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Hack die Demokratie! Die Macher der App DemocracyOS im Interview

von Anja Rützel
Die Argentinier Santiago Siri und Pia Mancini haben eine App entwickelt, die Demokratie greifbar macht. DemocracyOS soll Bürgern mehr Teilhabe an Entscheidungen ermöglichen. Wir haben mit den Machern gesprochen.

Sie wollen die Demokratie hacken: Zu abgeschottet, zu unbeweglich, zu machthaberisch agierten die gewählten Volksvertreter, sagen die beiden Argentinier Pia Mancini und Santiago Siri. Ihre 2013 entwickelte Open-Source-App DemocracyOS soll das ändern, indem sie den Bürgern über eine Diskussions- und Voting-Plattform mehr praktische Teilhabe ermöglicht. Von ihrer Heimatstadt Buenos Aires, wo die Menschen via DemocracyOS zum 
Beispiel über eine neue Dienstverordnung für Krankenschwestern im städtischen Spital diskutierten, fand die Anwendung ganz allein ihren Weg bis nach Indien, Frankreich und Tunesien. Um die Menschen in ihrer Heimat zu mehr politischem Engagement zu ermuntern, gründeten sie gar eine Partei. Das Versprechen der Net Party: Sie hält sich in sämtlichen Entscheidungsverfahren an die Ergebnisse der Online-Abstimmungen.

WIRED: Frau Mancini, Herr Siri, Sie wollen die Demokratie „hacken“, wie Sie sagen, um das System von innen zu verbessern. Was ist daran denn reparaturbedürftig? 
Santiago Siri: Demokratische Systeme funktionieren immer noch genauso wie vor 200 Jahren, während sich die Gesellschaft um sie herum stark verändert hat. Auch die Politik muss darum vernetzter und flexibler werden. DemocracyOS haben wir ursprünglich für Argentinien entwickelt, aber die Mängel treffen auf die meisten Demokratien zu. Es ist zu wenig, wenn die Menschen nur bei den Wahlen Einfluss nehmen können. Das ist ungefähr so, als würde man alle paar Jahre ein Emoji verschicken.

WIRED: Wie soll eine App das ändern? 
Pia Mancini: Die Benutzer können sich über aktuelle Gesetzesentwürfe und Diskussionen informieren und mit anderen darüber diskutieren — und zwar in einem Forum, das sich bemüht, die bes­ten Argumente zu belohnen. Anschließend kann man seinen gewählten Vertretern ein klares Meinungssignal geben, indem man online seine Stimme abgibt. 

WIRED: Oft scheitert es ja schon am ­ersten Punkt: Diese Informationen sind schwer zugänglich.
Mancini: Für unsere Urversion in Buenos Aires ging eine Gruppe Ehrenamtlicher zu allen öffent­lichen Debatten des Kongresses, weil es davon keine digital zugänglichen Protokolle gibt. Ihre Mitschriften wurden dann in die App eingespeist und Gesetzesentwürfe und Ähnliches außerdem in ganz normale Sprache übersetzt, die nicht nur für Juristen gemacht ist. In Helsinki dagegen speist sich der Informationsbereich automatisch aus dem öffentlichen Feed der Stadtverwaltung. 

WIRED: Sie haben nicht nur ein Teilhabe-Tool programmiert, sondern auch gleich die passende Partei dazu gegründet. 
Siri: Wir wollen die politischen Kräfte in ihrem eigenen Spiel herausfordern. Im Wahlkampf für The Net Party haben wir zwei Millionen Stimmzettel mit Crowdfunding-Geld drucken lassen und ein trojanisches Pferd gebaut, das wir durch die Straßen von Buenos Aires gezogen haben. Bei den Wahlen im Oktober 2013 erhielten wir 1,2 Prozent der Stimmen und haben den Einzug ins Stadtparlament verpasst. Trotzdem war dieses Ergebnis wie ein Kickstart für ein neues Politikverständnis. Es zeigt, wie politi­sche Repräsentation im Licht einer noch nie da gewesenen Vernetztheit funktionieren kann. Wir hoffen, dass wir dieses Jahr ins Stadtparlament einziehen.  

Die App von Pia Mancini und Santiago Siri konfrontiert Politiker mit dem Wählerwillen. Nicht nur alle paar Jahre, sondern vor jeder Abstimmung.

WIRED: DemocracyOS findet längst nicht mehr nur in Buenos Aires Verwendung. Wo kommt das Programm noch zum Einsatz? 
Siri: Eines Morgens bekam ich eine Mail von einem unserer Programmierer. Im Betreff stand nur: „Kommt dir das irgendwie bekannt vor?“ Dazu ein Link. Ich klickte darauf und fand eine Version von DemocracyOS, komplett auf Arabisch und Französisch. Eine gemeinnützige Organisation in Tunesien hatte es eingerichtet, um die neue Verfassung zu diskutieren. 2000 Bürger hatten bereits Abschnitt für Abschnitt kommentiert. Unsere Open-Source-Software hatten die Entwickler auf GitHub gefunden. Bis jetzt wurde DemocracyOS in 16 Sprachen übersetzt und von Regierungen, Parteien und sogar Unternehmen eingesetzt, die etwas zu debattieren hatten. 

WIRED: Für welche konkreten Projekte wurde die App verwendet? 
Mancini: Gavin Newsom, der Vizegouverneur von Kalifornien, benutzte sie, um die Wähler zur vollständigen Freigabe von Cannabis zu befragen, die er vorantreiben will. Eine gemeinnützige Organisation in Brasilien ließ die wirtschaftlichen Auswirkungen der Fußball-WM diskutieren. Die mexikanische Regierung, Aktivisten in Indien und in der Ukraine verwenden die App ebenfalls. 

WIRED: Wie optimistisch sind Sie, dass sich die Politik der neuen Technik öffnet? 
Mancini: Ich denke, diese Herausforderung ist nicht technischer, sondern kultureller Natur. Ich habe in politischen Thinktanks und für Parteien im Wahlkampf gearbeitet und dort gesehen, was das politische Machtsys­tem aus Menschen machen kann. Und auch die Wähler selbst müssen erst lernen, was aktive Teilhabe für sie bedeuten kann.

WIRED: Wie gut nehmen diese Democra­cy­OS als Diskussionsforum wahr? Funktioniert das nur bei typischen Netzthemen?  
Siri: Tatsächlich werden lokale Belange auf Stadtebene am lebhaftesten diskutiert: Wie sollen die Straßen verlaufen, wie der Müll entsorgt werden? Dinge, bei denen jeder mitreden kann. Die größte Diskrepanz zwischen der Wählermeinung auf Democracy­OS und dem Abstimmungsergebnis der Volksvertreter sahen wir, als öffentliche Grundstücke in Stadtbesitz an Unternehmen verkauft werden sollten, die dort Einkaufszentren bauen wollen: Anders als die Politiker waren die Bürger strikt dagegen und wünschten sich lieber billigen Wohnraum oder Parks. 

WIRED: Das Web ist nicht unbedingt als zivilisiertester Diskussionsort bekannt. Wie sehr haben Sie mit Trolling zu kämpfen? 
Siri: Wir haben da ganz ermutigende Erfahrungen gemacht. Als psychologischen Trick kann man in der App keine „Kommentare“ abgeben, sondern „Argumente“. Trolle fühlen sich ja meistens ­berufen, wenn über Menschen diskutiert wird, auf persönlicher Ebene. Weil es aber eher um ­Themen und Ideen geht, sind die meisten Beiträge konstruktiv.

WIRED: Je mehr Menschen mitmachen, umso unübersichtlicher wird das mit der politischen Teilhabe. Wie organisieren Sie solche Massendiskussionen?
Siri: Tatsächlich ist es eine Herausforderung, in einem Thread mit 1000 Antworten die besten Argumente zu identifizieren. Wir bekommen da gerade wertvollen Input aus dem Silicon Valley und arbeiten mit den Entwicklern von Reddit zusammen. Sie wissen am besten, wie man große Communitys managt.

Weitere Projekte, die die Politik verändern:

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