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Wie funktioniert Erinnerung? Wissenschaftler erforschen dies mithilfe von Gedächtnissportlern

von João Medeiros
Wettkampf der Superhirne: Beim Extreme Memory Tournament messen sich die besten Gedächtnissportler der Welt. Mit ihnen versuchen Forscher jetzt herauszufinden, wie sich das menschliche Gedächtnis tunen lässt.

Dieser Artikel erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe des WIRED Magazins im September 2015. Wenn ihr die Ersten sein wollt, die einen WIRED-Artikel lesen, bevor er online geht: Hier könnt ihr das WIRED Magazin testen.

Im Mai 2015, beim letzten Match während der Gruppenphase des Extreme Memory Tournament, versucht Johannes Mallow, den Geschwindigkeitsrekord fürs Auswendiglernen einer 80-stelligen Zahl zu brechen. Der Ingenieur aus Magdeburg, der privat ziemlich oft seinen Schlüssel verlegt und Termine verschwitzt, kann sich innerhalb von fünf Minuten 1080 Binärziffern merken, innerhalb von zehn Minuten 380 Karten und innerhalb von 15 Minuten 492 abstrakte Bilder und Wörter.

Mit 501 Ziffern in fünf Minuten brach er im Jahr 2013 den Weltrekord, wurde damit in London aber trotzdem nur Vizeweltmeister — weil es nur eine unter mehreren Disziplinen war. Gedächtnissportler wie Mallow können sich besonders viel besonders schnell merken. So besonders viel und schnell, dass sie ein Fall für die Wissenschaft sind: Was können wir von den merkfähigsten Hirnen über das menschliche Gedächtnis lernen?


Um Zahlen behalten zu können, hat Mallow ein System entwickelt, eine Mnemotechnik: Er hat jeder Zahl von 0 bis 999 ein vorher festgelegtes Bildobjekt zugeordnet. Nummer 090 zum Beispiel steht für Pizza, 122 für Pflaumen, 559 für einen Traktor. „Ich habe ein halbes Jahr gebraucht, um die Bildersammlung zusammenzubekommen“, sagt er. „Die habe ich binnen zwei Wochen auswendig gelernt. Doch es hat rund zwei Jahre gedauert, bis ich das System wirklich schnell benutzen konnte.“

In dem Raum, in dem das Extreme Memory Tournament (XMT) der weltbesten Gedächtnissportler stattfindet, sind vier Tische aufgestellt, auf jedem davon zwei Laptops Rücken an Rücken und an den Seiten zwei nach außen gedrehte große Flachbildschirme für die Zuschauer. Am ersten Tag treten die 24 Teilnehmer in der Vorrunde bei vierminütigen Wettbewerben gegeneinander an — eine Minute zum Merken, drei Minuten zum Wiedergeben. Die Kategorien sind: Bilder, Spielkarten, Wörter, Zahlen sowie Namen, die Gesichtern zugeordnet sind. Während die Sportler memorieren, sehen die Zuschauer schweigend auf die Monitore, auf denen mit zehnsekündiger Verzögerung die Züge der Kontrahenten erscheinen. Mallow, bereits für die nächs­te Runde qualifiziert, tritt gegen den Norweger Ola Kåre Risa an, den Siebten der Weltrangliste. Mallow trägt eine Spezialsonnenbrille mit einem schwarzen Einschub aus Pappe, in den nur ein kleines Guckloch geschnitten ist. Ablenkungen sollen vermieden werden. Risa hat rote Ohrenschützer auf und ein Cap mit Seitenklappen. Parallel laufen drei weitere Partien, in einer davon kämpft ein Mitfavorit, der deutsche Neurowissenschaftler Boris Konrad, der seine Doktorarbeit über außergewöhnliche Gedächtnisleistungen schrieb.


Ausgerichtet wird das XMT am Rande von San Diego auf dem Gelände der US-Pharmafirma Dart NeuroScience, die therapeutische Medikamente für die Förderung von Gedächtnisleistungen entwickelt. Abgesehen von ein paar Einzelstudien, haben sich Psychologen und Neurowissenschaftler bislang wenig für Gedächtnissportler interessiert — obwohl deren Leistungen viele Annahmen über die Grenzen des menschlichen Erinnerungsvermögens widerlegen. Eine davon besagt etwa, dass Menschen sich maximal eine Reihe von sieben Ziffern, Buchstaben oder Namen merken können. Der Kognitionspsychologe Henry Roediger, der beim XMT im Publikum sitzt und seit vier Jahren mit Dart zusammenarbeitet, sagt: „Johannes Mallow hat mal eine Liste mit 364 Objekten geschafft, die ihm im Abstand von einer Sekunde gezeigt wurden. Viele Leute glauben immer noch, die Merkspanne lasse sich nicht trainieren. Nun ja, diese Leute hier können es.“


Im Jahr 2010 bekam Roediger von Dart eine interessante Anfrage: Er sollte Menschen mit außergewöhnlichem Erinnerungsvermögen erst finden und dann untersuchen. Eine intensive wissenschaftliche Beschäftigung mit diesem Personenkreis, so die Hoffnung, könne neue genetische oder neurologische Erkenntnisse erbringen, die Dart bei der Entwicklung von Medikamenten und Therapien helfen würden. Nach Schätzungen des Unternehmens müssten etwa fünf Millionen Menschen getestet werden, um einhundert mit besonderen Merkfähigkeiten zu finden. Als ersten Schritt stellte Dart deshalb einen Gedächtnistest online, den dann rund 50.000 Menschen auch tatsächlich absolvierten.

Wenn Mallow eine lange Abfolge von Objekten auswendig lernen möchte, geht er zum Beispiel in Gedanken durch seine Wohnung in Magdeburg und platziert die Objekte

Roediger aber schlug eine Abkürzung vor: gezielte Tests an Gedächtnissportlern. „Dart wollte untersuchen, ob eine mögliche genetische Prädisposition gefunden werden könnte, die für überragende Merkfähigkeiten verantwortlich ist“, sagt Roediger. „Es finden schon regelmäßig ein paar Turniere statt, bei denen sich Gedächtnissportler messen, doch wir dachten: Wäre es nicht eine gute Idee, die Leute gleich hierherzuholen?“ Mallow ist einer von sieben Gedächtnissportlern, die in den vergangenen drei Jahren mehrmals im Memory Lab des Department of Psychology in der Washington University in St. Louis waren, um sich von Roediger im Rahmen der Kooperation mit Dart testen zu lassen. Wenn Mallow eine lange Abfolge von Objekten auswendig lernen möchte, geht er zum Beispiel in Gedanken durch seine Wohnung in Magdeburg und platziert die Objekte, die er sich merken will, eines nach dem anderen an einem bestimmten Ort. Mallow leidet an fazioskapulohumeraler Muskeldystrophie, einer degenerativen Muskelerkrankung, aufgrund der er seit 2011 auf einen Rollstuhl angewiesen ist. In seinen Gedächtnisreisen aber kann er immer noch gehen.

In denen startet er an der Eingangstür und wendet sich zunächst nach links, wo sein Rollstuhl steht; dann geht er ins Wohnzimmer, wo er links einen kleinen Schrank sieht; weiter in die Küche, da ist der Kühlschrank, die Spüle, die Fensterbank, ein Schrank. Da vorne: der Balkon. Im Schlafzimmer steht ein Stuhl, das Bett, der Nachttisch, die Heizung; und im Bad schließlich, dem letzten Zimmer, Dusche, Toilette, Waschbecken, Waschmaschine. Dort überall kann man etwas draufstellen, hineinlegen, reinwerfen.

In seinem Kühlschrank brennt ein Alligator. In der Spüle klettert ein Frosch auf einen Anker

Pro Wettbewerb kann Mallow diesen Weg nur einmal vor seinem geistigen Auge ablaufen. „Wenn ich ihn zweimal verwende, besteht die Gefahr, dass ich Bilder aus unterschiedlichen Durchläufen vermische“, sagt Mallow. „Die Erinnerungen sind sehr schwierig aus dem Gedächtnis zu löschen. Meistens muss ich drei bis fünf Tage warten, bis ich einen Ort wieder benutzen kann.“ Also hat er sich noch 15 weitere Wege draufgeschafft, unter anderem einen durch die Wohnung seiner Mutter und einen über den Campus der Magdeburger Uni, wo er gerade seine Doktorarbeit über MRT-Tomografie schreibt. In Mallows letztem Gruppenmatch beim XMT geht es um Zahlen: Die Teilnehmer bekommen eine Reihe aus 80 Ziffern präsentiert, die sie sich merken und dann korrekt wiedergeben müssen. Nelson Dellis, Gründer des XMT und aktueller US-Gedächtnisrekordhalter, wendet sich bei seiner Anmoderation an die Zuschauer: „Stellen Sie sich vor, Sie sind in einer Bar und treffen sieben attraktive Menschen, deren Telefonnummern Sie sich merken wollen.“

Mallow schaut sich die Ziffern an, die auf seinem Bildschirm erscheinen, und läuft im Geiste los: An die Eingangstür seiner Wohnung legt er eine Pizza mit Pflaumenbelag. Seinen Rollstuhl verwandelt er in einen Traktor, den er mit einem Kompass navigiert. Im Schrank lässt Mallow die alten DDR-Comicfiguren Digedags Bowling spielen. In seinem Kühlschrank brennt ein Alligator. In der Spüle klettert ein Frosch auf einen Anker. Auf der Fensterbank steht ein Ofen voller Fischstäbchen. Mallow beobachtet sich selbst dabei, wie er mit einem Hobel Wäsche auf dem Sofa trocknet. Sein Blick schweift weiter: Auf dem Balkon sitzt eine Drag Queen auf einem Karussell, oben auf der Lampe fährt Shiva Auto, auf dem Fernseher ist ein Whiteboard von einer Gabel durchbohrt, über den Kerzen lodert eine Windel, ein Fremder wirft mit Brot. Zum Schluss sieht Mallow, wie eine Zunge den Stuhl leckt und irgendwie online geht, um eine LP zu suchen.

Nach 21,01 Sekunden stoppt Johannes Mallow im XMT-Turnierraum den Timer, schließt seine Augen und tippt 80 Ziffern in sein Laptop: 0901225592413072 24732629846274765163882186
01050743502074416854297860438768731359.

Noch bevor das Ergebnis bekannt gegeben wird, weiß Mallow: Er hat den Rekord gebrochen.


Die ersten Gedächtnis-Weltmeisterschaften fanden im Oktober 1991 im Athenaeum Club in London statt. Die sieben Teilnehmer, alles Briten, trugen Smokings. Eingeladen hatten sie der Schachgroßmeister Raymond Keene und Tony Buzan, Ratgeber­autor von Büchern wie Nichts vergessen! Kopftraining für ein Supergedächtnis. Keene und Buzan wollten einen Wettbewerb etablieren, bei dem die besten Gedächtnissportler der Welt abstrakte Bilder, Binärzahlen, Wörter oder Gedichte auswendig lernen sollten. Um potenzielle Teilnehmer aufzuspüren, durchsuchten sie Zeitungen nach Ar­tikeln über besondere Erinnerungsleistungen. So fanden sie Dominic O’Brien.

Im Kindesalter wurde bei O’Brien Legasthenie diagnostiziert, was er auf einen Unfall zurückführt, den er im Alter von acht Monaten hatte: Sein Kinderwagen wurde von einem Zug mitgeschleift. Seine Eltern erzählten ihm erst davon, als O’Brien 16 Jahre alt war und die Schule bereits verlassen hatte, frustriert über seine Unfähigkeit, im Unterricht mitzukommen. In seinen Zeugnissen stand: „Neigt zum Träumen mitten im Rechnen, sodass er den Faden verliert“, oder: „Furchtbar langsam, kann oft die Frage nicht wiederholen“. Erst als 30-Jähriger — er hatte zuvor bei einer Ölfirma gearbeitet und im Recycling-Geschäft — sah Dominic O’Brien 1987 im Fernsehen eine Folge der Show Record Breakers mit dem Gedächtniskünstler Creighton Carvello. In der Sendung prägte sich Carvello innerhalb von 179 Sekunden die Abfolge eines durchgemischten Kartenspiels ein, wobei er jede Karte nur einmal sehen durfte.

„Ich hatte mich schon immer für Kartentricks interessiert, und das war der ultimative“, sagt O’Brien. „Ich wusste nicht, ob Carvello ein Genie war oder bloß ein Trick dahintersteckte.“ Also ging er in eine Bücherei, um nachzulesen, wie Carvello vorgegangen war. Aus den Büchern wurde er nicht schlauer, also entschied O’Brien, es selbst herauszufinden. „Erst dachte ich, Carvello setze vielleicht seinen Körper ein: Wenn die erste Karte die Kreuz-Zwei ist, stellt er vielleicht seinen linken Fuß auf 2 Uhr; wenn die zweite Karte eine Vier ist, dreht er den Fuß auf 4 Uhr. Aber um sich so ein ganzes Kartenspiel zu merken, hätte er ja ein Schlangenmensch sein müssen.“ Auch mathematische Formeln erwiesen sich als Sackgasse. Dann kam O’Brien auf die Idee, den Karten im Geiste Bilder von Objekten, Tieren oder Personen zuzuordnen und sie entlang eines vorgeplanten Weges zu platzieren. „Alles zu einer Reise zu machen, war der Heureka-Moment“, sagt er. „Der Herz-Bube erinnerte mich an meinen Onkel, die Karo-Zehn an die Tür von Downing Street No. 10 und so weiter. Danach musste ich nur noch im Geist die Route durchgehen und all die Figuren treffen.“

Mit dieser Methode merkte sich O’Brien bald nicht nur Karten, sondern auch Zahlenfolgen, Wörter, Telefonnummern, Gedichte. Für sein erstes Kartenspiel brauchte er noch 25 Minuten, bald aber brach er Carvellos Rekord von drei Minuten. 1990 merkte O’Brien sich die Reihenfolge von 35 Kartenspielen, das sind 1820 Karten, was ihm den ersten Eintrag ins Guinness-Buch der Rekorde bescherte. O’Brien traf Carvello bei der Premiere der von Buzan und Keene initiierten World Memory Championships zum ersten Mal persönlich — und schlug ihn. Und zwar genau in der Disziplin, die ihn anfangs so inspiriert hatte: Er merkte sich ein Kartenspiel in 149 Sekunden und wurde ers­ter World Memory Champion.

Im Jahr 2002 zog sich O’Brien aus dem Wettbewerb zurück. Bis dahin hatte er acht WM-Titel gewonnen und längst begonnen, Bücher über die Steigerung der Gedächtnisleistung zu schreiben. „Bis zur Veröffentlichung meines ersten Buches hatte ich die Reise-Methode weitgehend für mich behalten“, sagt er. „Aber dann zeigte mir mein Co-Autor Passagen aus Texten von Cicero und Parmenides. Sie beschrieben, wie bereits Redner in der Antike Städte und Dörfer nutzten, um sich den Ablauf ihrer Reden zu merken. Im Geiste gingen sie die Wege ab und sprachen stundenlang aus dem Gedächtnis. Es war dieselbe Methode wie meine, ich hatte also gar nichts Neues erfunden.“

Die Studie zeigte, dass die Gehirne der überragenden Gedächtnissportler strukturell nicht von denen der Kontrollgruppe zu unterscheiden waren — an ihnen schien nichts besonders

Ebenfalls im Jahr 2002 ließen sich O’Brien, Carvello und sechs weitere Gedächtnissportler für eine Studie des UCL Institute of Neurology in London von Eleanor Maguire untersuchen. Die Neurowissenschaftlerin steckte die Probanden in einen MRT, um deren Hirnstrukturen sichtbar zu machen und zu untersuchen, was genau passiert, wenn die Probanden etwas auswendig lernen. Wie sich zeigte, ist dabei vor allem der Hippocampus aktiv, die Hirnregion, in der das räumliche Gedächtnis angesiedelt ist. Die Lernstrategie der Probanden basierte also im Grunde darauf, wie Menschen sich in Räumen zurechtfinden. Außerdem zeigte die Studie, dass die Gehirne der überragenden Gedächtnissportler strukturell nicht von denen der Kontrollgruppe zu unterscheiden waren — an ihnen schien nichts besonders.

Einer der ersten Forscher, der sich mit den genetischen und molekularen Grundlagen von Erinnerung beschäftigt hat, war der Biologe Tim Tully, der heute Vizechef von Dart ist. In den 90er-Jahren arbeitete er am Cold Spring Harbor Laboratory im US-Bundesstaat New York und fand dort heraus, dass der Prozess der Gedächtnisbildung von der Produktion eines Proteins namens CREB (cAMP response element-binding protein) ausgelöst wird. CREB bindet sich an die DNA von Hirnzellen und aktiviert dort Gene, die für die Produktion neuer Proteine erforderlich sind; mit diesen Proteinen werden dauerhafte Verbindungen zwischen den Zellen geschaffen, die zusammen Erinnerungen produzieren. Je mehr CREB den Nervenzellen zur Verfügung steht, desto schneller bleibt etwas im Gedächtnis.

Im Jahr 1994 ließ Tully trans­gene Fruchtfliegen mit aktiviertem CREB-Protein in Experimenten gegen normale Fliegen antreten und konditionierte sie darauf, eine Geruchskammer zu meiden, in der sie einen Stromschlag versetzt bekamen. Normale Fliegen lernten die Lektion nach zehn Durchläufen mit 15-minütigen Pausen dazwischen — so lange also brauchten sie, um eine Langzeiterinnerung zu bilden. Die transgenen Fliegen hingegen merkten sich schon nach der ersten Erfahrung dauerhaft, dass Geruch und Stromschlag zusammenhingen. „Das waren die ersten Fliegen mit fotografischem Gedächtnis“, sagt Tully. „Tatsächlich war es sogar die erste Genveränderung bei einer Spezies, die jemals ein übernormales Gedächtnis entstehen ließ. Wir haben bewiesen, dass Erinnerung ein biologischer Prozess ist, den man verbessern kann.“

Nach diesem Durchbruch beschloss Tully, nach Molekülen zu suchen, mit denen sich ohne direkten genetischen Eingriff dieselbe Wirkung beim menschlichen Hirn erzielen lässt. „Die Mechanik der Gedächtnisbildung beim Menschen ist nicht viel anders als bei Fruchtfliegen“, sagt Tully. „Wiederholung ist nötig: Ein normaler Mensch kann mit genügend Wiederholungen eine Liste von 60 Namen und Gesichtern auswendig lernen. Wenn man aber den CREB-Stoffwechsel hochreguliert, braucht man weniger Wiederholungen. Wir wollen nun kleine organische Moleküle entwickeln, die auf das Hirn wirken. Die Leute werden sie oral einnehmen und dann weniger Wiederholungen brauchen, um sich Informationen merken zu können.“

Um seine Fruchtfliegen-Ergebnisse zu bestätigen, musste Tully Menschen mit überlegenem Erinnerungsvermögen finden. Also kontaktierte er im Jahr 2010 Henry Roediger, den Mann, der zur selben Zeit für Dart die Gedächtnissportler untersuchte. Roediger beschäftigt sich schon seit Jahrzehnten mit dem Thema Gedächtnis. Er ist einer der Namensgeber für das DRM-­Paradigma (Deese-Roediger-­McDermott), das besagt, dass Menschen sofort nach einem Ereignis falsche Erinnerungen darüber bilden können. Und er ist einer der Entdecker des testing effect: Roediger hat herausgefunden, dass der Abruf von Informationen aus dem Gedächtnis die Erinnerung daran effektiver stärkt als wiederholtes Ablesen.

„Der Schlüssel zum menschlichen Gedächtnis ist Umcodierung: Wir nehmen Informationen auf und codieren sie in eine andere Form um“, erklärt Roediger. „Jeder Mensch tut das, aber Gedächtnissportler haben es perfektioniert. Sie entwickeln diese Erinnerungsreisen, nehmen Informationen auf und bauen sie dort ein. Zeigt sich bei Gedächtnissportlern die Wirkungsweise von CREB? Natürlich. Aber wir wissen immer noch nicht, ob das der Hauptmechanismus ist, dank dem sie sich Dinge merken. Die Frage ist immer noch: Was sind die neurologischen Mechanismen, die den Gedächtnissportlern ihre besonderen Fähigkeiten verleihen?“

Mit jedem der Gedächtnissportler machte Roediger drei Tage lang Tests — nicht nur zur Gedächtnisleistung, sondern auch zu anderen kognitiven Aspekten wie etwa der Aufmerksamkeit. Bei einer Übung testete er das DRM-Paradigma: Er zeigte den Probanden eine Liste von 112 Wörtern, jeweils zwei pro Sekunde, und fragte sie kurz danach ab. „Wenn man eine Liste mit verwandten Begriffen wie ,Bett‘, ,Ruhe‘, ,wach‘, ,müde‘ und ,Traum‘ vorlegt, ist die Wahrscheinlichkeit normalerweise ebenso hoch, dass Menschen sich an falsche, aber zu den Begriffen auf der Liste passende Wörter erinnern wie zum Beispiel ,Schlaf‘, wie die Wahrscheinlichkeit, dass sie sich an die richtigen erinnern“, sagt Roediger. „Bei den Gedächtnissportlern war die Wahrscheinlichkeit, dass sie sich korrekt erinnern, siebenmal so hoch wie für falsche Erinnerungen. Einer der Teilnehmer hat sogar keinen einzigen Fehler gemacht.“ Zudem testete Roediger die Fähigkeit, sich nicht nur an existierende Begriffe zu erinnern, sondern auch an Nichtwörter — aussprechbare, aber bedeutungslose Buchstabenketten wie flirp, maschua oder lencil.

Die Gedächtnissportler erinnerten sich korrekt an 80 Prozent der echten und 20 Prozent der falschen Wörter. Die Kontrollgruppe aus Psychologiestudenten
der Washington University war beim Lernen der echten Wörter schlechter als die Sportler bei den falschen. „Am nächsten Tag habe ich dann noch einen Überraschungstest mit denselben Wörtern gemacht“, sagt Roediger. „Die
Gedächtnissportler waren der Meinung, dass sie sich zwar unmittelbar nach Nennung der Wörter an sie erinnern könnten, aber auf keinen Fall auch noch
einen Tag später. Doch es zeigte sich: Ihre Erinnerungen waren noch fast vollkommen intakt.“ Auch bei Tests zur Konzentrationsfähigkeit waren die Gedächtnissportler der Kontrollgruppe deutlich überlegen. „Diese Leute haben nicht nur ein hervorragendes Gedächtnis“, sagt Henry Roediger, „sondern auch eine laserscharfe Konzentration.“

Der zweite Tag des XMT beginnt mit dem Viertelfinale, in dem Mallow auf den 18 Jahre alten Johannes Zhou aus Frankfurt am Main trifft. XMT-Organisator Nelson Dellis bittet die Teilnehmer, Gehörschutz, Brille, Visier und alles andere abzulegen, was Ablenkungen verhindert. Bei dem folgenden Wettkampf werde es darum gehen, sich unter Audio-Beschallung ein Kartenspiel zu merken. Jeder der Teilnehmer bekommt zwei Minuten, um sich eine Strategie dafür auszudenken. „Am liebsten würde ich die Leute in Eisbäder werfen, während sie Sachen auswendig lernen, aber ich möchte sie ja nicht vergraulen“, sagt Dellis.
Um sich total zu fokussieren, schließt Johannes Mallow die Augen und versetzt sich im Geis­te prinzipiell in seine Wohnung in Magdeburg. „Wenn ich mich in einer Situation befinde, in der ich ängstlich werden könnte, stelle ich mir einfach vor, dass ich zu Hause am Schreibtisch sitze“, sagt er. „Niemand ist da, es ist still. Mein Herz schlägt dann langsamer, und ich atme langsamer. Dann kann ich mich konzentrieren.“

Dellis wirft das Soundsystem an, es läuft von nun an eine bunte Mischung aus Songs von Katy Perry, Kanye West und Ricky Martin. Trotz der Ablenkung kann Mallow sich das Kartenspiel in 37,58 Sekunden fehlerfrei merken und schlägt Zhou, der nur auf 50,87 Sekunden kommt. Die nächsten beiden Partien jedoch verliert Mallow, Match vier und fünf hingegen gewinnt er wieder gegen Zhou. Die sechste Disziplin ist „Namen und Gesichter“. „Darin bin ich definitiv am schwächs­ten“, sagt Mallow, „deshalb wählen meine Gegner immer dieses Spiel, wenn sie auf mich treffen.“ Diesmal schafft Mallow 17 Namen und Gesichter in 59,58 Sekunden, Zhou hat dieselbe Trefferzahl, braucht jedoch 0,02 Sekunden länger. „Die K. O.-Runden waren sehr eng“, sagt Mal­low. „Ich habe dauernd das erste Match verloren und musste in jeder Runde von hinten kommen. Ich bin ruhig geblieben, aber am Ende jedes Tages war ich vollkommen fertig.“

Schon im vergangenen Jahr hatte es Mallow beim XMT ins Finale geschafft, das er dann jedoch 1:5 gegen seinen Freund Simon Reinhard verlor. Auch diesmal erreicht er wieder das Endspiel und trifft dort auf Boris Konrad. Anders als die vorigen Spiele findet das Finale auf der Bühne im Hauptvortragssaal von Dart NeuroScience statt, der Raum ist voll mit Zuschauern. Der Modus ist wieder Best-of-Nine, nach der siebten Partie liegt Mallow mit 4:3 vorn. Match acht ist wieder „Namen und Gesichter“, Konrads Stärke, Mallows Schwäche. In dieser Kategorie arbeiten Gedächtnissportler nicht mit der Reise-Methode, Mallow zum Beispiel sucht eher nach einer Auffälligkeit im Gesicht, die er mit dem Namen verbinden kann: etwa eine lange Nase oder ein Muttermal. Es erscheint ein Foto eines Mannes namens Damian mit fusseligem Bart. Mallow stellt sich vor, ein Dämon habe Damian den Bart gegeben, er recodiert die Erinnerungen also mit phonetischen Ähnlichkeiten: Für Mallow spielte Dennis Tennis, Connie trägt auf dem Kopf einen cone (Deutsch: Kegel). Am Ende hat Mallow acht Namen und Gesichter falsch. Drei weniger als Konrad. Als Mallow das Ergebnis sieht, schreit er auf und reckt eine Faust in die Luft.

„Es war das beste Ergebnis, das ich bei Namen je hatte“, sagt Johannes Mallow hinterher. „Vor vier Jahren war ich noch deprimiert, meine Krankheit hatte sich nicht nur auf meinen Körper ausgewirkt, sondern auch auf meinen Geist. Gedächtnisturniere haben mir den Optimismus zurückgegeben. Ich kann nicht gehen, ich kann nicht stehen, aber das spielt keine Rolle.“

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