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„Es gibt einen Krieg gegen Whistleblower“: Ex-MI5-Agentin Annie Machon im Interview

von Sonja Peteranderl
Schwarze Sonnenbrille, ebenso schwarz gekleidet, sie sieht aus wie eine Agentin aus einem Spionageroman: In den Neunzigerjahren arbeitete Annie Machon tatsächlich als Ermittlerin für den britischen Geheimdienst MI5, dann wurde sie zur Whisteblowerin. Zusammen mit ihrem damaligen Partner und Kollegen David Shayler prangerte sie 1997 mehrere Vergehen des britischen Geheimdienstapparates an — darunter illegale Telefonüberwachung, politische Spionage, die Verhaftung Unschuldiger und ein Anschlag auf Gaddafi 1996. Im WIRED-Interview erzählt Machon von ihrer Flucht nach dem Whistleblowing, wie sich der Umgang mit Whistleblowern verändert hat, was sie mit ihrer Organisation Code Red plant und welche Geheimdienst-Reformen es geben muss.

WIRED: Man könnte dich als Whistleblower-Veteranin bezeichnen. Was hat sich seit den Neunzigern für Whistleblower verändert?
Annie Machon: Es ist schockierend, es ist ein Krieg gegen Whistleblower im Gange. Die USA setzt das Spionagegesetz von 1917 gegen Whistleblower ein. England hat den Offical Secrets Act von 1911, und 1998 gab es eine Reform, um Whistleblower zu stoppen. Wenn du in den USA auf Basis des Spionagegesetzes als Verräter verfolgt wirst, kannst du 14 Jahre Gefängnisstrafe bekommen, als Minimum. Das Gesetz ist aber nicht für Whistleblower entwickelt worden, sondern für Verräter. Obama hat acht Mal versucht, dieses Gesetz anzuwenden, häufiger als alle anderen amerikanischen Präsidenten seit 1917 zusammen. Regierungen versuchen Whistleblower zu unterdrücken, sie werden als „Insider Threat“ betrachtet. Es ist verrückt! Seit den Snowden-Enthüllungen wurden vor allem in westlichen Ländern viele neue Gesetze auf den Weg gebracht, die die Geheimdienste schützen und ihre Macht stärken.

Wir versuchten, unsere Bedenken intern zu äußern. Aber wir wurden angewiesen, den Mund zu halten.

WIRED: Gab es einen bestimmten Wendepunkt, der dich zur MI5-Whistleblowerin gemacht hat?
Machon: Es war der Gaddafi-Plot. Mein damaliger Lebensgefährte David Shayler war Leiter der Libyen-Sektion beim MI5 und er wurde von einem Kollegen beim Auslandsgeheimdienst MI6 über den geplanten Anschlag auf Gaddafi informiert. David dachte, es würde nicht passieren, weil der MI6 oft mit wilden Ideen ankam. Doch dann kam die Info, dass es die Attacke gegeben hatte — sie hatte mehrere Zivilisten getötet, nicht aber Gaddafi. Es war wie bei dem Frosch, bei dem das Wasser langsam zum Kochen gebracht wird: Es gab so viele Dinge, über die wir und viele Kollegen uns beschwert hatten. Aber das war der entscheidende Moment.

WIRED: Habt ihr euch sofort an die Medien gewandt?
Machon: Wir hatten zuerst versucht, unsere Bedenken innerhalb der Behörde vorzubringen, die Befehlskette entlang und manchmal direkt an der Spitze. Aber wir wurden immer nur angewiesen, den Mund zu halten. Die Entscheidung, an die Öffentlichkeit zu gehen, war sehr schwer. Wir wussten, dass wir etwas tun müssen, aber es war verdammt beängstigend.

WIRED: Im Sommer 1996 begann der Kontakt mit der britischen Zeitung The Mail on Sunday, erst ein Jahr später wurde die erste Geschichte veröffentlicht. Warten auf den Big Bang — wird man da nicht völlig paranoid?
Machon: Es gab Indizien, dass der MI5 schon Wind von der Sache bekommen hatte. So wurden wir sehr paranoid. David hat das Gerücht verbreitet, dass er an einem Spionageroman arbeitet. Ich denke, sie haben das die meiste Zeit auch geglaubt. Man lebt von Tag zu Tag. Man wird sehr vorsichtig, auch zu Hause, wenn man vermutet, dass man überwacht wird. Wir gingen zum Reden in Bars, haben immer wieder neue Plätze gesucht. Und wir haben niemandem etwas erzählt, damit sie es nicht weitererzählen oder verhaftet werden.

David hat das Gerücht verbreitet, dass er an einem Spionageroman arbeitet. Ich denke, sie haben das die meiste Zeit geglaubt.

WIRED: Gab es einen Plan für das Leben nach dem Leak?
Machon: Gar nicht. Man ist so fokussiert auf die Themen und die Geschichten und darauf, dass sie veröffentlicht werden. Was du in deinem Leben machst, wird irgendwie sekundär. Vielleicht war es auch Verdrängung. Als die Story tatsächlich am Wochenende veröffentlicht werden sollte, in drei Tagen, fragten wir uns: „Oh mein Gott, was sollen wir jetzt machen?“

WIRED: Existierte damals schon eine Art Whistleblower-Netzwerk, gab es andere, an die ihr euch hättet wenden können?
Machon: Absolut gar nichts. In den Achtzigerjahren hatte es einige Schlüssel-Whistleblower gegeben. Zu unserer Zeit war da nur Richard Tomlinson, der ein MI6-Whistleblower war. Aber es war Zufall, wir kannten uns nicht — er kam kurz vor uns raus.

WIRED: Dann also: Untertauchen?
Machon: Es gab nur zwei Optionen. Im Land zu bleiben und darauf zu warten, das die Geheimdienstpolizei vor der Tür steht — dann hätten wir etwa zwei Jahre darauf warten müssen, unter dem Official Secrets Act verurteilt zu werden. Oder das Land verlassen, uns zu verteidigen und das Geschehen in einen Kontext zu bringen. Für Journalisten ist es schwierig, Informationen einzuordnen, zu wissen, was die Enthüllungen tatsächlich bedeuten. Man braucht einen Insider. Bei der Snowden-Story sehen wir immer wieder, wie schwierig es ist, die Puzzleteile richtig zusammenzusetzen. Ich buchte also zwei Flüge nach Amsterdam, Samstagmorgen, um das Land zu verlassen, bevor die Zeitung am Abend in London ausgeliefert werden würde. Dann haben wir uns durch Holland bewegt, später sind wir durch Frankreich und Spanien gereist, wie bei einem Backpacking-Urlaub.

WIRED: Immerhin wusstet ihr, wie Agenten arbeiten — und wie man Spuren verwischt.
Machon: Es war damals einfacher. Ich hatte mich darum gekümmert, dass wir viel Bargeld zur Verfügung haben, statt Bankkarten und Reiseschecks. Wenn wir eine Bank nutzen mussten, haben wir sofort danach diese Stadt verlassen und einen Ort gewählt, der ein paar Stunden entfernt war. Es ist sehr leicht, sich zu tarnen, auch heute noch.

WIRED: Trotz großflächiger Kameraüberwachung?
Machon: Mit der endemischen Überwachung und der Zusammenführung von Daten wie Internetverbindungen, Telefonkontakten, Hotelbuchungen, wäre es heute viel schwieriger. Selbst in den Neunzigern hatten Ermittler fast dieselben technischen Möglichkeiten, aber sie mussten damals viel gezielter vorgehen, und es war noch sehr arbeitsintensiv. Wenn man aber Low Budget-Hotels benutzt, mit Bargeld zahlt, und natürlich heute Sicherheitssoftware einsetzt, während man seinen Computer benutzt, kann man immer noch relativ anonym sein.

35 Jahre Gefängnis wie bei Chelsea Manning, das ist ein anderes Kaliber.

WIRED: Ihr habt euch später freiwillig gestellt, um vor Gericht auszusagen.
Machon: Wir hatten vorher verhandelt. Als ich am Flughafen ankam, wurde ich trotzdem gleich von sechs Spezialagenten verhaftet. Sie hielten mich in der Interviewkabine für Terroristen fest und verhörten mich den ganzen Tag. Sie haben mich zwar nie für etwas belangt, aber ich musste jeden Monat zur Polizei gehen. Sie machten auch eine Razzia bei Davids Bruder und bei zwei seiner besten Freunde, die aufgrund fabrizierter Anklagen festgenommen wurden. Als David sich später stellte, wurde er dreimal verurteilt, das waren dann sechs Jahre. Ein halbes Jahr Gefängnisstrafe musste er dann absitzen. Jetzt ist das etwas anderes: 35 Jahre im Gefängnis wie bei Chelsea Manning, das ist ein anderes Kaliber. Dein ganzes Leben. Deswegen ist die Courage von Edward Snowden phänomenal — zu tun, was er getan hat, obwohl er vorher gesehen hat, was mit Manning passiert ist.

WIRED: Was haben die Snowden-Enthüllungen deiner Meinung nach bewirkt?
Machon: Es ist ziemlich deprimierend. Viele Länder haben fast gar nicht über den Snowden-Fall berichtet, so dass viele Menschen keine Ahnung haben, wer Snowden ist. In den USA gab es zwar Rufe nach Reformen, bei denen es aber vor allem um den Schutz der Rechte von US-Bürgern ging, nicht um die Überwachung im Rest der Welt. In England wurde einfach alles vertuscht. In Deutschland findet die laufende Untersuchung im Bundestag statt, die aber attackiert und ausspioniert wurde. In Bezug auf rechtliche Reformen gab es nicht wirklich einen messbaren Erfolg, was eine Schande ist. Immerhin denken jetzt mehr Menschen darüber nach, wie sie ihre Privatsphäre schützen können.

WIRED: Hatten eure Enthüllungen damals irgendeinen Einfluss auf den MI5?
Machon: Nein. Das ist das Traurige — etwas, was die meisten Whistleblower erfahren. Meistens liegt es daran, wie das Geschehen von den Behörden kontrolliert wird. Ich glaube aber, dass sich immerhin kulturell und gesellschaftlich aber etwas geändert hat, die Perspektive.

Es gibt die Richtlinie, Kollegen zu melden, die sich zu sehr wegen ethischer Bedenken beschweren.

WIRED: Schotten sich Behörden nach Whistleblower-Fällen nicht eher noch stärker ab?
Machon: Absolut. Die Geheimdienste sind viel paranoider geworden, dass aus Mitarbeitern Whistleblower werden. Das führt zu mehr Misstrauen. Ich glaube, es gibt Richtlinien, die dich anweisen, zu melden, wenn einer deiner Kollegen sein Verhalten ändert oder sich zu sehr wegen ethischer Bedenken beschwert. Wenn Menschen scharenweise kündigen, mit denselben Bedenken, sollte das ein Impuls sein, etwas zu verändern — anstatt den Kritikern zu kündigen. Aber das tun sie nicht. Es ist eine Mentalität der Abschottung.

WIRED: Welche Reformen hältst du für notwendig?
Machon: Durch clevere Manöver ist der MI5 in den Neunzigerjahren zum Haupt-Antiterrorismus-Hub geworden. Das war schon immer ein Problem, weil sie diese Arbeit von der Polizei gestohlen haben. Die Polizei musste einem Standardverfahren folgen, der MI5 nicht. Heute haben wir diese unglaubliche geheime Organisation, die niemandem Rechenschaft ablegen muss, die andererseits keine Erfahrung mit klassischer Polizeiarbeit wie Beweissicherung hat oder davon, wie man jemanden vor Gericht bringt. Wir brauchen dringend Reformen. Wir müssen rechtlich festlegen, was nationale Sicherheit ist und welche Rolle sie spielt. Zur Zeit ist nationale Sicherheit ein sehr elastischer Begriff. Man muss sich auch die Infrastruktur der Dienste ansehen und sie effektiver gestalten, damit sie die Bevölkerung tatsächlich schützen können.

WIRED: Wegen den Diskussionen um terroristische Anschläge ist die Debatte um eine Kurskorrektur der Geheimdienste aktuell sehr schwierig zu führen.
Machon: Natürlich. Aber wie viele Attentatsversuche hat es gegeben? Und die Leute, die diese Anschläge ausgeführt haben, wurden doch sowieso bereits von den Geheimdiensten beobachtet. Das bedeutet, dass das aktuelle Setup nicht hilft — oder die Behörden ertrinken in Informationen, aufgrund dieses massiven Datenabgriffs durch Überwachung. Deswegen denke ich, dass die Geheimdienste besseren Schutz leisten könnten, wenn sie reformiert werden würden.

WIRED: Reformen würden auch eine gewisse Transparenz voraussetzen, doch das Geheimnis ist quasi das Grundprinzip von Geheimdiensten. Was muss geheim bleiben, was nicht?
Machon: Es sollte mehr Transparenz geben, wenn auch keine totale Transparenz. Es gibt Dinge, die geheim bleiben müssen, wie operationale Techniken, laufende Operationen, weil man Leute nicht darüber informieren möchte, dass sie unter Überwachung stehen. Auch die Namen von verdeckten Ermittlern, die kriminelle Gruppen infiltrieren und an die Behörde berichten, müssen geheim bleiben. Die Namen von Agenten gibt man niemals weiter, weil sie sonst sterben können. Alles andere sollte offenbart werden. In England dürfen die Spione der Regierung gegenüber lügen, um ihre Fehler zu übertünchen. Sie werden immer wieder dabei erwischt.

WIRED: Mit dem Sicherheitsexperten und Überwachungsgegner Simon Davies hast du das neue Netzwerk Code Red gegründet, das Geheimdienstreformen vorantreiben und Whistleblower unterstützen will. Was habt ihr vor?
Machon: Es geht darum, all diese verschiedenen Communities zusammenzubringen: die Medien, die Tech-Community, die Whistleblower und Politik. Wir wollen ein Netzwerk aufbauen, so dass Leute kooperieren können, wenn sie es wollen, ohne auf persönliche Kontakte angewiesen zu sein. Wir versuchen eine Art Clearing-House zu etablieren und die Kontaktaufnahme zu einem gewissen Grad und weltweit zu automatisieren. Jetzt sind die Diskussionen noch sehr westlich orientiert, aber Probleme gibt es überall. Wir brauchen Whistleblower-Unterstützergruppen in jedem Land. In Europa beginnen sie gerade ganz extrem zu wachsen.

WIRED: Was brauchen Whistleblower am dringendsten?
Machon: Das Wichtigste ist eine kostenlose rechtliche Beratung, kostenlose psychologische Beratung, falls es notwendig ist und vor allem eine Gemeinschaft, damit man sich nicht so einsam fühlt. Es ist gut, wenn es Ansprechpartner gibt, die den Prozess kennen. Whistleblower sind keine Roboter.

WIRED: Dein Tipp für zukünftige Whistleblower?
Machon: Guck dir die Fälle früherer Whistleblower an, überlege dir, was funktioniert und was nicht. Man muss technikbewusst sein und sicherheitsbewusst, auch in der realen Welt. Und nutze die Medien, aber vertraue ihnen nicht. Der Job der Medien unterscheidet sich von dem, was wir tun möchten — sie wollen die Story. Dessen muss man sich bewusst sein. Das ist ein Prozess, durch den jeder Whistleblower geht: Wir sind Medien-Jungfrauen, wir haben keine Ahnung, wie das System funktioniert. 

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