Hinweis zu Affiliate-Links: Alle Produkte werden von der Redaktion unabhängig ausgewählt. Im Falle eines Kaufs des Produkts nach Klick auf den Link erhalten wir ggf. eine Provision.

Das riskanteste Spiel ihres Lebens: Zwei Zocker finden einen Bug in einem Poker-Automaten

von Kevin Poulsen
Zwei Zocker finden einen Bug in einem Poker-Automaten. Es wird das riskanteste Spiel ihres Lebens.

John Kane hat eine wahnsinnige Glückssträhne. Es ist der 3. Juli 2009, Kane marschiert in den High-Limit-Saal des Silverton Casino in Las Vegas und setzt sich an einen Video-Poker-Automat namens Game King. Sechs Minuten später blinkt die violette Signalleuchte zum ersten Mal. Er gewinnt einen Jackpot in Höhe von 4300 Dollar. Kane wartet, bis die zuständige Aufsicht den Gewinn bestätigt und ihn die Formulare des Internal Revenue Service (IRS) gegenzeichnen lässt – ein Prozedere, das die Steuerbehörde bei jedem Gewinn ab 1200 Dollar verlangt. Elf Minuten später räumt er 2800 Dollar ab. Kurz  darauf 4150 Dollar. Er ahnt nicht, dass er da schon längst unter Beobachtung steht, das Casino hat ihn im Blick.

Kane, 50 Jahre alt, hohe Stirn, Adlernase, Pianist – man kann ihn sich auf den ersten Blick auch eher vor einem Konzertflügel als vor einem blinkenden Poker-Automaten vorstellen. In elegantem Legato lässt er die langen Finger über die Tasten tanzen, sucht in aller Ruhe die guten Karten an der Maschine aus. Mit dem Gestus eines Gläubigers, der geschäftsmäßig eine überfällige Schuld einstreicht, nimmt er Jackpot um Jackpot entgegen. Für eine Summe von mehr als 10 000 Dollar braucht er nicht länger als eine Stunde.

Durch eine Kuppelkamera unter der Decke sieht ihm Charles Williams zu, der Überwachungschef des Casinos. Williams sieht sofort: Kane verwendet keines der zahlreichen Betrugswerkzeuge, die von den Casinos über die Jahre konfisziert worden sind. Er schiebt keine Leuchtdiode in den Einzahlungsschacht und manipuliert nicht mit einem Elektromagneten. Er drückt einfach nur auf die Tas-ten. Aber er gewinnt viel zu schnell viel zu viel.

ES IST KEINE FREUNDSCHAFTZWISCHEN KANE UND NESTOR.ES IST EINE ZWECKBEZIEHUNG

Um 12.34 Uhr sieht Williams die Leuchte des Game King erneut aufleuchten. Zum siebten Mal innerhalb von eineinhalb Stunden. Auszahlung diesmal: 10.400 Dollar. Da stimmt etwas nicht, Williams ist sich sicher. Die auf dem Bildschirm angezeigten Karten sind exakt die gleichen, mit denen Kane auch den Jackpot davor geholt hat – vier Zweien und eine Kreuz-Vier. Die Wahrscheinlichkeit, dass so etwas passiert, geht gegen null. Williams ruft den Manager zu sich, der für die Glücksspielautomaten verantwortlich ist. Gemeinsam sehen sie sich die Aufzeichnungen der Überwachungska-mera an. Als Kane seinen achten Jackpot abräumt – 8200 Dollar –, weist Williams die Security an: Sorgt dafür, dass dieser Typ das Casino nicht verlässt. Kurz darauf bauen sich drei Männer neben Kane auf.

Die Geschichte von John Kane ist die eines Mannes, dem gelungen ist, wovon jeder Glücksspieler träumt – und was jedes Casino fürchtet wie eine Bank den offenen Tresor: Er hat einen Weg gefunden, den populärsten Spielautomaten in Las Vegas auszuräumen, ohne sich dabei die Hände schmutzig zu machen. Er braucht kein Werkzeug und keine Waffen. Nur einen Bug in der Software. Kane ist klüger als die Maschine. So viel cleverer, dass jetzt, fast fünf Jahre nach jener legendären Jackpot-Nacht, selbst die Justiz kapituliert hat vor den Fragen: Ist es illegal, einen Fehler in der Programmierung auszunutzen? Ist es verboten, schlauer zu sein als ein Computer?

Er hatte bisher jährlich zwischen mehreren Zehntausend und Hunderttausend Dollar verloren.

Entdeckt hatte Kane den Bug drei Monate vorher im Fremont, einem anspruchslosen Laden am anderen Ende von Las Vegas. Zu dieser Zeit braucht er dringend Geld. Er hatte bisher jährlich zwischen mehreren Zehntausend und Hunderttausend Dollar verloren. Im Boulder Station, seinem Lieblingscasino, allein 2006 eine halbe Million Dollar. „Er hat mehr gespielt als sonst  irgendjemand in den Vereinigten Staaten“, sagt sein Anwalt Andrew Leavitt. „Ich will hier gar nichts beschönigen. Es ist eine Sucht.“ Kane ist dem Video-Poker verfallen.

Um dessen Suchtpotenzial nachvollziehen zu können, muss man verstehen, welch trügerisch simplen Eindruck die elektronische Version des Kartenspiels vermittelt. Der Spieler wirft Geld in das Gerät, platziert bis zu fünf Credits. Der Computer teilt die Karten aus. Der Spieler wählt die aus, die er behalten will, drückt die Taste Karten ziehen. Der Computer ersetzt die verworfenen. Die letzte Hand bestimmt die Höhe der Ausspielung. Es ist die Illusion, die Regie über den Automaten zu haben, die so viele Zocker nicht mehr loslässt.

Als in den 70er-Jahren die ersten Automaten aufgestellt wurden, war das Gerät sofort ein gewaltiger Erfolg. Der Patentinhaber gründete eine Firma namens International Game Technology (IGT). 1981 ging sie an die Börse. In den folgenden Jahren verfeinerte das Unternehmen das computerbetriebene Glücksspiel so lange, bis es sein Konzept 1996 mit dem Spiel King Multi-Game perfektio-nierte. Dieses erlaubt den Spielern, unter Varianten von Vi-deo-Poker zu wählen. IGT verkaufte den Casinos regel-mäßig Firmware-Upgrades, die die Automaten um immer neue Spiele ergänzten. Doch die Version Game King 5.0, veröffentlicht am 25. September 2002, hatte eine Neue-rung, die nicht im Prospekt stand: eine Reihe fast unmerklicher Fehler.

Als wollte sie dem Begriff Bug gerecht werden, nistete sich die Fehlfunktion ein wie eine Kakerlake. Überstand alle Aktualisierungen und infizierte 99 verschiedene Programme in Tausenden von Automaten überall auf der Welt. Niemand bemerkt ihn, bis John Kane Ende April 2009 im Casino des Fremont an einem der vier Game Kings mit niedrigem Limit spielte, gleich neben dem Eingang zum chinesischen Fast-Food-Restaurant, von Zigarettenrauch umnebelt und berieselt von Seichtpop der 90er-Jahre.

Der Bug zeigte sich nur beiläufig, so als wolle er sich nur dem zu erkennen geben, der ihn verdient. Kane hat gerade zwischen verschiedenen Spielvarianten hin und her gewechselt und einen bescheidenen Gewinn gemacht, als er den Auszahlungsknopf drückt. Er will es mit dem Geld an einem anderen Gerät versuchen. Plötzlich blinkt die Leuchte am oberen Rand. Der Bildschirm zeigt einen Jackpot von mehr als 1000 Dollar an. Der Game King muss den Verstand ver-loren haben, denkt Kane, er hat keine neue Hand gespielt. Er informiert einen Casinomitarbeiter. Der Mann hält das für einen Scherz und zahlt das Geld aus.

Die beiden könnten kaum unterschiedlicher sein.

Viele andere hätten die Sache auf sich beruhen lassen. Doch Kane ruft seinen alten Zockerbruder Andre Nestor an. Es ist der Beginn des größten Spiels ihres Lebens.

Die beiden könnten kaum unterschiedlicher sein. Kane ist ein feinsinniger Mann, in dessen Wohnzimmer drei Steinway-Flügel stehen. In den 80er-Jahren verdiente er in -Chi-cago sein Geld als Pianist für Tanzmusik. Er beendete seine Karriere, als er bei einem renommierten Klavierwettbewerb durchfiel. Der 13 Jahre jüngere Nestor ist ein Typ, der oft die richtigen Nummern zieht – aber immer zum falschen Zeitpunkt. Wie 1994, als er bei einer Lotterie vier Richtige ge-habt hätte, wäre er seiner Intuition gefolgt und hätte den
Lottozettel rechtzeitig abgegeben.

Laut seinen Unterlagen verspielte Nestor in den folgenden sechs Jahren insgesamt 120 000 Dollar.

Um näher an der Quelle zu sein, zog er 2001 nach Las Vegas. Saß tagsüber in einem Callcenter und trug nachts sein spärliches Gehalt in die Casinos. Kane und er lernten sich in einem Chat kennen. Es entwickelt sich keine Freundschaft, sondern die Zweckbeziehung zweier Abhängiger.

Laut seinen Unterlagen verspielte Nestor in den folgenden sechs Jahren insgesamt 120 000 Dollar. Irgendwann gab er auf und kehrte zurück in das verschlafene Swissvale in Pennsylvania. Dort führte er eine halbwegs geregelte Existenz, lebte von Sozialhilfe und spielte nur selten – abgesehen vom Lottoschein, den er zuverlässig abgab.

Als Nestor nach dem Gespräch mit Kane den Hörer auf-legt, ist ihm klar, dass sich jetzt etwas grundlegend ändern wird. Noch in derselben Nacht nimmt er den nächsten verfügbaren Flieger nach Las Vegas. Nach einem hastigen Frühstück fahren er und Kane zum Fremont, nehmen vor zwei benachbarten Game Kings Platz und machen sich an die Arbeit. Kane hat eine vage Idee, wie der Bug funktio-niert. Aber es ist ihm bisher nicht gelungen, das erhoffte Resultat zuverlässig zu wiederholen. Doch nach sieben Stunden, in denen sie wie angewurzelt auf ihren Stühlen gesessen haben, gelingt es Kane und Nestor, dahinterzu-steigen: Sie haben die Lösung gefunden.

Wie sich herausstellt, ist die Vielseitigkeit des Game King gleichzeitig sein verhängnisvollster Mangel. Neben verschiedenen Spielvarianten lässt der  Automat den Spie-ler auch die Höhe seines Einsatzes wählen: Bei den Low-Limit-Geräten im Fremont kann man zwischen sechs verschiedenen Einsatzhöhen entscheiden, von 1 Cent bis zu 50 Cent pro Credit. Der Schlüssel zum Bug ist, dass man die Einsatzhöhe unter den richtigen Umständen nachträglich ändern kann. Auf diese Weise ist es möglich, über Stunden mit einem Cent pro Credit zu spielen und nur Kleingeld zu verlieren, bis man eine gute Hand bekommt – vier Asse etwa oder einen Royal Flush. Dann wechselt man zu 50 Cent pro Credit und bringt den Automat dazu, irr-tümlich den Gewinn für einen neuen, höheren Einsatz auszuzahlen. Kane und Nestor haben eine Methode gefunden, die nicht nur Schritt für Schritt, sondern vor allem jedes Mal funktioniert (siehe Grafik nächste Seite).

Zum Glück stehen in Las Vegas die Game Kings an jeder Ecke.

Nestor und Kane sahnen jeweils ein paar Jackpots ab und gönnen sich zur Feier des Tages ein Abendessen, bei dem sie ihr weiteres Vorgehen planen. Sie müssen den Beutezug außerhalb des Fremont fortführen, wenn sie nicht riskieren wollen, im Casino aufzufallen. Zum Glück stehen in Las Vegas die Game Kings an jeder Ecke: im nächsten 7-Ele-ven-Laden genauso wie im schicksten Luxuscasino. Die beiden Männer legen sich einen Schlachtplan zurecht, mit dem sie selbst zu Game Kings werden wollen.

Nach einem weiteren Tag im Fremont versuchen sie ihr Glück anderswo. Doch zu ihrer Überraschung bringt die Abfolge, die sie herausgefunden haben, nicht das erwartete Ergebnis. Egal, wo sie es versuchen, im Hilton, dem Cannery, Stratosphere, Terrible’s, Hard Rock Café, Tropicana, Luxor und fünf weiteren Casinos, das Resultat ist überall das gleiche. Aus einem nicht ersichtlichen Grund sind nur die Game Kings im Fremont betroffen.

Am Ende einer frustrierenden Woche fährt Nestor mit gerade mal 8000 Dollar Gewinn zum Flughafen. Und es macht die Sache nicht besser, dass er, während er auf seine Maschine zurück nach Pennsylvania wartet, auch noch 700 Dollar an einem Video-Poker-Automaten verliert.

Kane beschließt derweil, allein aus den vier Maschinen im Fremont herauszuholen, was geht. Bald begreift er, dass er den Prozess beschleunigen kann, indem er die Double-
up-Option nutzt. Die stellt den Spieler vor die Wahl, die
Einsätze entweder zu verdoppeln, oder alles zu verlieren. Ansehnliche Gewinne, die Kane früher bei Weitem gereicht hätten, sind jetzt Kleinkram. Nachdem er seine neue Stra-tegie fünf Wochen lang angewandt hat, ist das Fremont um mehr als 100 000 Dollar ärmer.

Den Verantwortlichen des Casinos bleibt Kanes Glücks-strähne nicht verborgen. Die vier Automaten unter der Leuchtreklame des China-Imbisses belegen unter den unrentabelsten Spielen plötzlich den ersten Platz. Normalerweise bringen sie dem Fremont zuverlässig 14 500 Dollar im Monat ein. Jetzt haben sie allein im Mai 75 000 Dollar Verlust gemacht. Am 25. Mai spricht ein Mitarbeiter Kane an und eröffnet ihm, dass an sämtlichen Game Kings die
Double-up-Option deaktiviert werde. Dem Mann ist auf-gefallen, dass Kane von der Funktion ungewöhnlich oft
Gebrauch gemacht hat. Er vermutet, dass die Glückssträhne irgendwie damit zusammenhängen muss.

Kane nimmt die Nachricht mit Fassung auf. Der Bug, nicht die Verdopplungsfunktion, ist das wahre Geheimnis seines Erfolgs. Doch als er das nächste Mal am Game King spielt, trifft ihn der Schock: Die magische Tastensequenz funk-tioniert nicht mehr. Von einem Moment auf den anderen unterscheidet sich das Fremont durch nichts von den anderen Casinos, die immun gegen den Bug sind.

Er ruft bei Nestor an und erzählt ihm von der Entwicklung: Double-up an – Trick funktioniert. Double-up aus – Trick funktioniert nicht. Es ist Nestor, der daraus schließt, dass der Erfolg ihrer Methode von dieser Funktion abhängen müsse. Das ist das entscheidende Teil des Puzzles. Es erklärt, warum der Bug außerhalb des Fremont nirgendwo auftritt. Die meisten Casinos schalten das Double-up aus, weil es bei den Spielern eher unbeliebt ist. Doch jeder zufällig vorbeikommende Mitarbeiter kann ihn aktivieren. Nestor fliegt sofort zurück. Erste Station: das Harrah’s. Dort warten die Game Kings reihenweise. Kein Mitarbeiter wehrt sich dagegen, als die beiden darum bitten, die Double-up-
Option einzuschalten.

Was vorher ein Spiel war, bei dem immer die Bank gewinnt, verwandelt sich vom einen Moment auf den nächs-ten in eine planbare Operation, bei der Kane und Nestor die Zügel in der Hand halten. Wenn sie 500.000 Dollar verdie-nen wollen, bleiben sie so lange sitzen, bis sie 500.000 Dollar verdient haben. Wenn sie das Gefühl haben, in einem Casino genug kassiert zu haben, ziehen sie weiter ins nächs-te. Video-Poker ist kein Glücksspiel mehr – es ist eine Geldvermehrungsmaschine.

Für Nestor, der sich bislang mit kümmerlichen 1000 Dollar Sozialhilfe durchs Leben schlagen musste, eröffnet sich schlagartig eine völlig neue Perspektive. Ein eigenes Haus, Geldanlagen, bessere Kleidung, Geschenke für seine Freunde zu Hause. Kane dagegen sieht sich auf bestem Wege, all die Verluste auszumerzen, die er angehäuft hat, seit er nach Sin City gekommen ist.

Sie können dieselbe Hand spielen.

Und im Team zu arbeiten, hat durchaus Vorteile. So entdecken sie, dass sie mit derselben Hand mehr als einen Jackpot abräumen können. Dafür brauchen sie weiter nichts zu tun, als die Einsatzhöhe nach der Auszahlung zu verringern und die einzelnen Schritte zur Aktivierung des Bugs zu wiederholen. Sie können dieselbe Hand spielen, sooft sie wollen. Ein riskantes Manöver: Selbst dem bestbesuchten Casino dürfte irgendwann auffallen, dass ein Spieler wiederholt mit demselben Blatt gewinnt. Aber jetzt, wo sie gemeinsam spielen, übernehmen Kane und Nestor einfach jeweils die Kiste des anderen. Nestor gewinnt 4000 Dollar, wartet ein bisschen, räumt seinen Platz für Kane – und der zieht noch einmal 4000 Dollar ab.

Die Harmonie zwischen den beiden hält allerdings nicht lange an. Sobald Geld ins Spiel kommt, ist jede Beziehung früher oder später einer Zerreißprobe ausgesetzt. In Nestors und Kanes Fall heißt das: früher. Noch heute fragt sich Nestor, wie es zum Zerwürfnis zwischen den beiden kommen konnte. „Ich dachte, wir wären so eng befreundet, dass so etwas nicht passieren kann.“

Am Ende des ersten Abends ziehen sie sich in ein Hotelzimmer zurück, um die Beute aufzuteilen. Nestor hat ein-gewilligt, dem alten Freund die Hälfte seiner Gewinne zu überlassen. Schließlich war der Bug dessen Entdeckung. Doch jetzt befallen ihn Zweifel an dieser Absprache. Er weiß, dass jeder Jackpot dem Internal Revenue Service gemeldet wird, und er hat so viel Geld gewonnen, dass er in einer höheren Steuerklasse landen wird. Wenn er jetzt noch die Hälfte an Kane abtreten muss, bleibt ihm am Ende womöglich nicht einmal genug, um die im folgenden Jahr anfallenden Steuern zu begleichen. Er spricht das Thema an. Er würde sich wohler fühlen, das Geld zu behalten, bis die Steuerschuld beglichen ist, sagt er. Es gehe ja bloß um ein Jahr. Danach würde er Kane mit Freude die Hälfte seiner Gewinne auszahlen. Der ist ungehalten, aber nicht besonders überrascht. In seinen Augen ist Nestor einer der Typen, die selbst bei geschenktem Geld ihre Besessenheit nicht zügeln können. Es kommt zu einem heftigen Streit. „Was mache ich dann hier überhaupt?“, schreit Kane. „Ich ge--
winne hier überhaupt nichts, wenn ich dir alles abgebe.“ Sie einigen sich auf ein Drittel von Nestors Tagesgewinn. Nestor sagt, er habe 6000 Dollar in Hunderten auf den Tisch geblättert und sei zu Bett gegangen.

Sie gewinnen und streiten weiter.

Doch die Spannung lässt auch am nächsten Tag nicht nach. Sie spielen Seite an Seite im Wynn, einem der Supercasinos in Las Vegas. Sie gewinnen und streiten weiter. Nestor findet inzwischen, dass er Kane überhaupt nichts abzugeben brauche. Immerhin habe er Kane und sich erst auf die Idee gebracht, dass die Double-up-Option der entscheidende Teil des Bugs war. „Wärst du an meiner Stelle auf diesen Bug gestoßen, hättest du mir doch gar nicht erst davon erzählt“, blafft Kane zurück. Nestor steht auf, lässt seinen Partner am Automaten zurück.

Er fliegt nach Rio, um sich abzureagieren, macht dann allein weiter in Vegas. An seinem letzten Tag sackt er an einem Game King im Wynn 61 000 Dollar ein. Er verlässt die Stadt mit 152 250 Dollar Bargeld. Fertig ist er aber noch lange nicht: Was hier funktioniert, wird auch in Pennsyl-vania klappen. Warum sich also noch länger mit einem Freund abgeben, der ihn so enttäuscht hat?

Auch Kane macht allein weiter. Offizielle Zahlen werden nie bekannt gegeben, und Kane ist für diesen Artikel nicht zu sprechen. Aber das FBI schätzt Kanes Gewinne später auf über 500 000 Dollar aus acht verschiedenen Casinos. Allein im Wynn kassiert er: 225 240 Dollar. Er spielt wie im Rausch. Bis zu jenem Abend im Silverton, als sich drei Sicherheits-leute vor ihm aufbauen, ihm Handschellen anlegen und ihn abführen. Kurz darauf trifft ein bewaffneter Beamter des Gaming Control Board (GCB) ein, der Aufsichtsbehörde für Glücksspiele. Er konfisziert Kanes Geldbeutel sowie die 27 000 Dollar in seiner Tasche und überführt ihn wegen Verdachts auf Diebstahl in das Untersuchungsgefängnis von Clark County. Drei Tage später nehmen Techniker von der Technology Division des GCB den Tatort unter die Lupe. Mit der forensischen Untersuchung wird John Lastusky beauftragt, ein 25-jähriger Absolvent des Studiengangs für Informatik an der University of Southern California. Er sieht sich die Überwachungsvideos an, die Kane in Aktion zeigen, und beginnt herumzuprobieren. Nach ein paar Tagen ist er in der Lage, den Ablauf zu rekonstruieren. Er gibt seine Erkenntnisse an IGT weiter. Das Unternehmen fordert seine Kunden daraufhin auf, die Double-up-Option umgehend zu deaktivieren. Den Bug selbst zu eliminieren, dauert etwas länger: Jeder betroffene Game King benötigt einen Patch. In einem Casino in Las Vegas genauso wie in einer Spielhalle in Pforz-heim oder einem Kiosk in Kalkutta. Wenn ein Betriebs-system wie Windows oder OS X eine Sicherheitslücke hat, laden Kunden das Update aus dem Internet. Münzspielautomaten sind aber nicht online. Aktualisierungen werden auf Speicher überspielt und verschickt.

Obwohl Kane ihn eindringlich warnt, zieht Nestor in Pennsylvania weiter durch die Casinos. Er hat bis zu diesem Moment schon 50 000 Dollar eingenommen und ist überzeugt, dass sein alter Buddy ihm nur ein letztes Mal die Tour vermiesen möchte. Wie ein Wanderer, der munter durch den Wald spaziert, obwohl hinter ihm ein Flächenbrand lodert, verbringt er den restlichen Juli und einen Großteil des Augusts damit, das Meadows auszunehmen. Bis das Casino schließlich misstrauisch wird und sich weigert, Nestor den Gewinn auszuzahlen. Er protestiert kurz, marschiert dann davon und beginnt im Parkhaus zu rennen. Er kann aufhören: Er hat gut eine halbe Million Dollar eingesackt. Genug für den Rest seines Lebens.

Doch am 6. Oktober 2009, um 13.30 Uhr, nähert sich ein Dutzend Polizisten Andre Nestors zweistöckiger Eigentumswohnung in einer ruhigen, baumbestandenen Straße. Es ist ein Einsatz wie bei einem Terrorismusverdächtigen: Sie brechen die Tür auf, sodass der Rahmen splittert, brüllen „Auf den Boden!“ und legen Nestor sofort Handschellen an. In den nächsten zwei Stunden stellen sie sein Apartment auf den Kopf. Schneiden die Matratze auf, nehmen Verkleidungen von der Decke und filzen seinen Computer.

Es ist der erste große Glücksspielskandal in Penn-sylvania, seit der Staat 2004 die Spielautomaten legalisiert hat. Die Presse inszeniert Nestor als Mensch gewordene Reinkarnation Danny Oceans. Die Behörden legen ihm 698 Straftaten zur Last, die von Diebstahl bis zur Bildung einer kriminellen Vereinigung reichen. Der Bezirksstaatsanwalt beschlagnahmt jeden Penny von Nestors Gewinnen und gibt das Geld dem Meadows zurück. Nach zehn Tagen im Bezirksgefängnis kommt Nestor auf Kaution frei.

Nestor ist entschlossen, den Fall vor Gericht durchzufechten. Er ist überzeugt: Keine Jury wird einen Spieler verurteilen, der einen Spielautomaten mit dessen eigenen Waffen geschlagen hat. Doch Anfang 2011, als gerade die Geschworenenauswahl ansteht, erwartet Nestor eine Überraschung. Zwei FBI-Agenten tauchen auf und holen ihn aus dem Bezirksgerichtsgebäude von Washington County. Das Justizminis-terium hat den Fall übernommen. Nestor und Kane erwartet ein staatliches Verfahren.

Auf dem Weg zum Streifenwagen ruft Nestor in die Fernsehkamera eines örtlichen Lokalsenders: „Ich werde hier verhaftet, weil ich an einer Slot-Maschine gewonnen habe. Wenn du an einem solchen Ding spielst und dein ganzes Geld verlierst, lassen sie dich in Ruhe. Aber sobald du gewinnst, werfen sie dich ins Gefängnis.“

Die Staatsanwaltschaft in Las Vegas klagt Nestor und Kane wegen Verstoßes gegen den Computer Fraud and
Abuse Act (CFAA) an: Es ist das Gesetz gegen Computer-betrug und -missbrauch von 1986. Die Regierung argumentiert, Kane und Nestor hätten ihr eigentlich legitimes
Zugriffsrecht auf den Game King verletzt, als sie wissentlich einen Bug ausnutzten und sich damit „unautorisierten Zugriff“ auf das Gerät verschafften. Laut den Statuten der Casinos ist es den Spielern ausschließlich erlaubt, nach
den offiziellen Regeln für Video-Poker zu spielen. Die Verteidiger halten dagegen: Die Klage wegen Computerhackings müsse fallen gelassen werden. Ihre Be-gründung: Alles, was der Game King den Spielern über sein Bedienfeld zu tun ermöglicht, ist per definitionem ein „autorisierter Zugriff“.

Die Vorverfahrensanträge ziehen sich über achtzehn Monate. In dieser Zeit gerät der CFAA wegen zweier anderer Fälle unter Beschuss. Im Januar 2013 begeht der Programmierer und Aktivist Aaron Swartz Selbstmord. Er ist auf
der Grundlage des CFAA angeklagt worden, widerrechtlich massenweise wissenschaftliche Aufsätze heruntergeladen zu haben. Danach werden erstmals Rufe nach einer Reform des Gesetzes laut.

Drei Monate später verwirft das 9. Bundesberufungs-gericht die Anklage wegen Computerhackings in einem viel beachteten Verfahren gegen David Nosal, einen ehemaligen leitenden Mitarbeiter einer Personalvermittlungsfirma.
Er hatte drei Angestellte überredet, ihm Informationen
aus der Datenbank der Firma zuzuspielen. Das Gericht entscheidet, dass der Diebstahl nicht zum Computerhacking wird, bloß weil die Daten von einem Computer und nicht von einem Kopiergerät kommen. Zum ersten Mal seit seiner Ratifizierung wird der CFAA in dieser Zeit genau unter die Lupe genommen.

Weil er Parallelen zum Game King-Verfahren sieht, fordert der mit diesem Fall betraute Richter die Staatsanwaltschaft auf, ihre Hacking-Anklage zu begründen.
Doch die versucht es erst gar nicht. Der einzige noch verbleibende Vorwurf lautet am Ende „Verabredung zum Betrug unter Nutzung von Telekommunikationsmitteln“. Ein paar Monate später lässt das Justizministerium auch diese letzte Anklage fallen. Kane und Nestor kommen auf freien Fuß.

Seit 2009 haben die beiden kein Wort miteinander gesprochen. Zugelassen zu haben, dass der Bug ihn und Kane entzweien konnte – das bereut Nestor am meisten. „Ich dachte, wir wären so lange befreundet, dass so etwas nicht passieren kann.“ Kane verbringt seine Zeit unter anderem damit, Aufnahmen seiner Klavierkonzerte auf Youtube zu veröffentlichen. Nestor sagt, das Meadows-Casino in Pennsylvania hätte immer noch sein Geld. Gleichzeitig aber sei der Internal Revenue Service wegen seiner Gewinne hinter ihm her und verlange 239 861,04 Dollar an Steuern, Zinsen und Strafgebühren – Geld, das er nicht mehr hat. Nestor hat in den Casinos von Pennsylvania inzwischen Hausverbot. Manchmal noch fährt er zum Zocken in einen der Nachbarstaaten. Seine größere Sucht ist momentan aber ein Computerspiel, dem er verfallen ist. Candy Crush, das er auf seinem Android-Tablet spielt. Innerhalb von nur zwei Monaten hat er 515 Levels geschafft – mithilfe eines Cheats aus dem Internet. Er bekommt damit Extraleben, ohne dafür zu zahlen.

GQ Empfiehlt