Hinweis zu Affiliate-Links: Alle Produkte werden von der Redaktion unabhängig ausgewählt. Im Falle eines Kaufs des Produkts nach Klick auf den Link erhalten wir ggf. eine Provision.

Cannabis für mein Kind: ein medizinisches Experiment

von Fred Vogelstein
Dies ist Sam. Sam ist mein Sohn. Er leidet unter epileptischen Anfällen, an manchen Tagen waren es über 100. Nach sieben Jahren, verzweifelt und am Ende, hatten wir nur noch eine Hoffnung: ein neues Medikament. Das einzige Problem? ​Es war illegal.

Der Apotheker im Krankenhaus schob drei Flaschen voller Tabletten über den Ladentisch, ließ meine Frau ein Formular unterschreiben und erinnerte sie daran, dass sie hier nicht in der Drogerie von nebenan sei. Die Zahl der ausgegebenen Tabletten werde ebenso registriert wie die der eingenommenen, und was am Ende übrig sei, müsse sie vor Verlassen des Landes wieder zurückgeben. Das Krankenhaus stehe nicht nur mit unserem Arzt in Kontakt, so machte der Apotheker klar, sondern auch mit dem Hersteller der Medikamente. Wenn sie irgendwelche Regeln verletze, werde das nicht unbemerkt bleiben.

Alles verstanden, sagte Evelyn und ließ die braunen Glasflaschen in ihre Handtasche gleiten. Sie und Sam, unser elf Jahre alter Sohn, hatten Jetlag. Am Abend zuvor — Samstag, dem 19. Dezember 2012 — waren sie von San Francisco nach London geflogen. Jetzt zeigte die Uhr kurz nach 19 Uhr Ortszeit: 30 Stunden später. Den ganzen Tag hatten die beiden im Great-Ormond-Street-Kinderkrankenhaus verbracht. Gehirnscan, Bluttest, eine allgemeine Untersuchung — all das hatte Sam hinter sich gebracht. Gel, das noch vom Scan in seinen Haaren klebte, machte ihn quengelig.

 

Evelyn war in Sorge und Aufruhr. Für diese Tabletten hatten die beiden 8500 Kilometer zurückgelegt – Medizin, von der wir hofften, sie könnte endlich helfen, Sams immer wiederkehrende epileptische Anfälle zu mindern. In den ersten beiden Tagen sollte er jeweils eine der 50-Milligramm-Pillen nehmen, anschließend die Dosis auf maximal drei Pillen, zweimal am Tag, erhöhen. Evelyn sollte genau Buch führen, um alle Vorfälle zu protokollieren. Vor dem Rückflug am 3. Januar 2013 sollten die beiden noch zweimal ins Krankenhaus kommen. Das bedeutete zwei weitere Runden mit Gehirnuntersuchungen, Bluttests und Arztterminen.

Wir waren uns sicher, dass die Medikamente nicht Sams Leben gefährden oder seine Gesundheit dauerhaft schädigen würden. Trotzdem machte uns die Aussicht auf die Tests nervös, denn die Tabletten enthielten ein pharmazeutisches Derivat von Cannabis. Die Pflanze wird seit Tausenden von Jahren zu medizinischen Zwecken geraucht, und Todesfälle sind selten. Aber Sam sollte einen speziellen Wirkstoff aus dem Labor einnehmen. Dieser Wirkstoff, Cannabidiol (kurz: CBD), ist kein Rauschmittel — high macht bei Marihuana vor allem das THC (Tetra­hydrocannabinol). Dennoch machen es die geltenden Drogengesetze in den USA nahezu unmöglich, an CBD in dieser Reinheit und Konzentration heranzukommen.

Bevor wir das Medikament zumindest in London ausprobieren durften, mussten wir vier Monate in Telefonate, E-Mails und Treffen mit Ärzten sowie Vertretern des Pillenherstellers investieren. Sam war nicht Teil einer laufenden klinischen Studie – der Pharmakonzern produzierte die Tabletten eigens für ihn. Das Unternehmen war auf Basis von Tierversuchen der Ansicht, dass CBD keine Gefahr für Sam darstellte. Außerdem, so wurde uns erklärt, kenne die Firma etwa einhundert Erwachsene, die in den vergangenen 35 Jahren diese Art von CBD sogar in Reinform eingenommen hatten.

Die Dosis für Sam näherte sich — prozentual am Körpergewicht gemessen – allerdings dem Doppelten der Menge, die je zuvor bei Epilepsie ausprobiert worden war. Würde ihm übel oder schwindlig werden? Könnte er Ausschlag bekommen? Würde sonst etwas Unangenehmes passieren? Wir wussten es nicht. Wir hatten unseren Sohn als Laborratte zur Verfügung gestellt.

Die alles entscheidende Frage lautete natürlich, ob die Medizin wirken würde. Auch das wusste keiner. Doch es gab einen guten Grund dafür, dass Evelyn, Sam, seine Zwillingsschwester Beatrice, Evelyns Schwester Deborah und einige weitere Familienmitglieder nach London gereist waren (ich selbst musste in San Francisco bleiben, um ein Buch fertigzustellen). Denn zwei Dutzende andere Versuche, Sams Krankheit zu heilen, waren bereits gescheitert.

Mit Gewissheit ließ sich sagen: Die Angelegenheit würde nicht billig werden. Wir hatten schon mehrere Zehntausend Dollar für Berater ausgegeben, die Sams Ärzten halfen, diese spezielle Behandlung zu arrangieren – und wir standen noch ganz am Anfang. Im besten Fall durften wir darauf hoffen, dass die Medizin wirken würde und wir am Ende die Erlaubnis bekämen, sie in die USA einzuführen. Im Stillen hofften wir außerdem, dass ein solcher Erfolg den Hersteller ermutigen würde, das Medikament auch anderen zugänglich zu machen, erschwinglich und ohne große Umstände. Wir wussten, das war sehr hoch gegriffen: Unsere bisherigen Erfahrungen mit Sams Behandlungen ließen eher erwarten, dass auch dieser Versuch scheitern würde. 

Für Eltern, deren Kinder gesund sind, mag es schwer vorstellbar sein, sich überhaupt auf solch ein Abenteuer einzulassen. Wer gibt Zehntausende von Dollar aus, wenn es nicht um ein Haus, ein Auto oder eine Uni-Ausbildung geht? Wer bietet Pharmaforschern freiwillig sein eigenes Kind zum Experimentieren an? Nur: Sam war nicht gesund. Er litt unter Epilepsie, seit er viereinhalb Jahre alt war. Wir hatten jedes verfügbare Medikament ausprobiert, fast zwei Dutzend unterschiedliche; außerdem eine Autoimmuntherapie mit intravenös verabreichtem Immunglobulin und eine Spezialernährung mit hohem Fettanteil. Kaum etwas davon half, und die wenigen Therapien, die anschlugen, wirkten entweder nicht lange oder hatten schwere Nebeneffekte.

Wenn Sam einen epileptischen Anfall hat, passiert nicht das, was sich die meisten Leute vorstellen: Er bricht nicht zusammen, liegt nicht zuckend auf dem Boden. Sondern er verliert teilweise das Bewusstsein, fünf  bis zwanzig Sekunden lang – eine schwierig zu be­handelnde Form der sogenannten Absence-Epilepsie. Die Anfälle sind an sich harmloser als Zuckungen und Krämpfe, und hinterher ist er nicht erschöpft. Doch sie kommen auch viel häufiger. Ohne Gegenmaßnahmen hat Sam manchmal zehn bis zwanzig solcher Anfälle pro Stunde – also alle drei bis sechs Minuten einen und manchmal mehr als hundert am Tag.

Für mich sehen Sams Aussetzer aus, als würde ein Film angehalten und dann wieder gestartet. Er hält inne und starrt mit leerem Blick vor sich hin. Sein Unterkiefer lockert sich. Und sein Kopf und Oberkörper wiegen sich – leicht nach vorn gelehnt – rhythmisch hin und her. Dann ist es vorbei, und Sam macht weiter, als wäre nichts gewesen. Ist er stehen geblieben, geht er weiter. Hat er gerade seinen Rucksack für die Schule gepackt, packt er weiter. Manchmal, sagt Sam, bekomme er bewusst mit, wenn er einen Anfall hat. Meistens aber bemerkt er das erst, wenn er feststellt, dass sich alles um ihn herum ein wenig verändert hat.


Treten seine Anfälle häufig auf, fällt es Sam schwer, ein Gespräch zu führen. Von Schule ganz zu schweigen. Sport? Unmöglich. Als kleiner Junge konnte Sam nicht mal ohne Unterbrechung weinen: Er schlug sich das Knie auf, fing für 15 Sekunden an zu schreien, hielt 15 Sekunden von einem Anfall gepackt inne und schrie dann weiter. Ein andermal, als wir zu Hause einen Film sahen, beschwerte er sich, die DVD sei zerkratzt: Sie habe Sprünge. In Wahrheit stammten die Aussetzer von seiner Krankheit.

Und während die vielen Medikamente, die wir über die Jahre ausprobierten, wenig Hilfe brachten, litt Sam andererseits unter vielen Nebeneffekten. Mal fingen seine Hände an zu zittern, mal bekam er Ausschlag oder Wutanfälle. Eine andere Arznei ließ ihn ständig sabbern; die nächste machte ihm Halluzinationen, bis er Insekten aus seinen Poren krabbeln sah. Zweimal wurden seine Anfälle so schlimm, dass Sam ins Krankenhaus musste. Immer wieder wurde er untersucht, von insgesamt sechs Neurologen in drei US-Bundesstaaten. 

Zehntausende Male muss ich mittlerweile beob­achtet haben, wie es ist, wenn die Anfälle ihn packen, und man könnte meinen, dass ich inzwischen daran gewöhnt bin – doch jeder Anfall verfolgt mich aufs Neue: Es ist, als würde eine Macht von außen die Kontrolle über den Körper meines Sohnes gewinnen, und ich, der Vater, der ihn beschützen soll, stehe hilflos daneben.

2012, als Sam elf Jahre alt war, ließen sich seine Anfälle nur noch mit hohen Dosen an Corticosteroiden kontrollieren. Diese Medikamente werden Sie kennen, wenn Sie – oder jemand, der Ihnen nahesteht – Krebs, schweres Asthma oder eine schwere Entzündung hatten; es sind synthetische Versionen der körpereigenen Entzündungshemmer. Nimmt man sie eine oder zwei Wochen lang ein, retten sie Leben; über längere Zeit hinweg können sie den Körper ruinieren.

Als Sam nach London kam, hatte er bereits ein Jahr lang mit kurzen Pausen immer wieder hohe Dosen Corticosteroide bekommen. Dadurch nahm er 15 Kilo zu, und sein Gesicht sah so aufgedunsen aus, als wäre es mit Luft vollgepumpt. Zudem schwächten die Medikamente sein Immunsystem – jeden Monat bekam er Husten und Schnupfen. Die Aussichten waren düster: Die Medikamente noch längere Zeit in so hoher Dosierung zu nehmen, hätte Sam Wachstumsstörungen, Diabetes, Augenkrankheiten und hohen Blutdruck einbringen können – alles, bevor er auch nur hätte zur Wahl gehen dürfen.

Ich wusste, dass Cannabis nicht nur high macht, sondern heilen kann. Aber der Gedanke, meinen zehnjährigen Sohn damit behandeln zu lassen, hatte etwas tief Verstörendes.

Fred Vogelstein

Die Reise nach Großbritannien fühlte sich deshalb an wie unsere letzte Chance: Sollten die Tabletten Wirkung zeigen und Sams Anfälle unter Kontrolle bringen, hätte er genauso gute Aussichten auf ein glückliches, erfolgreiches Leben wie jedes andere Kind. Wenn nicht – nun ja, dann wären wir am Ende unserer Möglichkeiten angelangt. Vielleicht würde Sam aus den Anfällen herauswachsen. Aber unsere Ärzte kannten keine weiteren Medikamente oder Behandlungswege, die Erfolg versprachen. Es schien kaum vorstellbar, dass er jemals selbst­ständig würde leben können.

Sam ist bei Weitem nicht der Einzige, dem es so geht. Etwa ein Prozent der US-Bevölkerung leidet unter Epilepsie, und in jedem dritten Fall lässt sie sich nicht mit Medikamenten in den Griff bekommen. Das bedeutet: Mehr als drei Millionen Amerikaner leben mit Epilepsie, und bei einer Million von ihnen sind die Anfälle nicht kontrollierbar. Epilepsie ist damit weiter verbreitet als Parkinson oder Multiple Sklerose.

Zur Behandlung haben Pharmakonzerne in den vergangenen 25 Jahren mehr als ein Dutzend Medikamente auf den Markt gebracht. Die modernen Mittel bringen weniger Nebenwirkungen mit sich, doch bei der eigentlichen Anfallbekämpfung sind sie kaum effektiver als ältere Medikamente. Die Zahl der schwierig zu behandelnden Fälle von Epilepsie, wie in Sams Fall, ist seit Jahrzehnten so gut wie unverändert geblieben.

Im Prinzip muss man sich eine epileptische Attacke vorstellen wie eine elektrische Überspannung, einen Stromstoß, der das Nervensystem überfordert. Überall verlässt sich unser Körper auf Elektrizität, die es Gehirnzellen, Muskeln und Nerven möglich macht, sehr kontrolliert miteinander zu kommunizieren. Schießt die Spannung jedoch über das Soll hinaus, schaltet das Gehirn vorübergehend ab. Man sollte meinen, dass die Wissenschaft heute in der Lage ist, die Ursachen herauszufinden und Wege zur Heilung aufzuzeigen – aber mit wenigen Ausnahmen ist das nicht der Fall.

Moderne Medizin mag in der Lage sein, Finger wieder anzunähen und fehlerhafte Organe auszuwechseln, ob Herz, Leber oder Niere. Selbst künstliche Haut kann sie inzwischen im Reagenzglas aus dem Nichts wachsen lassen. Nur die Anomalien des Gehirns bleiben uns rätselhaft, die Erklärungen liegen im Dunkel der Ratlosigkeit verborgen.

So gesehen, war Sam ausnahmsweise ein typischer Epilepsie-Kandidat: Die meisten Fälle der Krankheit werden als idiopathisch bezeichnet — eine gebildete Art zu sagen, dass sich keine klare Ursache dafür erkennen lässt. Eine typische Prognose lautet dann: Wenn die Anfälle mit den ersten drei Medikamenten in den Griff zu bekommen sind, wird der Patient wahrscheinlich auch später nie mehr unter Epilepsie leiden. Wenn nicht, ist die Zukunft ungewiss. Sams Zwillingsschwester Beatrice entwickelte eine Absence-Epilepsie im Jahr 2010, als sie schon älter war. Mit dem ersten Medikament verschwanden die Anfälle bei ihr. Sie nahm die Arzneimittel zwei Jahre lang und ist seitdem beschwerdefrei.

Anders bei Sam: An seinem schwierigen Zustand gab es nichts zu übersehen, nichts zu bezweifeln, als er in London ankam. Die Zahl seiner Anfälle näherte sich einem Allzeithoch. Das war zu erwarten: Um einen Vergleich zu ermöglichen, hatten wir eines seiner Medikamente fünf Tage vor Beginn der Reise reduziert. Sollte die Behandlung in London Erfolg zeigen, brauchten wir überzeugende Daten, um eine Einfuhrgenehmigung für die Medikamente in den USA zu erhalten. Das hieß: Wir mussten zeigen können, dass die Zahl der Anfälle durch das neue Mittel deutlich zurückging.

Es war nicht leicht mitanzusehen. Schon am Tag der Abreise stieg die Zahl von Sams Anfällen auf 20. Am nächsten Tag, als Evelyn und Sam das Great Ormond Street Hospital besuchten, schnellte sie auf 68 Anfälle in die Höhe – mehr als eine Verdreifachung in nur 24 Stunden. Aus Erfahrung wusste Evelyn: Sollten die Pillen, die nun der Apotheker im Krankenhaus über den Tresen schob, nicht schnell anschlagen, mussten sie am nächsten Tag mit mehr als 100 Anfällen rechnen.

Im Juni 2011 hatten Evelyn und ich zum ersten Mal über Cannabis als Behandlungsmethode für Epilepsie gesprochen. Eine spezielle, fettreiche Ernährung, die Sam damals seit zwei Jahren bekam, zeigte keine Wirkung mehr. Weitere herkömmliche Mittel, die wir hätten ausprobieren können, gab es nicht.

Bei unserer Suche nach neuen Therapien erfuhr Evelyn, dass eine Krankenschwester in der Praxis eines unserer Kinderärzte ein privates Cannabis-Kollektiv gründen wollte, um einigen der am schlimmsten erkrankten jungen Patienten zu helfen. Andere Eltern betroffener Kinder, die wir kannten, unterstützten die Idee. Evelyn gefiel, dass die Schwester ihr einen Fachaufsatz aus dem Journal Of Clinical Pharmacology aus dem Jahr 1981 schickte, in dem es um Cannabinoide als Antiepileptikum ging. Ihr gefiel auch, dass das im Club genutzte Cannabis niemanden high machen würde: Es sollte viel CBD enthalten und wenig THC.

Zuerst fand ich die Idee, Sam mit Cannabis zu behandeln, verrückt. Ich hatte auf dem College und in meinen Zwanzigern reichlich Marihuana geraucht und wusste, dass die Pflanze medizinische Wirkungen haben kann; in Kalifornien war es auf Rezept schon damals möglich, legal Cannabis zu kaufen. Doch ob zu Recht oder zu Unrecht: Die Vorstellung, Sams Anfälle mit Cannabis zu bekämpfen, bereitete mir Unbehagen — er war zu diesem Zeitpunkt erst zehn Jahre alt. Ich brachte Kiffen mit Partys in Verbindung, nicht mit einem Heilungsansatz für die schwere Erkrankung meines Sohnes. Und ich hasste die Vorstellung, dass es zwischen diesen beiden Welten eine Verbindung geben könnte.

Also zögerten wir. Doch im Verlauf der nächsten zwölf Monate wurde uns klar, dass der Gedanke, Epilepsie mit Cannabis zu behandeln, keineswegs verrückt ist. Eine kleine, aber wachsende Zahl von Studien zeigte, dass CBD ein wirkungsvolles Mittel gegen Krämpfe sein könnte. Bei einer Internetsuche wurde Evelyn auf einen Artikel aufmerksam, der 2010 in der Fachzeitschrift Seizure erschienen war. Mit Grafiken und Tabellen erklärten die Autoren auf acht Seiten: Ausgiebige Tests an Nagetieren in ihrem Labor sowie bereits veröffentlichte Daten legten nahe, dass „CBD (allein oder als Zusatzstoff) zur Behandlung von Epilepsien therapeutisch wirksam sein könnte“.

Die erste Tinktur, die wir nach unserem Beitritt vom Cannabis-Kollektiv bekamen, schien diese wissenschaftlichen Erkenntnisse voll zu bestätigen. Drei Tage lang ging die Zahl von Sams Anfällen von ursprünglich zehn bis zwanzig pro Stunde auf etwa einen pro Stunde zurück. Das Mittel sah etwas seltsam aus: ein Bündel Cannabisblätter, die in einem Einweckglas in Öl mariniert waren.

Mit einer Pipette träufelten wir dreimal am Tag einen Tropfen davon auf Sams Zunge. Das Verhältnis von CBD zu THC sollte bei 20:1 liegen.
Im Juli aber, zeitgleich mit einer neuen Tinktur, kamen die Anfälle mit voller Wucht zurück. Bis Mitte des Monats hatte Sam wieder zehn Anfälle pro Stunde. Wir versuchten es mit einer höheren Dosierung. Wir probierten Tinkturen von drei unterschiedlichen Verkaufsstellen für medizinisches Marihuana. Nichts davon zeigte Wirkung.

Mitte August waren wir so weit, dass wir darüber nachdachten, Sam wieder auf Steroide zu setzen. Zu dieser Zeit trafen bei dem Kollektiv die Testergebnisse für die letzten Tinkturen ein. Obwohl das Verhältnis von CBD zu THC bei 20:1 liegen sollte, zeigte sich, dass sie keinen der Wirkstoffe in nennenswerter Menge enthielten. Wir ließen auch eine der Tinkturen testen, die wir bei den scheinbar seriösen Cannabis-Verkaufsstellen erhalten hatten. Das Verhältnis von CBD zu THC sollte 10:1 betragen; in Wahrheit lag es bei 3:1. Die Tinktur, die Sam im Juni sehr zu helfen schien, war nicht getestet worden. Also hatten wir keine Ahnung, wie wir den vorübergehenden Rückgang der Anfälle deuten sollten.

Zeitgleich, im Frühjahr und Sommer 2012, hatte Evelyn begonnen, Kontakt zum Chef eines Pharmakonzerns in Großbritannien aufzunehmen. Der Seizure-­Artikel über die Erfolge mit reinem CBD bei Tierversuchen ging ihr nicht aus dem Kopf. Die Autoren waren Forscher an einer der wichtigsten wissenschaftlichen Einrichtungen Großbritanniens, der Schools of Pharmacy and Psycho­logy an der Universität Reading. In einer Fußnote, so war Evelyn aufgefallen, sprachen sie GW Pharmaceuticals ihren Dank für die Finanzierung der Studie aus.

Wie sich zeigte, stellte die Firma sowohl THC- als auch CBD-Extrakte für medizinische Zwecke her. Damit war der nächste Schritt klar – herausfinden, wer der Chef des Unternehmens ist (das war leicht: Geoffrey Guy) und wie man ihn erreichen könnte. Dabei konnte mein Vater helfen, der gute Geschäftskontakte in London hat. Am Telefon sagte Guy zu Evelyn, es sei durchaus denkbar, dass sich ein Weg finden lasse, Sam testweise mit dem firmen­eigenen CBD zu versorgen. Er werde tun, was er könne.

Was wir zu diesem Zeitpunkt noch nicht wussten: Guy und sein Team hatten selbst schon darüber nachgedacht, CBD als Epilepsie-Therapeutikum an Menschen zu testen. Außerdem waren Experimente mit einem einzelnen Patienten, wie sie uns für Sam vorschwebten, in Großbritannien gar nicht so ungewöhnlich. Er habe das im Laufe seiner Karriere schon mehr als tausendmal gemacht, erzählte Guy. „Seit Jahren suche ich schon nach einer Gelegenheit, CBD unter genau solchen Umständen einzusetzen“, sagte er mit Blick auf Sam.

Die Drogenfahnder kamen ohne Anmeldung und machten klar, dass sie nicht zu Scherzen aufgelegt waren.

Fred Vogelstein

„Sie sind die Eltern eines Kindes, dem alle anderen Medikamente nicht helfen konnten. Wir haben ein Medikament, das vielleicht zu helfen vermag. Warum um Himmels willen sollte es also nicht gut und richtig sein, es auszuprobieren?“
Die Herausforderung dabei: Die Firma war nur bereit, uns zu helfen, wenn wir alle Regeln haarklein einhielten. Wir konnten das Medikament also nicht in den USA ausprobieren, sondern mussten nach London kommen. Wir brauchten die Zustimmung unserer Ärztin in den USA. Und wir mussten einen Epilepsiespezialisten in Großbritannien finden, der Sam vor Ort betreuen würde und bereit war, die Behandlung und unterschiedliche Tests zu beaufsichtigen.

Für den Fall, dass das Mittel wirkte, stand uns der mühsame, verschlungene Weg zur Genehmigung für die legale Einfuhr in die USA bevor. Voraussetzung war zunächst die Zustimmung des Ethikrats der University of California in San Francisco (UCSF), dem Arbeitgeber von Sams Ärztin. Auch die US-Gesundheitsbehörde Food and Drug Administration (FDA) würde unser Vorhaben absegnen müssen. Immerhin gibt es hier einen Standardprozess, mit dem Privatpersonen eine Genehmigung für Tests mit nicht allgemein zugelassenen Medikamenten beantragen können.

Diese Anträge, so hatten wir gehört, sind  üblicherweise Hunderte von Seiten lang. Zu alledem brauchten wir auch noch eine Genehmigung von der US-Drogenfahndung DEA. Das schiere Ausmaß dieses Vorhabens war überwältigend, von den Kosten ganz zu schweigen. Für unsere Anträge bei FDA und DEA mussten wir Berater engagieren. Sams Ärztin an der UCSF brachte für Spezialfälle wie unseren keinerlei Erfahrung mit. Wir mussten ihr auch versprechen, dass wir uns für sie um den gesamten Papierkram kümmern würden. 

Über Geoffrey Guy wussten wir anfangs nur das Wesentliche: Er war ein langjähriger Biotech-Entrepreneur, und er besaß einen experimentellen Wirkstoff, der Sam womöglich helfen konnte. Später erfuhren wir, dass Guy drei namhafte Biotechfirmen gegründet und mehr als ein Dutzend Medikamente auf den Markt gebracht hatte. Er wusste mehr über Cannabis als fast jeder andere Manager auf der Welt. Schon Anfang der 1990er-Jahre überlegte er, ein Unternehmen zu gründen, das Medizin auf der Grundlage von Cannabis herstellen sollte. 

Damals ließen die britischen Behörden wissen, sie würden so etwas niemals genehmigen. Nur wenige Jahre später hatte sich die politische Landschaft in Großbritannien deutlich verändert. Politiker und Akti­visten verlangten eine teilweise Freigabe von Cannabis. Bis 2012 hatte sich GW Pharmaceuticals als eines von sehr wenigen Unternehmen weltweit etabliert, die legal mit Can­nabis Forschung nach den Standards der Pharmaindustrie betrieben. GW gehörten riesige Treibhäuser mit Tausenden von Cannabispflanzen an geheimen – aber behördlich genehmigten – Standorten südöstlich von London. Das Unternehmen beschäftigte 177 Mitarbeiter und machte 51 Millionen Dollar Jahresumsatz. Und es produzierte sein ers­tes Medikament, Sativex, das in 24 Ländern zur Behandlung von Multipler Sklerose zugelassen war.

Schon kurz nachdem Sams Behandlung begonnen hatte, mochte Evelyn kaum glauben, wie gut das Mittel zu wirken schien. Nach 68 Anfällen am Tag des Kran­kenhausbesuchs hatte Sam am nächsten Tag, Freitag, lediglich zehn Anfälle, am Samstag fünf, am Sonntag zehn und am Montag sechs. Als Evelyn die CBD-Dosis von 50 Milligramm am Tag auf 250 Milligramm erhöhte, gingen die Anfälle weiter zurück. Nebenwirkungen waren nicht zu erkennen.

Sams Anfälle ließen so dramatisch schnell nach, dass er zwei Tage nach der ersten CBD-Pille an einer Seilrutsche zehn Meter hoch über den Hyde Park hinwegsausen konnte – 800 Meter weit und sicher festgezurrt, es gab also keine Absturzgefahr. Und weil er in jedem Vergnügungspark eine große Schwäche für die gefährlichsten Fahrten zeigt, konnte Evelyn einfach nicht Nein sagen. Unseren Freunden und dem Rest der Familie verrieten wir erst mal nichts von den frühen Erfolgen.

Wir hatten Angst, dass auch diese Therapie – wie so viele zuvor – am Ende enttäuschen würde. Am 28. Dezember 2012 aber, acht Tage nach Sams erster Tablette, war offensichtlich, dass wir hier Zeugen von etwas Fantastischem wurden. „Bester Tag bisher“, schrieb Evelyn an Freunde und Verwandte. „Heute hatte Sam insgesamt nur drei Anfälle – kurze, ein paar Sekunden lang. Er ist nicht nur nahezu frei von Anfällen, sondern auch reifer, ent­spannter und besser gelaunt.“

Doch unsere Euphorie hielt nur zwei Wochen. Der Versuch ging aufs Ende zu, und Guy war nicht bereit, uns CBD mit in die USA nehmen zu lassen. Am 2. Januar 2013 kündigte er per E-Mail an, ein Mitarbeiter werde ins Hotel kommen, um die noch nicht verbrauchten Tabletten abzuholen. Wir wussten, dieser Moment würde kommen – doch das machte es nicht besser: Nach zwei Wochen enormer Fortschritte sollten wir die Medikamente zurückgeben, die Sam so geholfen hatten. Wir legten uns einen Plan zurecht, wie wir die Zeit überbrücken konnten, in der wir auf die Behörden-Genehmigungen warten mussten. In unserer Not verfielen wir auf CBD-Pillen, die laut Anbieter in Colorado auf Basis von Hanf hergestellt wurden.

Am 1. März 2013 kamen Beamte der Drogenfahndung DEA ohne Anmeldung in das Büro von Roberta Cilio, Sams damaliger Ärztin an der UCSF. Sie machten klar, dass sie keinen freundlichen Plausch im Sinn hatten. „Sie stellten viele persönliche Fragen: Woher ich komme, ob ich jemals (illegale) Drogen genommen habe“, berichtet Cilio. Sie habe sich gefühlt wie in einer TV-Krimiserie.

Die Befragung dauerte zwei Stunden und wurde besonders angespannt, als die Beamten fragten, wie Cilio plane, die Medikamente auszuhändigen. „Ich sagte, ich würde sie hier in meinem Büro aufbewahren und sie dann in meine Handtasche legen und damit über die Straße gehen, um den Patienten in der Klinik zu treffen“, erzählt Cilio. Die Reaktion: „Sie wissen nicht, wovon Sie reden. Das hier ist ein Klasse-I-Medikament, wie Heroin. Sie können es nicht einfach in Ihrer Tasche mit über die Straße nehmen. Sie müssen es sicher in Ihrem Büro aufbewahren und es dem Patienten in Ihrem Büro verabreichen.“
Nachdem wir geholfen hatten, einen Safe für Cilio zu organisieren, wurde unser Antrag von der DEA bewilligt.

Als Nächstes mussten wir die Importgenehmigung beantragen, Zollformalitäten regeln und warten, bis Cilio vom Besuch einer Konferenz im Ausland zurück war. So vergingen noch einmal sechs Wochen. Seine erste CBD-Tablette in den USA nahm Sam am 4. Mai, drei Wochen vor seinem zwölften Geburtstag. Unsere Gesamtausgaben für das Projekt betrugen etwa 120 000 Dollar, Reisekosten nicht eingerechnet. Zwei Beratungsfirmen – eine spezialisiert auf die Arbeit der FDA, die andere auf die DEA – machten den Großteil davon aus. Eine riesige Summe, aber es ist schwer vorstellbar, wie wir es ohne diese Hilfe geschafft hätten.

Immerhin scheinen unsere enormen Ausgaben für Sam auch die Entwicklung einer Therapie beschleunigt zu haben, die nach Aussagen von Ärzten zur interessantesten Behandlungsmethode für Epilepsie seit vielen Jahren werden könnte. Kurz nach unserer Rückkehr aus London begannen Guy und GW Pharmaceuticals, mit Epilepsiespezialisten an US-Krankenhäusern über Studien zu sprechen.

Die ersten Ergebnisse erwiesen sich dann als so ermutigend, dass bis Ende dieses Jahres 1400 Patienten an mehr als 50 Krankenhäusern in den USA und Großbritannien teilnehmen sollen. Inzwischen hat das Medikament auch einen Namen: Epidiolex. Kurz hatte Guy sogar darüber nachgedacht, es nach Sam zu benennen. Es hat den sogenannten Fast Track-Status von der FDA bekommen, sodass es innerhalb von drei Jahren in US-Apotheken zu haben sein könnte.

Epidiolex ist kein Wundermittel. Laut den jüngsten Daten hat es von 137 Kindern, die es zwölf Wochen lang einnahmen, ungefähr jedem zweiten geholfen; die Zahl der Anfälle ging bei ihnen um mindestens 50 Prozent zurück, bei neun Prozent der Kinder hörten sie ganz auf. Diese Quote ist besser, als sie klingt: Alle Patienten in diesen Studien waren – wie Sam – am Ende ihrer Möglichkeiten angelangt. Dennoch zeigen die Daten deutlich, dass auch CBD, Epidiolex oder sonst ein Medikament nicht jedem Epilepsiepatienten helfen kann.

Warum muss alles Geld kosten? Geld ist doch nur Papier. Wofür brauchen wir das?

Sam

Sam lebt jetzt zum ersten Mal seit zehn Jahren wie ein normaler Junge. Von der Schule kommt er mit Bus und Bahn allein nach Hause. Mit einem Freund spielt er Halo. Er ist nicht völlig frei von Anfällen, aber beinahe, wie in London. Er hat zwischen null und fünf Anfälle am Tag, und seit fast zwei Jahren nimmt er keinerlei andere Anti­epileptika mehr. Epidiolex wird derzeit nur in flüssiger Form hergestellt. Sam nimmt zum Frühstück und zum Abendessen jeweils 3,5 Milliliter davon. Die Anfälle, auch wenn sie seltener kommen, sind für Sam heute weit frus­trierender als früher. Ihm wird zunehmend klar, dass er nie eine Chance haben wird, Auto oder Fahrrad zu fahren, bis auch die restlichen Anfälle verschwinden.

Sam erweist sich als intelligentes, nachdenkliches Kind. Auf Autofahrten stellt er mir neuerdings Fragen wie diese: „Warum muss alles Geld kosten? Geld ist doch nur Papier. Wofür brauchen wir das?“ Oder: „Warum gibt es uns? Woher kommen wir?“ Den Großteil des vergangenen Jahrzehnts hatte ich Sorge, dass es Sam nie gut genug gehen würde, um Gedanken wie diese zu formulieren. Eine seiner frühesten Erinnerungen ist ein Anfall im Kindergarten: „Weißt du, wie das ist, wenn man die Reihe anführt, einen Anfall hat, und dann wacht man auf, und alle schreien einen an?“

All das erinnert mich an ein Gespräch, das ich 2009 mit Doug Nordli geführt hatte, einem bekannten Epileptologen aus Chicago. Er riet uns dringend, nie die Hoffnung aufzugeben, so schwer das auch mitunter sein möge. Er habe schon gesehen, wie sich Kinder wie Sam beachtlich schnell entwickelten, sobald ihre Anfälle unter Kontrolle gebracht waren. Ich wollte ihm gerne glauben, aber damals gelang mir das einfach nicht. Jetzt sehe ich täglich neu den Beweis dafür, wie falsch ich lag.  

GQ Empfiehlt