Hinweis zu Affiliate-Links: Alle Produkte werden von der Redaktion unabhängig ausgewählt. Im Falle eines Kaufs des Produkts nach Klick auf den Link erhalten wir ggf. eine Provision.

Warum das Wort Shitstorm scheiße ist

von Hakan Tanriverdi
Shitstorm: Das Lieblingswort der Medien für Debatten im Internet hilft allen, die eigentlich gar keine Debatte wollen. Denn wer es benutzt, hindert seine Gegner nicht nur daran, Kritik zu äußern, sondern bestraft sie auch für den Versuch einer Diskussion.

Im Journalismus verließ man sich früher gern auf einen Stift, den Leser in die Hand gedrückt bekamen. In mehrwöchigen Tests ließ man sie jene Stellen markieren, an denen sie aufhörten weiterzulesen. Heute sind die Methoden moderner, aber manchmal wünsche ich mir diesen Stift zurück. Ich würde damit jedes einzelne „Shitstorm“ markieren, das in Artikeln auftaucht. Denn sobald ich dieses Wort lese, steige ich aus. Meine Erfahrung ist: Texte, die einen Shitstorm enthalten, sind es nicht wert, gelesen zu werden.

Zwei aktuelle Fälle zeigen das: Da ist eine Kolumnistin, die Ratgebertexte verfasst und einem Leser empfiehlt, seine Töchter lieber nicht mit auf die Hochzeit seines schwulen Bruders zu nehmen. „Ihre Töchter würden durcheinandergebracht“, schreibt sie, „und können die Situation Erwachsener nicht richtig einschätzen.“ In einem zweiten Fall warnte die CDU-Ministerpräsidentin Annegret Kramp-Karrenbauer vor der Ehe zwischen homosexuellen Menschen: Sollte ­solch ein „Ja“ legal werden, wäre auch denkbar, dass Geschwister heiraten.

Beide Aussagen regten viele Menschen auf. Die Reaktionen reichten von Unverständnis bis zu Aggression. Wie kann man darüber berichten? Auf jeden Fall, ohne das Wort Shitstorm zu benutzen. Dafür gibt es drei gute Gründe:

Erstens: Wer Shitstorm schreibt, der vermittelt das Bild ­einer „Netzgemeinde“, tut also so, als ob es im Internet vorwiegend Gleichgesinnte gäbe: „Die im Netz“ sind dagegen, ist dann der Unterton. Das ist schlicht falsch. 

Das wahllose Zusammenmixen aller Kritik unter dem Schlagwort Shitstorm erlaubt es, sich inhaltlich nicht weiter damit auseinanderzusetzen. 


Zweitens: In der Sekunde, in der man Kritiker bezichtigt, ­argumentativ mit Scheiße um sich zu schmeißen, sind diese Menschen automatisch entweder komplett im Unrecht oder zumindest mitschuldig.

Drittens: Das wahllose Zusammenmixen aller Kritik unter dem Schlagwort Shitstorm erlaubt es, sich inhaltlich nicht weiter damit auseinanderzusetzen. Die Argumente, ob gut oder schlecht, werden zur Nebensache — sind einfach Teil der Empörung, desselben Shitstorms. Das Wort wird also auch taktisch eingesetzt: Kaum ist es geschrieben, kann man plötzlich alle Diskussionspunkte ignorieren. Wer das Wort Shitstorm nutzt, hindert seine Gegner nicht nur daran, Kritik zu äußern, sondern bestraft sie auch für den Versuch einer Debatte. 

Gerade beim Thema Homosexualität taucht das Wort Shitstorm übermäßig häufig auf. So wird der Eindruck erweckt, dass Menschen, die für ihre Rechte kämpfen, besonders empfindlich sind, schließlich beschweren sie sich immer. Richtig daran ist nur: Es gibt eine sehr aktive Szene, die im Netz für ihre Rechte kämpft — und ein Blick in die Geschichte zeigt, wieso das so ist.

Der vermutlich erste Ort für Homosexuelle im Netz war die Newsgruppe motss im Jahr 1983. motss steht für members of the same sex. Hier redeten Schwule ausführlich über Politik, Trauer (AIDS, Infektion, gestorbene Freunde), Gesellschaft und Sex. Die homosexuelle Community hatte mit als Erste erkannt, wie sich durch das Internet der Mainstream entmachten ließ: Online musste sich niemand an gängige Konventionen halten. So sind Homosexuelle in diesen Räumen aufgegangen — und haben sie mitgeprägt. 

Warum werden gerade die Kampagnen von Homosexuellen lautstark im Netz diskutiert? Schließlich sind viele Communitys seit Jahrzehnten im Netz aktiv, nicht zuletzt Hacker, deren Diskussionen, Empörung und Kritik nicht diese Ausmaße erreichen. Repräsentative Umfragen zeigen, dass Menschen in Deutschland mehrheitlich Ja sagen zur Ehe für Homosexuelle. Die Zustimmung liegt zwischen 66 und 75 Prozent. Wer also schreibt wie die Kolumnistin, stellt sich gegen die Gesellschaft. Viele solcher Aspekte könnte man bei diesen Debatten analysieren und diskutieren. Oder aber, man will nicht nachdenken — und schreibt einfach etwas von einem Shitstorm. 

Hakan Tanriverdi arbeitet als freier Journalist unter anderem für das Digital-Ressort von „Sueddeutsche.de“, er twittert unter @hakantee. Für WIRED schreibt er regelmäßig über Netz- und Technologie-Themen. In unserer Juni-Ausgabe überlegte er in der Kosmos-Kolumne, ob uns Smartphones wirklich einsam machen. 

GQ Empfiehlt