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Was war da los? Netzpolitik-Blogger Markus Beckedahl über die Tage rund um den #Landesverrat

von Markus Beckedahl
Es war der Datenschutz-Skandal 2015: Gegen Netzpolitik.org wurde wegen Landesverrats ermittelt. Was war da los? Blogger Markus Beckedahl über zehn wilde Tage.

Es kommt selten vor, dass man eine bestimmte Uhrzeit an einem bestimmten Tag mit etwas verbindet, das das eigene Leben vollkommen umkrempeln sollte. In meinem Leben gibt es eine solche Uhrzeit. 14 Uhr, am 30. Juli 2015. Da traf die förmliche, urkundenbeglaubig­te Postzustellung bei mir ein, mit der mir der Generalbundesanwalt der Bundesrepublik Deutschland mitteilen ließ: Ich, Markus Beckedahl, damals 38 Jahre alt, war ganz offiziell ein Landesverräter im Anfangsverdacht. 

Gegen mich, meinen Redakteur Andre Meister und unsere journalistischen Quellen würden Ermittlungen wegen Landesverrats laufen – das stand da. Ich erinnere mich genau an diesen Moment, an den gelben Umschlag. Und an dieses Wort, das ich bislang nur aus der Mottenkiste der Historie kannte. Landesverrat. 
Die Vorgeschichte: Im Februar und April 2015 hatte An­dre auf unserem Blog Netzpolitik.org über Pläne des Ver­fassungsschutzes berichtet, die Netzüberwachung in Deutschland massiv auszubauen – unter anderem durch eine Art Rasterfahndung auf sozialen Medien, über eine eigene, 75 Personen starke Abteilung. Details dazu waren schon 2014 von anderen Medien enthüllt worden, wir hatten nun über Quellen die vertraulichen Originaldokumente erhalten, die ein größeres Bild hergaben. Vor allem die Frage, ob der Verfassungsschutz noch auf Basis des Grundgesetzes agiert, wenn er individuelle Kommunikation überwacht, fanden wir höchst problematisch. Finden wir auch heute noch. 

Die Höchststrafe für Landesverrat beträgt lebenslänglich. Meine Mutter hatte das im ARD-Videotext gelesen und rief verängstigt bei mir an.

Markus Beckedahl

Aber aus der Debatte, die wir eigentlich darüber führen wollten, wurde nichts – wegen eines blöden Zufalls. Knapp zehn Minuten nachdem unsere zweite Geschichte online gegangen war, kündigte Justizminister Heiko Maas auf Twitter neue Pläne für die Wiedereinführung der Vorratsdatenspeicherung an. Plötzlich war das das Thema des Tages. Für den Verfassungsschutz interessierte sich keiner mehr. 

Wir übersetzten den Artikel noch schnell ins Englische, für den möglicherweise aufmerksameren Rest der Welt. Und waren etwas enttäuscht darüber, dass die viele Recherchearbeit am Ende zu fast keiner Resonanz führte.
Es ist für uns selbstverständlich, dass wir Dokumente im Rahmen der Berichterstattung auch online stellen. Wir kommen aus der Hackerkultur und sind es gewohnt, auf Quellen zu verlinken, unsere Arbeit hinterfragen zu lassen: Möglicherweise übersehen wir Aspekte oder interpretieren etwas falsch. Vorher überlegen wir allerdings genau, ob das gesellschaftliche Interesse an einer Veröffentlichung schwerer wiegt als Gründe, die eventuell dagegen sprechen könnten, zum Beispiel der Quellenschutz.

2005 waren, im Auftrag der Staatsanwaltschaft Potsdam, die Redaktionsräume des Magazins Cicero durchsucht worden, um Quellen eines Geheimdienstberich­tes aufzuspüren. Das Bundesverfassungsgericht stellte damals klar, dass auf diese Art nicht gegen Journalisten vorgegangen werden darf, um ihnen Dienstgeheimnisse abzupressen und so Quellen zu identifizieren. Aber dem Strafgesetzbuch-Paragrafen 94 zum Landesverrat hatten wir nie Beachtung geschenkt. Nur zweimal in der deutschen Geschichte wurde Journalisten Landesverrat unterstellt: 1962 in der „Spiegel“-Affäre und, weniger bekannt, 1983 bei Ermittlungen gegen die Zeitschrift „Konkret“. Damals ging ich in den Kindergarten. Mein Kollege Andre war noch gar nicht geboren. 

Schon im Herbst 2014 hatte Kanzleramtschef Peter Altmaier den Abgeordneten im Geheimdienst-Untersuchungsausschuss mit Strafanzeige gedroht, sollten weiterhin interne Dokumente an Medien weitergereicht werden. Wir fühlten uns geehrt, denn namentlich genannt wurden damals Der Spiegel, die Süddeutsche Zeitung – und wir! Wir stellten natürlich als Erstes das Schreiben von Altmaier online. Es blieb bei der Drohung. Zu Anzeigen kam es nie. 

Dann: der Juli 2015. An einem Samstagmorgen las ich auf Twitter, der Verfassungsschutzpräsident habe wegen drei Presseberichten Strafanzeige erstattet. Ein Journalist des Deutschlandfunks hatte die Geschichte verbreitet – aber es hieß darin nur allgemein, zwei Anzeigen beträfen Artikel eines Internetdienstes. Ich schaute nach, ob wir damit gemeint sein könnten. Die zwei im Bericht genannten Monate waren jedenfalls genau die, in denen wir unsere Texte zum Ausbau der Netzüberwachung publiziert hatten. Netzpolitik.org hatte 2004 als Hobbyprojekt begonnen. Um alle relevanten Beiträge an einem Ort zusammenzuführen und zu kuratieren, wurde die Seite im Laufe der Zeit immer professioneller – und journalistischer. Ab ungefähr 2009 konzentrierte ich mich stärker auf das Blog, machte es nach und nach zum Beruf. Journalismus hatte ich nicht gelernt, ich probierte und experimentierte eher damit herum. Bis mir immer mehr Journalisten erklärten, dass das, was wir da machen, Journalismus sei – und wir somit Journalisten. 

Als Dankeschön haben wir erst mal die geheime Strategie des BND zum Ausbau der Netzüberwachung veröffentlicht. Wir lassen uns nicht einschüchtern. Niemals.

Markus Beckedahl

Im Sommer 2015 konnten wir unsere Redaktion auf fünf Personen ausbauen. Aber eine Rechtsabteilung haben wir als kleiner Player natürlich nicht.
Die Geschichte nahm unterdessen weiter Fahrt auf. Am Montag nach dem Deutschlandfunk-Bericht versuchten wir herauszufinden, was da genau vorging. Die Pressestellen des Generalbundesanwalts und Verfassungsschutzes wollten zu der lancierten Meldung keinen Kommentar abgeben. Es gab zwar einzelne Medienberichte, aber letztendlich waren wir etwas verunsichert, dass so wenig passierte und das Thema so schnell in der Versenkung verschwand. Bis zu dem besagten Moment, 30. Juli 2015, 14 Uhr, in dem ich das förmliche Anschreiben sah. Paradoxerweise waren wir eher glücklich, endlich die Bestätigung zu haben. Dafür, dass es Ermittlungen gab. Nicht nur gegen unsere Quellen, sondern auch gegen uns als Journalisten. Aber was war noch mal – Landesverrat? Wir stellten das Schreiben online, befragten Juristen in unserem Netzwerk. Alle mussten recherchieren. Sogar Justiziare großer Medienhäuser erzählten uns später, sie hätten „Landesverrat“ erst nachschlagen müssen. 

Die Geschichte rauschte durch Twitter und Facebook, der erste Journalistenanruf kam nach einer Stunde: von den BBC World News. Wir versuchten, unseren Admin zu erreichen, stellten fest, dass er im Urlaub war – in dem Moment crashte auch schon unser Blog. Das Drei- oder Vierfache der üblichen Zugriffszahlen kann der Server verkraften, aber das, was wir nun erlebten, sprengte alle Dimensionen. Die Geschichte schaffte es in die 20-Uhr-„Tagesschau“, unser Büro verwandelte sich in einen kleinen War Room. Freunde kamen vorbei, um uns zu unterstützen. Schnell wurde eine Spiegel-Seite mit den beanstandeten Berichten und Originaldokumenten gebaut. Titel: Landesverrat.org.

Andere fingen an, eine Demonstration vorzubereiten. Ich hatte Vorbehalte, weil ich fürchtete, dass nur wieder die üblichen paar Verdächtigen kommen würden, die immer dabei sind, wenn es um Überwachung und Grundrechte geht. Außerdem hatte ich ein freies Wochenende eingeplant, wollte die Woche drauf in Urlaub fahren. Daran war nicht mehr zu denken.
Gleichzeitig begannen wir, Spenden für Anwaltskosten zu sammeln. Immerhin stand auf Landesverrat mindestens ein Jahr Gefängnis. Die Höchststrafe beträgt sogar lebenslänglich – meine Mutter hatte das im ARD-Videotext gelesen und rief verängstigt bei mir an. 

Aber da hatten uns befreundete Juristen schon bestätigt, dass der Vorwurf an den Haaren herbeigezogen war und wir gute Karten hatten. Erstens: Wir hatten keine Staatsgeheimnisse veröffentlicht, die die Bundesrepublik in ihrem Bestand gefährden würden. Zweitens: Man würde uns nicht mal den Vorsatz nachweisen können. Wir wollten das Land nicht schädigen, sondern eine Debatte über politische Themen auslösen, die die Verfassung gefährden könnten. Also das genaue Gegenteil.

Trotzdem brauchten wir Geld. Aber auch unsere Spendenseite war down. Also twitterten wir Screenshots davon. Andere kamen auf die Idee, unsere IBAN-Nummer zu twittern – neben dem Hashtag #Landesverrat wurde auf einmal auch #DE62430609671149278400 ein Trending-Topic. Nach vier Tagen hatten wir 50000 Euro, damit hätten wir notfalls bis vors Bundesverfassungsgericht ziehen können.

Wir verließen uns darauf, dass die Öffentlichkeit uns im Notfall helfen würde. Mit so massiver Unterstützung hatten wir dennoch nicht gerechnet.

Markus Beckedahl

Der nächste Tag wurde noch härter. Das Telefon klingelte im Minutentakt, vor unserer Tür standen Kamerateams Schlange. Am Nachmittag trat Justizminister Heiko Maas vor die Presse, er hatte extra dafür seinen Urlaub unterbrochen. Und sprach sich gegen die Ermittlungen aus. Viele Journalisten dachten, damit wäre das Thema durch. Erste Interviewanfragen wurden zurückgezogen.
Am Samstagnachmittag, zwei Tage nach der Ankunft des gelben Umschlags, fuhren wir zum Dorothea-Schlegel-Platz am Berliner Bahnhof Friedrichstraße. Wir waren sprachlos, wie viele Menschen zur Demo gekommen waren, um uns zu unterstützen. „2500 Landesverräter“ titelte „Zeit Online“. So viele Leute waren in Deutschland lange nicht mehr für die Pressefreiheit auf die Straße gegangen. 

Die Sache schien zur handfesten Staatsaffäre zu werden. Verfassungsschutzpräsident Hans-Georg Maaßen schob den Schwarzen Peter zum Generalbundesanwalt Harald Range, der schob ihn wieder zurück. Am Montagvormittag war Landesverrat das Topthema in der Bundespressekonferenz. Als Mitglied der Konferenz stellte ich die Frage, ob das Innenministerium ausschließen könne, dass gegen Netzpolitik.org Überwachungs­maßnahmen laufen würden. Natürlich konnte das nicht ausgeschlossen werden. 

Das war der einzige Moment, in dem uns mulmig wurde. Bei Ermittlungen wegen Landesverrats kann in Deutschland das komplette Arsenal der Anti-Terror-Überwachung genutzt werden – von akustischer Raumüberwachung bis zur Observation. Natürlich auch gegen Journalisten. Seit elf Jahren berichten wir über den Ausbau des Überwachungsstaates – zu dieser Grundparanoia, die in unserem Beruf fast unvermeidlich ist, kam nun plötzlich der Verdacht hinzu, dass möglicherweise unsere Wohnungen und Redaktionsräume verwanzt, unsere Telefone abgehört wurden. Ein schreckliches Gefühl. Völlige Machtlosigkeit. (Später stellte sich heraus, dass man den Schritt in unserem Fall noch nicht gegangen war. Jedoch waren unsere Konten und Melderegister abgefragt worden.)

Die Affäre eskalierte. Am Dienstag nach Bekanntgabe der Ermittlungen schickte Justizminister Maas den Generalbundes­anwalt in frühzeitige Rente. Maas musste dafür erneut seinen Urlaub unterbrechen. Es war allerdings klar, dass Range als Bauernopfer ausgewählt worden war. Die Regierung versuchte, das mediale Feuer zu löschen – es war aber immer noch unklar, wer wann was wusste. Und wer die Öffentlichkeit belog. Bis heute ist das Rätsel ungelöst: Inwiefern waren Innenministerium und Kanzleramt zu welchem Zeitpunkt über die Ermittlungen informiert? Die Aussage, man habe alles erst aus den Medien erfahren, kann nicht stimmen. 

Wenige Tage später wurden die Ermittlungen gegen uns eingestellt. Was uns zwar entlastete – andererseits aber nur ein Freispruch zweiter Klasse war. Wir hätten gern einige entscheidende Fragen vor Gericht geklärt, öffentlich. Zum Beispiel, ob der Straftatbestand Landesverrat noch zeitgemäß ist, um gegen kritische Journalisten vorzugehen. Ob die Einleitung der Ermittlungen in dieser Form überhaupt rechtens war. Und: Wir hätten gerne von einem Gericht die Bestätigung erhalten, dass Netzpolitik.org zu jedem Zeitpunkt vollkommen im Recht war.

Natürlich haben wir auch Glück gehabt. So weit wir alles rekonstruieren konnten, war gar nicht geplant gewesen, dass wir von den Ermittlungen erfahren. Der eigentliche Grund: Der Generalbundesanwalt hatte ein Gutachten in Auftrag gegeben, um festzustellen, ob es sich bei den Veröffent­lichungen tatsächlich um Staatsgeheimnisse handelte. Der Gutachter, ein BND-naher Professor, ließ sich Zeit und fuhr auch noch – das Motiv zieht sich quer durch die ganze Geschichte – in Urlaub. Durch die ungeahnte Verzögerung drohte der Fall die Verjährungsfrist zu reißen. Was der Generalbundesanwalt nur dadurch verhindern konnte, dass er die Frist durch die Briefzustellung an uns aussetzte. 
Bizarrerweise hatten wir sogar Glück, dass ausgerechnet der Landesverrats-Paragraf 94 für uns gewählt wurde – die starke Symbolik war der Gegenseite offensichtlich nicht bewusst gewesen. Die Generalbundesanwaltschaft hätte ebenso Nummer 95 anwenden können, das „Offenbaren von Staatsge­heimnissen“. Dieses gut im Gesetz versteckte Totschlagargument 
gegen Journalisten gilt es rasch zu beseitigen. 

Wir haben noch mehr aus der Affäre gelernt. Die Definition von „Staatsgeheimnis“ muss geändert werden. Derzeit legen Behörden fest, was unbedingt geheim ist und was nicht – ohne demokratische Kontrolle. Besser wäre es, von vornherein auszuschließen, dass bestimmte Komplexe als Staatsgeheimnis gelten dürfen, wegen des großen gesellschaftlichen Interesses, das für eine Veröffentlichung spricht. Das würden Angriffe gegen Journalisten via § 94 und § 95 ausschließen. Und obwohl die Sicherheitsmaßnahmen in unserer Redaktion schon immer hoch gewesen waren: Die Erkenntnis, dass wir völlig legal in unseren Privat- und Redaktionsräumen überwacht werden könnten, schärft noch einmal das Bewusstsein dafür.  

Die Frage, ob wir uns als Journalisten oder Blogger sehen, hat zudem noch tiefgreifendere Bedeutung, als wir gedacht hätten. Wir hatten uns erst im vergangenen Jahr den eindeutigen Journalistenstatus erkämpft, durch die Akquise von Presseausweisen, Bundestagsakkreditierungen und Mitgliedschaft in der Bundespressekonferenz. Außer konservativen Abgeordneten und der „FAZ“-Politik­redaktion gab es zuletzt kaum noch Stimmen, die uns den Status absprechen und uns die Privilegien der Pressefreiheit sowie den damit verbundenen Schutz verweigern wollten. Das war im Landesverratsfall mit entscheidend. Dass es eben nicht nur darum ging, ein paar verrückte Blogger in die Schranken zu weisen. Sondern dass der Vorgang als ein veritabler Angriff auf die Pressefreiheit zu sehen war. 

Der Medienwandel, der sich seit vielen Jahren abspielt, macht es also notwendig, die Definition vom journalistischen Beruf neu zu fassen.

Markus Beckedahl

Allerdings gilt nur ein Teil unserer Redaktionsmitarbeiter offiziell als Journalisten. Viele Redakteure schreiben ehrenamtlich, nicht beruflich. Im Extremfall wären sie also nicht so klar geschützt gewesen. Der Medienwandel, der sich seit vielen Jahren abspielt, macht es also notwendig, die Definition vom journalistischen Beruf neu zu fassen. Der Schutz der Pressefreiheit muss für alle gelten, die sich an journalistische Standards halten.

All die Jahre über war uns bewusst, dass wir es als kleines Medium mit großen, mächtigen Gegnern zu tun hatten. Dabei verließen wir uns immer auf die Hoffnung, dass uns die Öffentlichkeit helfen würde, wenn wir unter Druck geraten sollten. Dennoch hätten wir niemals geglaubt, dass die Unterstützung so massiv und riesig sein würde. Die oft gehörten Klagen darüber, dass die digitale Öffentlichkeit nicht politisch handlungsfähig sei – zumindest in unserem Fall können wir sie nicht be­stätigen. Wenigstens ein gutes Fazit aus dem Katastro­phenjahr 2015. 

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