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Googles Superhirn: DeepMind-Chef Demis Hassabis baut die ultimative Denkmaschine

von David Rowan
Sollten wir uns vor einer Maschine fürchten, die denken kann? Die Zukunft der künst­lichen Intelligenz beginnt mit einer Partie „Space Invaders“ (Update siehe unten).

Anfangs gelingen den feindlichen Aliens einige Abschüsse — innerhalb von Sekunden zerstören sie dreimal die Laserkanone des Verteidigers. Nach einer halben Stunde beginnt der Spieler zögerlich, sich in den Rhythmus des Games einzufühlen, lernt, wann er zurückfeuern oder sich verstecken muss. Schließlich, nachdem er die ganze Nacht lang unablässig weitergespielt hat, gibt er keinen Schuss zu viel mehr ab, zerstört jeden Alien und knallt, ganz nebenbei, noch lässig das Mutterschiff ab: Highscore. In diesem Moment gibt es niemanden auf der Welt, der „Space Invaders“ besser beherrscht.

In diesem Moment gibt es niemanden auf der Welt, der „Space Invaders“ besser beherrscht.

Dieser Spieler ist kein Mensch. Er existiert einzig als Algorithmus, der von der Firma DeepMind programmiert wurde. Deep-Q-Network nannten die Erfinder ihr System. Und wie ein Kind, das noch lernen muss, ließen sie es erst einmal weiterspielen. Break­out war als Nächstes dran, ein Klassiker früher Videogames, bei dem der Spieler einen Ball so steuern muss, dass er eine regenbogenfarbene Mauer einreißt. Bild für Bild durfte der Rechner 30.000 Pixel analysieren — ein relativ geringer Datenstrom — und bekam die simple Anweisung, lediglich den Spielstand zu verbessern.

„Nach 30 Minuten und 100 Partien sieht es eher schlimm aus, aber das System lernt, dass es den Schläger in Richtung Ball bewegen muss“, erklärt Demis Hassabis, Mitgründer und Vorstandschef von DeepMind. Nach einer Stunde sammelt der Computer deutlich mehr Punkte, ohne dabei gut zu spielen.

„Doch nach zwei Stunden beherrscht das System das Spiel mehr oder weniger“, sagt Hassabis, „selbst, wenn der Ball sehr schnell wird. Nach vier Stunden hat es die optimale Stra­tegie gefunden. Es gräbt einen Tunnel um die Mauer herum und lässt den Ball dahinter mit übermenschlicher Präzision herumspringen. Diese Taktik kann­ten nicht mal die Schöpfer des Spiels.“

In einer Studie, veröffentlicht im Magazin Nature, zeigten Hassabis und sein Team, dass das Deep-Q-Network eigenständig gelernt hatte, 49 Video­spiele aus der Atari-2600-Generation zu meistern, ohne vorher zu wissen, worauf es ankam. Von Boxen über Kung-Fu bis zu Autorennen in 3D hatte das System alle Aufgaben ge­meistert und einen professionellen Game-­Tester aus Fleisch und Blut dabei oft hinter sich gelassen. „In diesem Fall sind es nur Spiele, aber es könnte auch um Börsendaten gehen“, erklärt Hassabis. „DeepMind hat auf wirklich elementarer Ebene zwei Erfolg versprechende Forschungsbereiche miteinander verknüpft: ein künstliches neuronales Netzwerk und einen Algorithmus für bestärkendes Lernen.“

Es handelt sich um ein Projekt von der Größenordnung des Apollo-Programms.

Als Vorbild dient das menschliche Gehirn mit seinen Synapsen, die Nervenzellen verbinden und Erfahrungen speichern, indem sie durch Wiederholung ähnlicher Impulse wachsen. So erschließen wir uns als Kind die Welt: durch Beobachten, Ausprobieren und Begreifen. Genau das will DeepMind im Computercode nachbilden. „Was uns interessiert“, erklärt Hassabis, „sind Algorithmen, die auf einem Ge­biet etwas lernen und dieses Wissen auf ein anderes übertragen können.“

Bisher hat seine Firma weder Produkte auf den Markt gebracht noch einen Weg gefunden, maschinelles Videospielen zu Geld zu machen. Das hielt Google allerdings nicht davon ab, das Londoner Unternehmen Anfang 2014 zu kaufen. Es war die bisher größte Übernahme der Kalifornier in Euro­pa überhaupt: Stolze 400 Millionen Pfund — etwa 550 Millionen Euro — zahlte Google für das Startup, das finanzkräftige Silicon-Valley-Stars wie Elon Musk, Peter Thiel und Li Ka-shing zu seinen Investoren zählt.

Auf seiner Website beschreibt Deep­Mind das Unternehmensziel lapidar mit den Worten „solve intelligence“ — herausfinden, wie Intelligenz funktioniert. Hört man Hassabis zu, wird klar, dass es dabei um ein Projekt von der Größenordnung des Apollo-Programms geht, bei dem nach jahrzehnte­langer Arbeit eine neue Art von Computersystem herauskommen soll, das alles um sich herum begreift: allgemeine künstliche Intelligenz (engl. „artificial general intelligence“, AGI).

Nach jahrzehnte­langer Arbeit soll eine neue Art von Computersystem herauskommen, das alles um sich herum begreift: allgemeine künstliche Intelligenz.

Statt Maschinen im Programmcode
genau vorzuschreiben, wie sie Gesichter erkennen oder Sprachbefehle verstehen sollen, will Hassabis dahin kommen, dass neuronale Netzwerke in jeder denkbaren Situation eigene Entscheidungen treffen, so wie Menschen auch. „Hinter künstlicher Intelligenz steht der Traum, Maschinen schlau zu machen“, sagt der DeepMind-Chef.

Im ersten Schritt müssten die Systeme anfangen, über fest einprogrammierte Regeln hinauszuwachsen und sich eigenständig Wissen anzueignen: „Das macht sie sehr viel leistungsstärker“, erklärt Hassabis. „So lernen biologische Systeme.“

Der 38-Jährige sitzt in der neuen DeepMind-Zentrale im Herzen Londons, einem sechsstöckigen Gebäude nahe King’s Cross. 150 Mitarbeiter aus 40 Ländern sind hier damit beschäf­tigt, die Informatik in ein neues Zeitalter zu führen. „Wir haben die weltbesten Wissenschaftler für neuronale Computersysteme und maschinelles Lernen zusammengebracht mit unseren enormen Entwicklungsressourcen“, sagt Hassabis, „um zu sehen, wie weit wir alles vorantreiben können.“

In der Popkultur genießt die künst­liche Intelligenz (KI) nicht gerade den besten Ruf. Mal bringt sie uns mordende Cyborgs, wie in Terminator, mal unheimlich einfühlsame Software-Geschöpfe, wie Samantha in „Her“, deren Verlockungen wir prompt erliegen. Warum sollten wir uns jenseits der Leinwand solch überschlaue Computersysteme wünschen?

„Aus meiner Sicht können wir den Fortschritt, den unsere Gesellschaft erwartet, nur mithilfe von KI erreichen“, erklärt Hassabis. „Klima, Wirtschaft, Krankheiten — all das sind ungemein komplexe Gebiete, die sich gegenseitig beeinflussen.“ Menschen sieht er angesichts der Datenmengen schnell überfordert: „Es ist enorm schwer, aus allen diesen Informationen die richtigen Schlüsse zu ziehen. Wir sollten darauf vorbereitet sein, dass selbst die besten Experten dabei an ihre Grenzen stoßen.“

Doch so beeindruckend manche Erfolge moderner KI-Systeme sein mögen — die Vision vom Maschinenwesen, das sich mühelos in der Menschenwelt zurechtfindet, liegt noch in weiter Ferne. „Wir versuchen, allgemeingültige Algorithmen zu entwickeln, die in der Summe ähnlich arbeiten wie das menschliche Gehirn“, erklärt Hassabis.

Damit das gelingt, müssen seine KI-Forscher Wege finden, den Computer sehen zu lassen — und zu begreifen, was er sieht. Sie müssen ein Gedächtnis entwickeln, das Momentaufnahmen des Alltags von langfristig Nützlichem unterscheidet. Und vieles mehr. „Es gibt heute schon ziemlich gute KI-Systeme für spezielle Aufgaben — Schachspielen etwa oder Autofahren“, sagt Hassabis. „Auch unser System könnte lernen, Schach zu spielen — aber gegen Deep Blue hätte es keine Chance.“

Den Fortschritt, den unsere Gesellschaft erwartet, können wir nur mithilfe von KI erreichen.

Demis Hassabis, Mitgründer und Vorstandschef von DeepMind

Der IBM-Computer, der 1997 Schachweltmeister wurde, bekam von seinen Erbauern alle erdenklichen Tricks mit auf den Weg — für genau diese eine Aufgabe. „Doch wo sitzt bei Deep Blue die Intelligenz?“, fragt Hassabis. „In den Köpfen der Programmierer. Die Software selbst ist eher dumm, denn sie ­lernt nicht mit.“ Schritt für Schritt, in vielen Etappen, will der DeepMind-Chef seinem Ziel näherkommen. Dazu hat er einen 20-Jahres-Plan entwickelt. Fürs Erste soll sein Deep Q-Network Google helfen, bessere Suchergebnisse zu liefern, und Android neue Killer-Features bescheren. „Smartphone-Assistenten sind bisher auf das beschränkt, was ihnen einprogrammiert wurde“, sagt Hassabis. „Wäre es nicht großartig, wenn sie mitlernen und sich anpassen könnten?“ Auf Zuruf würde das Gerät die Urlaubsplanung übernehmen oder vor einem Umzug alle wichtigen Informationen über die neue Stadt zusammensuchen. „Das ist die Art von Technologie, die ich mir in den nächsten fünf Jahren an vielen Stellen erhoffe.“

Von Wettervorhersagen bis zu Blitzentscheidungen an der Börse — überall sieht Hassabis Bedarf für das verstärkende Lernen, das sein Atari-­System erfolgreich vorgeführt hat. Predictive analytics — die Fähigkeit, auf Datenbasis verlässliche Vorhersagen zu treffen — „wird ein gigantisches Thema“, sagt er voraus. „Wir werden diese mitlernende, sich anpassende Form von künstlicher Intelligenz in unterschiedlichsten Produkten sehen.“

Womöglich taucht ein KI-­System unter den Autoren einer Nature-­Studie auf.

Demis Hassabis

Mehr und mehr Aufgaben, die heute noch dem Menschen überlassen bleiben, sieht der DeepMind-Chef in Reichweite der Maschinen kommen. „Algorithmen werden im Auswerten von Röntgenbildern so gut sein wie Spezialärzte“, sagt Hassabis voraus und spekuliert, dass Computer in vielleicht zehn oder fünfzehn Jahren selbst Wissenschaftler sein könnten. „Womöglich taucht ein KI-­System unter den Autoren einer Nature-­Studie auf. Das wäre ziemlich cool.“

Demis Hassabis war vier, als er begann, sich für die Schachpartien zwischen seinem Vater und seinem Onkel zu interessieren. Sein Vater, ein zyperngriechischer Singer-Songwriter, ließ ihn mitspielen: Innerhalb von zwei Wochen schlug der Junge die Erwachsenen. Mit fünf trat er bei nationalen Schachwettbewerben an, mit neun war er Kapitän des englischen U11-Teams, damals das zweitbeste der Welt hinter dem der Sowjetunion. „Ich war wohl ein sehr nachdenkliches Kind, immer den Dingen auf der Spur“, erinnert er sich. „Da war die Frage, wie mein Gehirn auf diese Schachzüge kam, unvermeidlich. So fing ich an, über das Denken nachzudenken.“

Seinen ersten Computer — einen ZX Spectrum — kaufte Hassabis mit acht Jahren vom Preisgeld aus einem Schachwettkampf: „Das Großartige an den Rechnern jener Zeit war, dass man sie einfach selbst programmieren konnte.“ Stundenlang hockte der Junge beim Buchhändler und vergrub sich in Programmierbibeln. „Mir war intui­tiv klar, dass dies ein magisches Gerät war, an dem ich mich kreativ austoben konnte“, erzählt Hassabis.

Mit elf Jahren brachte Hassabis seinem Commodore Amiga das Brettspiel Othello bei.

Der Vater fing an, den hochbegabten Sohn zu Hause zu unterrichten, die Mutter, eine gebürtige Chinesin aus Singapur, ging derweil zur Arbeit bei einer Kaufhaus-Kette. Das Prinzip der künstlichen Intelligenz entdeckte Hassabis mit elf Jahren, nachdem er sich einen Commodore Amiga gekauft hatte. Er brachte seinem Rechner das Brettspiel Othello bei. „Schach war zu kompliziert für die Maschine“, sagt Hassabis. Doch bei Othello zeigte sich der Rechner meisterhaft: „Er gewann gegen meinen jüngeren Bruder.“

Bald faszinierten Rechenmaschi­nen den wissensdurstigen Teenager weit mehr als Schach. Hassabis durchlief im Eiltempo die Schule und bewarb sich mit 16 für Cambridge. Zwar bekam er einen Studienplatz für Informatik, doch Cambridge wollte ihn so jung noch nicht zum Studium zulassen.
Sein Sabbatjahr verbrachte Hassabis bei der Spielefirma Bullfrog Productions: Als Zweiter bei einem Wettbewerb des Amiga Power Magazins hatte er dort eine Stelle ergattert und ließ sich das Spiel Theme Park einfallen, das zu einem Millionenhit wurde.

Der Erfolg finanzierte Hassabis das Studium und bestätigte ihn in der Überzeugung, „dass künstliche Intelligenz ein unglaublicher Fortschritt wäre“. Nach seinem Cambridge-Abschluss, mit Auszeichnung bestanden, ging Hassabis zum Game-Entwickler Lionhead Studio und arbeitete als leitender KI-Programmierer an Black & White. Nur ein Jahr darauf gründete er sein eigenes Studio für Spieleentwicklung, Elixir, das schnell auf sechzig Beschäftigte anwuchs, letztlich aber scheiterte.

Hassabis entschloss sich, zu promovieren. Für seinen Doktor in Kognitiver Neurowissenschaft am University College London konzentrierte er sich auf die Schwerpunkte Gedächtnis und Vorstellungsvermögen. Als er die Einbildungskraft von Amnesie-Patienten untersuchte, deren Hippocampus beschädigt war, stellte er fest, dass es ihnen schwerfiel, Dinge zu beschreiben, die nur in ihrer Fantasie stattfanden — etwa, am Strand unter Palmen zu liegen. Also müsse der Hippocampus entscheidend am Vorstellungsvermögen beteiligt sein, folgerte Hassabis. Seine Veröffentlichung dazu 2007 feierte Science als eine der wichtigsten Erkenntnisse des Jahres.

Forschungsaufenthalte am MIT und an der Harvard-Universität folgten, nebenbei gewinnt Hassabis zum fünften Mal den Denksportwettbewerb Mind Sports Olympiad. Ein Rekord. Als er 2011 plant, DeepMind zu gründen, will er Peter Thiel als Investor gewinnen — den PayPal-Mitgründer und ursprünglichen Facebook-Geldgeber.

Er findet heraus, dass Thiel ebenfalls Schach spielt, und setzt alles daran, den Investor am Rande einer KI-Konferenz zu sprechen. „In die Unterhaltung ließ ich dann nicht ge­rade subtil die Frage einfließen, was Schach bis heute so beliebt macht“, erzählt Hassabis. Thiel wird neugierig. Die kreative Spannung des Spiels, erklärt ihm der Nachwuchsmeister, entstehe aus der perfekten Balance von Springer und Läufer. Thiel beißt an. „Er sagte: ,Warum schauen Sie nicht morgen für einen echten Pitch vorbei?‘“ Thiel investiert. Genau wie Elon Musk, der Skype-Mitgründer Jaan Tallinn und Li Ka-shings Unternehmen Horizon Ventures.

Eine solche Einladung von Google schlägt man nicht aus.

Demis Hassabin

Musk ist es dann, der Larry Page von dieser Jungfirma erzählt, die es schaffen will, ein System für allgemeine KI zu entwickeln. Bald darauf findet Hassabis eine E-Mail in seiner Inbox mit dem Vorschlag, sich mit Page zu treffen. „Eine solche Einladung schlägt man nicht ab“, erklärt der Umworbene. Google bietet an, DeepMind zu kaufen. Die Verhandlungen ziehen sich über ein Jahr hin, doch am Ende willigt Hassabis ein. „Einer der Gründe, warum wir uns für Google entschieden haben, war die ähnliche Unternehmenskultur“, erzählt er. „Dazu kam Larrys leidenschaftliches Interesse an künstlicher Intelligenz.“

Musste er deshalb gleich die Firma verkaufen? Ursprünglich sei das gar nicht seine Absicht gewesen, sagt Hassabis, aber in drei Jahren Fundraising sei er mit der eigentlichen Forschungsarbeit kaum vorangekommen. „Mir wurde klar, dass das Leben vielleicht nicht ausreicht, um sowohl das Problem der KI zu lösen als auch eine Firma zu gründen, die so groß wie Google werden kann.“

Hassabis überlegt: Was würde ihn am Ende glücklicher machen — ein Multi-Milliarden-Unternehmen aufzubauen oder daran be­teiligt zu sein, das Rätsel der Intelligenz zu lösen? „Die Entscheidung war einfach“, sagt er, zumal Page ein schlagendes Argument einbrachte. „Larry sagte: ,Ich habe 15 Jahre ge­braucht, um Google aufzubauen. Warum nutzt du jetzt nicht einfach das, was wir erreicht haben, zu deinem Vorteil?‘ ­Darauf hatte ich keine passende Antwort parat.“

Mit elf Jahren kaufte Mustafa Suleyman Energieriegel und Softdrinks zum Großmarktpreis von 7,5 Pence pro Packung und verkaufte sie an der Schule für 25 Pence. Ein profitables Geschäft, bis es von den Lehrern unterbunden wurde. Suleyman, Sohn eines Taxifahrers aus Syrien und einer englischen Krankenschwester, war von klein auf befreundet mit Demis Hassabis’ jüngerem Bruder — und immer schon mehr an der gesellschaftlichen Wirkung seines Handelns interessiert als an reinem Profit.

„Demis und ich sprachen darüber, wie man Einfluss auf die Welt nehmen könnte“, erinnert sich Suleyman. „Für ihn stand fest, dass wir riesige Simulationen ent­wickeln müssten, die eines Tages die komplexe Dynamik unseres Finanzsys­tems durchspielen und unsere schwie­rigsten gesellschaftlichen Probleme lösen würden. Mein Argument war, wir sollten uns lieber hier und jetzt mit der wirklichen Welt auseinandersetzen.“

Suleyman studierte Philosophie und Theologie in Oxford, brach das Studium aber im zweiten Semester ab, um beim Aufbau einer Telefonberatung für junge Muslime in England zu helfen. Mit 22 wurde er politischer Berater für Londons Bürgermeister in Menschenrechtsfragen, kam jedoch zu dem Schluss, dass er mit Regierungs­arbeit keine tiefgreifenden Systemänderungen erreichen konnte. Heute, mit 30 Jahren, ist er bei DeepMind Leiter der Abteilung für angewandte KI und verantwortlich dafür, die Technologie des Unternehmens in Google-Produkte zu integrieren.

„Ich habe fünf Teams, die an YouTube, Internetsuche, Gesundheitsthemen, natürlicher Spracherkennung und einigen Google-X-Projekten arbei­ten“, berichtet Suleyman. „Wir sind dabei, die Software, die unseren Atari-Spieler ausmacht, auf das gesamte Unternehmen auszuweiten.“ Wenn es YouTube künftig besser gelingt, den persönlichen Geschmack seiner Zuschauer zu treffen, dann auch dank DeepMind im Hintergrund. „Wir versuchen, anhand der Videos, die Nutzer in der Masse abrufen, besser zu verstehen, was jeder Einzelne zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort wahrscheinlich sehen möchte.“

DeepMind steht dabei nicht unter dem Druck, Googles Werbeeinnahmen zu befeuern. „Es gibt keine Erwartun­gen“, versichert Suleyman, „wir sind ein langfristiges Forschungsprojekt. Wenn wir nur nach Lösungen suchen für Produkte, die wir uns heute schon vorstellen können, legen wir unsere eigene Vorstellungskraft in Ketten.“

Suleyman erfüllt noch eine weitere Aufgabe: Er ist bei DeepMind für „Ethik und Sicherheit“ zuständig. Im November 2014 hinterließ Elon Musk einen (anschließend gelöschten) Kommentar auf edge.org: „Die Forschung zu künstlicher Intelligenz (ich meine damit nicht die schwache KI) schrei­tet mit unglaublicher Geschwindigkeit voran. Wie schnell, das ahnt man gar nicht, wenn man nicht direkt in Kontakt steht mit Gruppen wie DeepMind — das Tempo nimmt fast exponentiell zu.

Das Risiko, dass etwas ernsthaft Gefährliches passieren könnte, liegt im Rahmen der nächsten fünf Jahre.

Elon Musk

Das Risiko, dass etwas ernsthaft Gefährliches passieren könnte, liegt im Rahmen der nächsten fünf Jahre. Höchstens zehn Jahre. Das sind keine Unkenrufe zu einem Thema, von dem ich nichts verstehe. Ich bin nicht allein der Ansicht, dass es Grund zur Sorge gibt. Die führenden KI-Unternehmen haben ernsthafte Anstrengungen unternommen, die Sicherheit zu gewährleisten. Sie kennen die Gefahr, doch sie glauben, sie könnten die digitalen Superintelligenzen formen, kontrollieren und bösartige daran hindern, ins Internet zu entweichen. Das bleibt abzuwarten…“

Musk hatte schon früher davor gewarnt, „einen Dämon heraufzubeschwören“, weil KI-Systeme „möglicherweise gefährlicher als Atomwaffen“ sein könnten. In DeepMind habe er nicht investiert, um Geld zu verdienen, ließ er wissen, sondern „um im Auge zu behalten, was sich in Sachen künstliche Intelligenz tut“.

Auch Stephen Hawking warnt davor, hochintelligente Maschinen, wie wir sie aus Filmen wie Transcendence kennen, als reine Science-Fiction zu sehen: „Das wäre ein Fehler — möglicherweise unser größter Fehler in der Geschichte. Es ist denkbar, dass diese Technologie unsere Finanzmärkte austrickst, menschliche Forschung abhängt, Führungsspitzen manipuliert und Waffen entwickelt, die wir nicht einmal begreifen werden.“ Ähnliche Bedenken äußerte auch der Apple-­Mitgründer Steve Wozniak.

Jaan Tallinn versteht die Sorgen, hält sie aber für überzogen. Der Skype-Mitgründer und frühe DeepMind-Investor setzte sich dafür ein, im Zuge der Google-Übernahme einen unabhängigen Ethik-Rat einzurichten. „Der Hauptgrund, dass ich mich finanziell an DeepMind beteiligt habe, ist ein strategischer“, erklärt er. „Ich sehe mich als Bindeglied zwischen KI-Forschern und jenen, die Sicherheitsbedenken haben.“

Es ist denkbar, dass diese Technologie unsere Finanzmärkte austrickst, menschliche Forschung abhängt, Führungsspitzen manipuliert und Waffen entwickelt, die wir nicht einmal begreifen werden.

Stephen Hawking

Doch alles in allem erkennt Tallinn „eine bemerkenswerte Einigkeit bezüglich langfristiger Problematiken von künstlicher Intelligenz“. Er verweist auf einen offenen Brief des „Future of Life“-Instituts, das Elon Musk zu seinen Förderern zählt. Der Brief preist den „enormen Nutzen“, den KI bringen könnte, betont aber auch, wie wichtig es sei, die Technik robust zu machen: „Unsere KI-Systeme müssen tun, was wir ihnen sagen.“

Musk und Hawking haben den Brief ebenso unterzeichnet wie die DeepMind-Gründer. Aus der Sicht von Mustafa Suleyman sind Warnungen vor der „existenziellen Gefahr“ durch intelligente Maschinen ohnehin überzogen. „Wir arbeiten nicht an KI-Systemen, die uns gleichkommen“, sagt er. Vielmehr gehe es um Erleichterungen im Alltag: „KI wird uns zum Beispiel helfen, Fragen in natürlicher Sprache an Google zu richten.“ Künstliche Intelligenzen, die womöglich Kriegspläne schmieden könnten, lehne die Firma selbstverständlich „entschieden ab“, betont Suleyman.

„Deshalb haben wir dieses Gespräch gesucht. Die Beschränkung unserer Systeme ist von zentraler Bedeutung.“ Demis Hassabis zeigt sich gegen­über Bedenkenträgern weniger verständnisvoll. „Einige Leute, die auf ihrem Gebiet sehr schlau sind, aber nicht an KI arbeiten, verursachen eine enor­me Aufregung, die jeder Grundlage entbehrt“, ärgert er sich. „Elon neigt manchmal dazu, aus der Hüfte zu schießen. Aber hysterisch zu werden, ist sicher nicht der richtige Weg, eine produktive Debatte anzustoßen. Das endet nur in unnötiger Panikmache.“

Mir läge es fern, Stephen Hawking einen Vortrag über schwarze Löcher zu halten. Ich habe zwar Interstellar gesehen — aber des­halb kenne mich nicht genug mit Hohlraumstrahlung aus, um darüber vor der Presse hochtrabende Reden zu schwingen.

Demis Hassabin

Besteht also kein Risiko, dass KI­-Systeme eines Tages anfangen, moralisch autonom zu handeln? „Natürlich können wir das verhindern — wir bauen diese Dinger ja“, seufzt Hassabis ungeduldig. „Was wäre denn die Alternative? Ein Moratorium für jegliche Arbeit an KI?“

Der DeepMind-Chef redet sich jetzt in Rage. „Was soll ich sonst noch sagen, außer dass äußerst intelligente und umsichtige Menschen, die nichts Böses im Sinn haben, versuchen, etwas zu erschaffen, das einen un­glaub­lichen Nutzen für unsere Gesellschaft haben könnte? Und da erzählen Sie mir von Leuten, die nicht an diesen Dingen arbeiten und sie nicht wirklich verstehen. Mir läge es fern, Stephen Hawking einen Vortrag über schwarze Löcher zu halten. Ich habe zwar Interstellar gesehen — aber des­halb kenne mich noch lange nicht genug mit Hohlraumstrahlung aus, um darüber vor der Presse hochtrabende Reden zu schwingen.“

Nicht nur Hassabis hält die Debatte für fehlgeleitet. Stanford-Professor und KI-Veteran Andrew Ng, der heute die Forschungsabteilung der chinesischen Suchmaschine Baidu leitet, ­sieht in der Aufregung um künstliche „Superintelligenzen“ ein großes Miss­verständnis. „Unsere Maschinen wer­den immer intelligenter“, sagt Ng. „Das bedeutet aber nicht, dass sie auch mehr empfinden. Die meisten KI-Forscher halten es für unwahrscheinlich, dass Maschinen in naher Zukunft ein Bewusstsein entwickeln werden.“

Shane Legg aus der kleinen Stadt Rotorua in Neuseeland kam auf der Schule nicht recht mit. Noch mit neun Jahren konnte er kaum lesen und schreiben. Nur seinen VZ200-Computer verstand er gut, längst hatte er angefangen zu programmieren. Leggs besorgte Eltern schickten den Sohn zu einem Schulpsychologen. „Der atmete tief durch“, erzählt Legg, „und sagte: ,Ihr Sohn ist nicht intellektuell zurückgeblieben. In Wahrheit ist er so intelligent, dass ich seinen IQ gar nicht messen kann.‘ Da dachte ich: ,Im Ernst?‘ Ich war ja daran gewöhnt, als Dummkopf zu gelten.“

Ich war ja daran gewöhnt, als Dummkopf zu gelten.

hane Legg, Mitgründer von DeepMind

Als Legastheniker diagnostiziert, lernte der Junge, mit einer Tastatur zu schreiben, und gehörte bald zu den Bes­ten. „Ich schrieb Spielprogramme, die meine Freunde im Schach besieg­ten“, erinnert sich Legg. „Da war ich zwölf.“ Nach einem Studium der Komplexitätstheorie in Neuseeland promovierte er an der Schweizer IDSIA über die Messbarkeit von Maschinenintelligenz. Sein Interesse für Neurowissenschaften führte ihn nach London, wo er am University College Demis Hassabis kennenlernte. 2011 beschlossen sie beim Mittagessen, gemeinsam ein Unternehmen zu gründen, mit Legg als wissenschaftlichem Leiter.

„Wenn wir bei Tagungen erzählten, wie wir mit unserer kleinen Firma das Problem der KI lösen wollten, lachte man uns aus“, erinnert sich der Neuseeländer. „Aber unter zehn Wissenschaftlern fand sich immer einer, der begeistert war. Und mit jedem Spitzenforscher, der sich uns anschloss, wuchs unsere Glaubwürdigkeit.“

Heute arbeitet das Team still und beharrlich die Etappen aus Hassabis’ 20-Jahres-Plan ab. Hinter dem Bahnhof von King’s Cross sitzen die Experten an ihren Rechnern, in Räumen, die nach Alan Turing, Leonardo da Vinci und Nikola Tesla benannt sind, stellen ihre Berechnungen an und setzen Prioritäten. Legg vergleicht den Versuch, allgemeine künstliche Intelligenz serienreif zu machen, mit einem langwie­rigen, anspruchsvollen Schöpfungsakt.

„Stellen Sie es sich so vor, als würden wir versuchen, Insekten nachzubauen“, erklärt er. „Viele Jahre später gelingt uns vielleicht eine Maus.“ Niemand solle also zu viel erwarten, nur weil die DeepMind-Systeme bereits gelernt haben, perfekt Space Invaders und Breakout zu spielen. „Mit Pac-Man bekommen sie schon Schwierigkeiten“, sagt Legg. „Wir haben noch einen langen Weg vor uns, bis Sie sich eines Tages mit einem Computer über Philosophie unterhalten können.“

Hassabis stimmt seinem Geschäftspartner zu. „Wir sind noch Jahrzehnte entfernt von allem, was auch nur annähernd an menschliche Intelligenz herankommt“, sagt er. „Aber in fünf bis zehn Jahren werden wir Systeme haben, die nützliche Aufgaben erledigen. Wir befinden uns auf der untersten Sprosse einer Leiter.“ Wie lang diese Leiter ist, wie viele Sprossen sie hat — wer weiß? „Mag sein, dass wir noch zehn oder zwanzig wissenschaftliche Durchbrüche be­nötigen, bevor wir verstehen, was Intelligenz bedeutet.“

UPDATE 28.01.16: Entwickler von Google DeepMind haben mit ihrem Programm AlphaGo eine der letzten Bastionen menschlicher Überlegenheit im Brettspiel erstürmt: Die Künstliche Intelligenz hat den europäischen Go-Meister Fan Hui in fünf Spielen zu null geschlagen. Damit war die Entwicklung eines Go-Computers auf Meisterlevel ein volles Jahrzehnt schneller als erwartet. 

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