programm und ähnliche Angebote zur Zukunft der Kommunikation machen könnte: überall dort, wo viele Menschen zusammenkommen, Sen­demasten überlastet sind oder das Internet nicht funktioniert. Ob in Stadien, Slums oder bei Straßenschlachten.

Wo immer das Internet kaputt ist, steigen die Downloadzahlen.

Statt über einen Sendemast zu einem zentralen Server — wie bei Whatsapp, Twitter, Facebook oder Instagram — läuft die Kommunikation bei Apps wie Firechat über die Smartphones der Umstehenden. Die Software stellt Peer-to-Peer-Verbindungen per WLAN oder Bluetooth her, verkoppelt also Geräte in unmittelbarer Nachbarschaft ­direkt miteinander. Jeder Smartphone-Nutzer wird dabei zum Überträger, jeder Mensch ein beweglicher Sendemast. So entsteht aus allen miteinander verbundenen Smartphones ein dezentrales, soziales Netzwerk, in dem die Teilnehmer Daten austauschen können. Je größer die Nutzerzahl, desto engmaschiger das Netz — daher der Name Mesh-Netzwerk.

Erst im März 2014 hatte das Silicon-Valley-Start-up Open Garden Firechat auf den Markt gebracht. Eigentlich sollte es nur eine kleine Demonstration sein für das Können der Entwickler. Vom Erfolg der App wurden die Macher überrascht. Firechat hat sich in wenigen Monaten zu einem Radar für den Zustand des Netzes entwickelt: Wo immer das Internet kaputt ist, steigen die Downloadzahlen, ob im Irak, in Taiwan oder zuletzt in Hongkong.

Firechat-Nutzer können über eine Entfernung von 40 bis 70 Metern miteinander kommunizieren. Die Reichweite wächst, je mehr Teilnehmer sich zusammenschließen — und ist theoretisch unbegrenzt.

Der Erfolg hängt davon ab, ob eine kritische Masse erreicht wird.

Das Programm macht Messengern wie Whatsapp oder Threema zwar keine Konkurrenz. In Deutschland sind die Chaträume bisher noch verwaist. Berlin, München, Köln, Hamburg und Düsseldorf haben die meis­ten Nutzer, man muss aber Glück haben, damit sich ein weiterer Nutzer in der Nähe finden lässt. Und der Erfolg hängt nun mal stark davon ab, eine kritische Masse zu erreichen – damit ein flächende­ckender Austausch möglich ist, überhaupt erst ein Netzwerk entsteht. Wie viele Nutzer Firechat aktuell hat, verrät das Unternehmen nicht.

Es fehlt auch noch an wichtigen Features, um massentauglich zu werden: Niemand kann bisher Privatnachrichten verschicken, bis jetzt können alle mitlesen, auch die chinesischen Zensoren bei den Hongkong-Protesten. Open Garden arbeitet gerade an einer Private-Messaging-Funktion, die Umset­zung wird aber noch Monate dauern. Auch geheim und verschlüsselt sind die Nachrichten nicht, diese Features soll jedoch etwa die junge Open-Source-Mesh-Software Briar bieten, die gerade von einem Team um den Informatiker Michael Rogers entwickelt wird.

Für P2P-Netzwerke bieten Armensiedlungen in Metropolen beste Bedingungen.

Dennoch könnte gerade in der Mesh-Technologie und in Apps wie Firechat großes Potenzial stecken: Das globale Dorf ist immer noch relativ klein. Fast zwei Drittel der Weltbevölkerung haben noch gar keinen Zugang zum Internet. Initiativen wie Village Telco haben in den vergangenen Jahren versucht, mit dezentralen Netz­werken Entwicklungsländer mit günstigem Internet und Telefon zu versorgen. Dazu setzten sie bisher auf um­gerüstete Router an Festnetzanschlüssen, die Mesh Potato. Doch erst ein paar Tausend dieser Router sind weltweit im Einsatz. Auch in den Computern der One Laptop Per Child-Initiative steckt ein Mesh-Anschluss. Doch erst die neue Software für mobile Geräte könnte das Prinzip mainstream­fähig machen.

Für Peer-to-Peer-Netzwerke bieten gerade Armensiedlungen in Metropolen beste Bedingungen, weil es von Vorteil ist, wenn sich möglichst viele Menschen auf engem Raum drängen. In Dharavi, dem größten Slum von Mumbai, in dem bis zu eine Million Menschen leben, ist die Bevölkerungsdichte zehnmal höher als im Rest der Stadt. Selbst wenn das Abwasser durch die Gassen fließt, Müllabfuhr fehlt, der Strom improvisiert ist, haben viele Bewohner zwar keinen Laptop, aber fast alle besitzen ein Handy, zunehmend ein Smartphone.

Viele Bewohner von Armen­siedlungen nutzen jetzt schon Messenger-Dienste wie Whatsapp. Im Mega­slum Dharavi, in dem mehr als 15 000 Kleinunternehmen entstanden sind, kurbelt die digitale Kommunikation die Wirtschaft an. Händler schicken ihren Kunden Fotos der Ware per Whatsapp, der Großauftrag wird dann per Messenger in Bestellung gegeben. Ein lokales Mesh-Netzwerk könnte eine Organisations- und Handelsplattform für solche Communities werden — ohne dass Kosten für die Internetnutzung anfallen.

Jetzt müsste es nur noch möglich sein, die Software offline zu kopieren.

Dort, wo es keine Möglichkeit gibt, sich die Anwendung aus dem Internet herunterzuladen, müsste eine App wie Firechat allerdings anders verteilt werden: Wenn es möglich wäre, die Software auch offline zu kopieren und weiterzugeben, oder Shops in Entwicklungsländern Smartphones mit solchen vorinstallierten Apps ausliefern würden, könnte der Messenger sogar ein alternatives Kommunikationssystem für Menschen werden, die keinen Zugriff auf das Internet haben.

Aber auch in dicht besiedelten Großstadtgebieten könnten kos­tenlose Chats die Internetnutzung ergänzen. „Es gibt Millionen von Menschen, die sich gerade ein Smartphone wie das Android One leisten können, aber sie können nicht jeden Monat fünf oder zehn Dollar für Datenpakete ausgeben“, sagt Christophe Daligault, CMO von Open Garden.

In den USA haben sich Besucher des Musikfestivals Burning Man in der Wüste von Nevada per Firechat ausgetauscht. Auch Sportveranstalter arbeiten mit der App, um in Stadien, in denen die Menschenmassen die Netze überfordern, eine Kommunikationsmöglichkeit anzubieten. Bei Veranstaltungen oder Konferenzen könnten Teilnehmer direkt miteinander kommunizieren, ohne auf eine Internetverbindung angewiesen sein — wie bei Digitalkonferenzen, bei denen das WLAN regelmäßig ausfällt.

Auch unerwartete Ereignisse können dazu führen, dass sich der Chat verbreitet, der ohne Netz funktioniert: Als am 22. Oktober dieses Jahres in der kanadischen Hauptstadt Ottawa Chaos ausbrach, weil ein Attentäter einen jungen Soldaten erschoss und versuchte, das Parlamentsgebäude zu stürmen, brach das Mobilfunknetz zusammen. Denn Tausende probierten gleichzeitig, Angehörige und Freunde zu erreichen.

„Können bitte alle in Ottawa Firechat installieren, damit wir mit unseren Liebsten Kontakt aufnehmen können“, forderte ein Kanadier auf Twitter. „Die Handymasten halten die Überbelastung nicht aus.“ 

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