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Da schau her: Periscope-Miterfinder Kayvon Beykpour im WIRED-Interview

von Karsten Lemm
Plötzlich hat jeder von uns einen TV-Sender in der Tasche: Twitters Periscope-App macht Live-Streaming vom Smartphone kinderleicht und wird von Promis ebenso eifrig genutzt wie von Millionen Privat-Sendern. Periscope-Mitgründer Kayvon Beykpour verrät im Gespräch mit WIRED Germany, was die Kalifornier für ihr Handy-TV als nächstes planen.

In Rio de Janeiro übt ein Hobbybarde Singen. Roger Federer betritt den Centre Court in Wimbledon. In Las Vegas brennt ein Luxushotel. Und wir sind live dabei – egal, was passiert, wo es passiert, ob es banal ist oder die Welt bewegt. Periscope, im März 2015 gestartet, hat uns im Nu daran gewöhnt, dass jeder  überall auf Sendung gehen kann, um ein Publikum zu finden. Handy zücken, loslegen – den Rest übernimmt die App, die Twitter sich noch in der Probephase schnappte, ehe Periscope einen einzigen regulären Nutzer zählte. „Wir wollen den Pulsschlag der Ereignisse abbilden, weltweit, in Echtzeit“, sagt Kayvon Beykpour, der die Firma 2014 mit seinem Partner Joe Bernstein gründete. Ein Ziel ganz ähnlich wie bei Twitter also, „da hatte der Verkauf Sinn“. Fast 100 Millionen Dollar soll das Startup mit damals fünf Leuten gekostet haben. Beykpour schweigt dazu, räumt nur ein: „Es war eine mutige Entscheidung.“ Zur Belohnung kann Twitter nun Erfolge feiern. Kaum sechs Monate nach dem Start meldet Periscope mehr als zehn Millionen registrierte Handysender.

WIRED: Können fünf Minuten Alltag aus Amsterdam oder Nachbars Stube wirklich packender sein als Game of Thrones?
Kayvon Beykpour: Bei Periscope geht es nicht ums „Schaut mal her, wir haben Zigmillionen für eine aufwände Produktion ausgegeben!“, sondern um authentische, ungefilterte Erlebnisse. Das hat etwas sehr Charmantes, vor allem auch, weil es kein passives Erlebnis ist: Bei Periscope lehne ich mich als Zuschauer nicht einfach zurück, wie beim Fernsehen, sondern ich kann mitmachen und beeinflussen, was passiert. Ich kann Fragen stellen, und derjenige, der sendet, kann darauf reagieren.

Das Gefühl, für ein paar Minuten an einem anderen Ort zu sein, ist enorm mächtig.

Kayvon Beykpour

WIRED: Was ist bei Periscope am häufigsten zu sehen?
Beykpour: Die Bandbreite ist sehr groß, und darauf sind wir sehr stolz, denn genau das war unser Ziel. Nach dem Erdbeben in Nepal gab es Journalisten, die via Periscope live berichtet haben. Hollywood-Stars zeigen ihren Fans Blicke hinter die Kulissen, Roger Federer hat Periscope in Wimbledon mit auf den Centre Court genommen, und als ihn ein Anhänger bat „Hey, zeig mir mal, wie der Rasen aussieht“, ist er in die Knie gegangen, um einen Grashalm zu filmen. Großartig! Es gibt auch Leute, die mit Hilfe von Periscope gemeinsam Kunstwerke erstellen, und ein Typ aus San Francisco hat seinen Job bei einer Werbeagentur aufgegeben, um professioneller Magier zu werden: Jetzt tritt er am Times Square in New York auf, überträgt seine Show und bezieht die Zuschauer mit ein – die vor Ort genauso wie die vorm Handy.

WIRED: Also doch mehr Profi-Programm als private Momente von nebenan?
Beykpour: Das soziale Element, die Nutzung mit Freunden und Familie, ist sehr wichtig: Als ich in Deutschland war, ist meine Freundin zu Hause in San Francisco mit unserem Hund, Scotch, und ein paar Freunden an den Strand gegangen. Und obwohl ich in Berlin war, konnte ich auch mitkommen: Dank Periscope war ich mitten im Geschehen. Dieses Gefühl, für ein paar Minuten an einem anderen Ort sein zu können, um Zeit mit Menschen zu verbringen, die einem lieb sind – ganz egal, wo man sich selber gerade aufhält –, das ist enorm mächtig. Deshalb gibt es bei Periscope auch nicht nur das öffentliche Senden, sondern genauso die privaten Übertragungen.

Wir haben uns gefragt: ,Warum können wir nicht teleportieren? Wir wollen die Welt durch die Augen der Leute sehen, die gerade dort sind!‘

Kayvon Beykpour

WIRED: War das alles von Anfang an so geplant?
Beykpour: Ursprünglich dachten mein Partner Joe Bernstein und ich vor allem an Bürgerjournalismus. Ende 2013 wollte ich nach Istanbul reisen, gerade als dort die Proteste gegen die Regierung ausbrachen. Ich weiß noch, dass ich dachte: „Ich möchte wissen, was da jetzt wirklich gerade los ist.“ Das Fernsehen und auch Twitter zeigen ja immer nur Ausschnitte, Momentaufnahmen, die das Sensationelle, das Außergewöhnliche betonen. Da haben wir uns gefragt: „Warum können wir nicht teleportieren? Wir wollen die Welt durch die Augen der Leute sehen, die gerade dort sind!“ Aus der Idee sind Software-Prototypen entstanden, und dann haben wir gemerkt: Moment mal, das ist wirklich nützlich, das hat echten Wert.

WIRED: Und wie! 100 Millionen Dollar? Oder wieviel hat Twitter bezahlt, noch ehe Periscope überhaupt einen einzelnen Nutzer zählte?
Beykpour: Zum Kaufpreis sagen wir nichts – und wir hatten durchaus ein paar Nutzer in unserer Beta-Phase. Aber es stimmt schon: Das war eine mutige Entscheidung von Twitter, eine Firma mit fünf Leuten zu kaufen, die bis dahin gar nicht offiziell an den Start gegangen war.

WIRED: Wie kommt so ein Deal zustande?
Beykpour: In der Gruppe unserer Beta-Tester war eine Twitter-Managerin, die für neue Geschäftszweige zuständig ist, und als sie sah, was Periscope kann, sagte sie: „Das ist fantastisch! Ich würde dir gern ein paar Leute bei Twitter vorstellen.“ Das waren Jack Dorsey und Dick Costolo.

WIRED: Also einer der Gründer und der damalige CEO.
Beykpour: Genau. Im Laufe der Gespräche wurde uns klar, dass wir dieselbe Vision verfolgen: Wir wollen den Pulsschlag der Ereignissen abbilden, weltweit, in Echtzeit – Twitter in Worten und mit Fotos, wir durch Video-Übertragungen. Da machte der Verkauf Sinn, besonders weil Twitter uns versichert hat, dass wir weiterhin völlig unabhängig arbeiten können, aber dennoch die volle Unterstützung bekommen.

WIRED: Dazu gehörte, dass Twitter urplötzlich den Periscope-Konkurrenten Meerkat rausgeworfen hat.
Beykpour: Damit hatten wir nichts zu tun. Aber ganz allgemein gesprochen, hat Twitter natürlich ein berechtigtes Interesse, seine Plattform zu schützen. Das schließt die Entscheidung ein, wer die Twitter-Daten weiterverwenden kann und wer nicht.

Am Ende wird das beste Produkt gewinnen, und da kommen viele Faktoren zusammen.

Kayvon Beykpour

WIRED: Facebook besitzt jetzt ebenfalls eine Art Periscope-App, ganz einfach „Live“ genannt. Plötzlich wird es eng, oder?
Beykpour: Wann immer jemand Erfolg hat, kommen andere und wollen vom Kuchen etwas abhaben. Das ist ganz normal. Ich glaube, am Ende wird das beste Produkt gewinnen, und da kommen viele Faktoren zusammen. Alles entwickelt sich ständig weiter, bei uns genauso wie bei den anderen. Wer schließlich vorn liegt – wir werden sehen. Klar ist: Die Zeit ist reif für Dienste wie Periscope. Smartphones sind alltäglich geworden und die Mobilnetze schnell genug, um Video-Übertragungen zu erlauben. Dazu kommt: Wir alle haben uns daran gewöhnt, Momente aus unserem Leben mit anderen zu teilen. Ich glaube nicht, dass Periscope ohne diese Sharing-Kultur Erfolg haben könnte. Da haben die anderen sozialen Netzwerke, die vor uns gekommen sind, sehr geholfen.

WIRED: Wie wollen Sie mit all dem Geld verdienen?
Beykpour: Das ist ein weiterer Vorteil, ein Teil von Twitter zu sein. Wir haben keinerlei Druck, schnell Werbe- oder andere Erlösmodelle zu integrieren. Wir können uns ganz darauf konzentrieren, Periscope so weiterzuentwickeln, dass die Plattform weiterhin weltweit so stark wächst und von mehr und mehr Menschen täglich genutzt wird. Wie wir alle wissen, ist das die wirkliche Herausforderung.

WIRED: Wie lange dauern Periscope-Sendungen im Durchschnitt – und wie lange schauen andere zu?
Beykpour: Die Übertragungen sind länger, als wir erwartet hatten, im Mittel etwa fünfeinhalb Minuten. Das hat uns wirklich überrascht. Aber es erklärt sich einfach daraus, dass die meisten Übertragungen dem klassischen Spannungsbogen folgen: Es gibt eine Einleitung – „Hallo, schön, dass ihr da seid“ –, die Haupthandlung – was auch immer sich die Leute vorgenommen hatten – und zum Schluss die Verabschiedung. Beim Zuschauen waren wir schon im Mai an dem Punkt, dass alle Periscope-Nutzer zusammengenommen sieben Jahre Live-Programm pro Tag geschaut haben. Heute sind wir bei mehr als 40 Jahren Live-Programm pro Tag.

WIRED: Auf der Weltkarte, die zeigt, wo gerade Periscope-Nutzer auf Sendung sind, ist in Deutschland oft nicht viel los. Die meisten Sendungen scheinen aus Amerika zu kommen.
Beykpour: Die USA sind unser aktivster Markt, das stimmt. Aber der Abstand zu anderen Ländern ist nicht so groß, wie es aussehen mag. Die Weltkarte zeigt ja nur Nutzer, die ihren Standort mitteilen – das ist eine freiwillige Angabe, und da gibt es kulturelle Unterschiede. Hinter den USA gehören die Türkei, einige Länder im Nahen Osten und zunehmen auch Lateinamerika zu unseren aktivsten Märkten. Deutschland bleibt noch etwas dahinter, aber auch in Deutschland tut sich sehr viel. Immer mehr Menschen entdecken Periscope, darunter Prominente, Sportler, Journalisten. Es ist faszinierend, das mit anzusehen.

WIRED: Mehr Nutzer bedeutet auch: mehr Ärger mit Copyright-Verletzungen.
Beykpour: Das Problem lässt sich lösen. Zunächst einmal geht es bei uns ja darum, eigene Inhalte zu vertreiben. Nur das, was die Kamera aufnimmt, kann bei Periscope vorgeführt werden. Klar, es ist denkbar, einen Bildschirm abzufilmen, auf dem ein exklusives Programm gezeigt wird – aber wer will so eine Übertragung anschauen? Das Bild wackelt, die Auflösung ist gering, es macht keinen Spaß. Und natürlich verstößt es gegen unsere Nutzungsbedingungen.

Periscope ist kein Rivale, sondern ein Freund. Wir können friedlich miteinander leben.

Kayvon Beypour

WIRED: Das hat Periscope-Nutzer nicht davon abgehalten, zum Beispiel einen Boxkampf live zu zeigen, für dessen Rechte Fernsehsender Millionen bezahlt hatten.
Beykpour: Wir haben Wege, solche Übertragungen zu finden und sie zu unterbinden. Das werden wir unserer Community noch deutlicher klar machen, und so wird sich schnell herumsprechen, dass Periscope keine Plattform für Piraterie ist. Auf der anderen Seite hilft es sehr, wenn Partner zeigen, dass Periscope auf ganz neuen Wegen ein Publikum erschließen und begeistern kann. Nehmen wir noch mal Wimbledon: Die Veranstalter haben aktiv Periscope genutzt, um das Eingravieren der Gewinnernamen in die Pokale live zu übertragen. Plötzlich konnten wir zusehen, wie das geschieht – das war noch nie vorher im Fernsehen zu sehen. Ich habe auf mein Smartphone geschaut, und da war der Graveur bei der Arbeit. Fantastisch! Und das, glaube ich, erkennen mehr und mehr Veranstalter, aber auch traditionelle Medienunternehmen: Periscope ist kein Rivale, sondern ein Freund. Wir können friedlich miteinander leben.

WIRED: Wie sieht die Zukunft aus? Laufen wir alle mit winzigen Kameras am Körper herum und übertragen unser ganzes Leben?
Beykpour: Das wäre wahrscheinlich nicht sehr interessant. Ich bin fest der Überzeugung, dass es bei Periscope um mehr geht, als nur die Kamera einzuschalten. Im Mittelpunkt steht immer das Geschichtenerzählen, ein neues Erlebnis, das man gemeinsam mit den Zuschauern schaffen kann. Die Bandbreite ist erstaunlich, wir sehen jeden Tag Dinge, die uns nie in den Sinn gekommen wären. General Electric zum Beispiel, der Industriegigant, stattete Drohnen mit iPhones aus und ließ sie um Windkraftwerke, Turbinen und Fabrikgelände herumfliegen – via Periscope konnten die Zuschauer das alles live verfolgen und mit steuern. Wenn wir so etwas sehen, sitzen wir hier in unserem Büro und denken: „Wow, was haben wir da angestellt?“ Es ist völlig irre, geradezu surreal.

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