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TwentySomething / Tom Hillenbrand über Shopping mit einem Avatar-Berater

von Tom Hillenbrand
Nachdem ich in den Anzug geschlüpft bin, betrachte ich mich im Spiegel. „Die Hose ist zu kurz“, sage ich. „Übercropped. Trägt man jetzt so“, schallte mir die Stimme des Modeberaters aus dem Spiegel entgegen.

„Und sie ist sehr eng“, wende ich ein.
Der Berater schüttelt den Kopf. „Eng ist diese Saison doch genau das Thema.“
Ich mustere den Typen, der auf die Medienfolie des Spiegels projiziert wird. Mein Fashion Consultant trägt eine wuchtige Hornbrille, seine tiefschwarzen Haare sind zu einem Betonscheitel geformt. Vermutlich ist er irgendein legendärer Modezar. Aber was heißt das schon. Sollte ich dem Urteil eines Mannes vertrauen, der die gleiche Frisur hat wie Fred Feuerstein?
„Und das Jackett?“, frage ich.
„Ich würde eine Nummer größer nehmen.“
„Ich habe aber 48. Immer schon“, sage ich.
Der Avatar lächelt. „Ihr Scan liegt uns ja vor, Monsieur Leclerq.“
„Und? Sag es mir.“

Die Software der meisten Bekleidungsgeschäfte ist unehrlich. Sie retuschiert den Kunden, damit er nicht sieht, was für eine fette Kröte er ist.


„Seit dem letzten Besuch haben Sie dreieinhalb Kilo zugenommen. Ihre Schultern sind breiter geworden. Und Ihr Gesäß ist etwas kräftiger.“
Kommt wohl von dem Musclestim-Tai-Chi, das ich seit einiger Zeit mache. Oder vielleicht von den vielen Pommes? Auf jeden Fall war es gut, persönlich herzukommen. Man kann diese Anprobe natürlich auch virtuell von zu Hause aus machen. Aber die Software der meisten Bekleidungsgeschäfte ist unehrlich. Sie retuschiert den Kunden, damit er nicht sieht, was für eine fette Kröte er ist. Spiegel hingegen lügen nicht.
„Ich weiß nicht“, murmele ich, „irgendwie falsche Richtung.“
„Mal ein anderes Modell probieren?“
„Ja“, antworte ich, „was Schwarzes. Schlanker Schnitt. Hast du Red Circle gesehen? Den Anzug von Joao Guzman fand ich toll.“
„Einen Moment.“ Der Berater nickt. „Ja, jetzt habe ich ihn auch gesehen.“


Der Berater verschwindet aus dem Bild, kommt kurz darauf mit einem Anzug zurück und schnippt mit den Fingern. Eine Lampe neben der Kabine leuchtet auf. Als ich in die Umkleide trete, baumelt der Anzug bereits auf einer Transportschiene. Ich schlüpfe hinein und stelle mich wieder vor den Spiegel.
„Was meinst du, äh …?“
„Nennen Sie mich Yves“, sagt der Berater und richtet seine Hornbrille. „Er steht Ihnen. Sehr männlich, mit einer Menge calor.“
„Sie sind ein Schmeichler, Yves.“
„Aber nein! Die Girls lieben Ihr Outfit.“
Yves macht eine Handbewegung. Hinter ihm erscheinen irgendwelche Charts.
„Was ist das?“, frage ich.
„Blitzumfrage. Wir haben Ihre Silhouette vor 45 Sekunden ins Netz gestellt. 327 Frauen haben Sie bereits bewertet, 75 Prozent positiv. Häufige Tags: sexy, calor, London.“
„Wieso London?“
„Moment, ich mache einen Drilldown … Wegen Red Circle. Guzmans Film spielt größtenteils dort. Deshalb die Assoziation.“
„Okay, ich nehme den Anzug. Können Sie noch mehr rausholen?“
Yves nickt. „Wenn Sie statt Konfektion die maßgescannte Version nehmen, stiege die Zustimmung auf 82 Prozent.“
„Okay, dann maßgescannt.“
Yves lächelt zufrieden. „Gerne. Wohin darf ich liefern lassen?“
Ich nenne ihm meine Büroadresse. Dann ziehe ich mich um.


„Yves?“, rufe ich aus der Kabine.
„Monsieur? Brauchen Sie noch Hemden?“
„Nein. Ich habe eine andere Frage.“
„Bitte.“
„Deine Brille ist sehr cool. Was ist das für ein Modell, und wo kriegt man es?“
„Eine Ray-Ban, Mitte des vergangenen Jahrhunderts. Leider nicht mehr erhältlich.“
„Dann muss ich sie mir drucken lassen.“
„Davon würde ich abraten, Monsieur.“
„Wieso?“
„Mit dieser Brille sänke Ihre Ausstrahlung um 17 Prozentpunkte. Blitzumfrage.“
Dann lieber nicht. Sonst war das mit dem neuen Anzug ja komplett für die Katz.

Tom Hillenbrand ist Schriftsteller, sein Buch „Drohnenland“ spielt in einem hoch technologisierten Europa der nicht allzu fernen Zukunft. In dieser Zeit lebt auch PR-Profi Dae-Jung Leclerq, der seine Alltagserlebnisse hier regelmäßig schildert. In seiner letzten Kolumne schrieb er über kleine „Putzkäfer“.

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