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Kosmos-Kolumne / Hakan Tanriverdi über die Sharing Economy des Mobbings

von Hakan Tanriverdi
Auch das ist Sharing Economy: Wir teilen Videos, mit denen Menschen verhöhnt werden. Eine Moralfrage.

Es ist so einfach, zu lachen. Da ist ein junger Mann in der U-Bahn, er fährt durch London. Kopfhörer in den Ohren, eine Smartphone-Kamera ist auf ihn gerichtet, aber das weiß er natürlich nicht. Man hört den jungen Mann acappella einen Song von Rihanna singen, er macht das nicht besonders gut. Das Video dauert nur 51 Sekunden, ist natürlich irre skurril und hat zwei Millionen Klicks. Selbst schuld, könnte man sagen. Öffentlicher Raum, eine blöde Aktion, das ist Internet-Gold. Weiß man doch.

Wir ignorieren die Privatsphäre von Menschen — solange wir dabei lachen und Chips fressen können.

Der Junge heißt Alika Agidi-Jeffs. Seine Geschichte führt uns vor, wie sehr wir heute die Privatsphäre von Menschen ignorieren — solange wir dabei lachen und Chips fressen können. Netiquette hin oder her, die Standards für einen menschlichen Umgang miteinander sind in Zeiten eines kommerzialisierten Netzes immer noch äußerst unklar und durchlässig. Das Alika-Video ist ein Teil der Netzkultur, der zwar seit vielen Jahren existiert, aber trotzdem noch keinen Namen hat. Es ist eine ganz bestimmte Sorte Bild, die hier produziert wird: Menschen werden erniedrigt, zum Beispiel in Gone-wrong- und Prank-Videos, zu sehen vor allem auf Youtube und auf Vine.

Genau das ist es auch, was diese Videos und das dahinter liegende Geschäftsmodell so schäbig macht. Das einzige Ziel bestimmter Clipfilmer und Kanalbetreiber ist es, Menschen in Ausnahmesituationen zu drängen und vorzuführen — in Prank-Videos, in denen beispielsweise ein Schauspieler mit blutbespritzter Schürze und Kettensäge vortäuscht, ein Opfer zu zerteilen (36 Millionen Klicks) oder ein Clown mit Riesenhammer einen imitierten Menschenkopf zertrümmert (34 Millionen Klicks). Die Bizarrversion der in den 70er- und 80er-Jahren beliebten „Versteckten Kamera“ — nur dass der damalige Moderator Kurt Felix den Passanten, deren Reaktion man testete, hinterher nicht mit dem Hämmerchen hinterherlief.

Wir müssen selbst die Barriere sein können und nicht mehr darauf vertrauen, dass andere für uns entscheiden, was okay ist und was nicht.

Das Alika-Video funktioniert ähnlich. Den Typen ignorieren wir, seine Geschichte ebenfalls. Dass kurz zuvor ein Familienmitglied gestorben war und seine Fünf-Jahres-Beziehung eben in die Brüche gegangen ist, woher soll man das auch wissen? Interessiert es das Publikum? Alikas Depression und Suizidgedanken sieht man ihm ja auch nicht an. Man sieht nur ihn, hört seinen missglückten Gesang. Und beides kann man teilen.

Es sind Sekundenentscheidungen: aufnehmen, verschicken, lachen. Doch wir teilen den Moment eben nicht mehr nur mit Freunden: Wenn die Daten für immer (oder zumindest für sehr lange) im Netz bleiben, hört die Erniedrigung niemals auf. Der Mann, der das Video hochgeladen hat, auf dem zu sehen ist, wie die Attentäter von Paris einen Polizisten erschießen, hat inzwischen mitgeteilt, er bereue den Upload.

Wir sind an einem Punkt, an dem wir selbst die Barriere sein müssen und nicht mehr darauf vertrauen können, dass andere für uns entscheiden, was okay ist und was nicht. Es gibt keinen Filter mehr, keinen der viel zitierten Programmdirektoren: Man muss wissen, was man schaut.

Im Zweifel belohnt das Internet eher den Exzess als die Reflexion. Es ist eine Sharing Economy im eigentlichen Wortsinn: Das Geld wird in dem Moment verdient, in dem Videos geteilt werden. Jeder Klick ist ein Werbedurchlauf, ein potenzieller Abonnent mehr. Die Demütigung wächst mit der Klickzahl. Die Zuschauer unterscheiden nicht zwischen Fiktion und Realität, sondern zwischen Entertainment und Langeweile.

Das muss nicht so sein. Zwei schwule Models zeigen es uns: Die Zwillinge haben selbst gefilmt, wie sie ihren Vater anrufen und sich vor laufender Kamera outen. Sie weinen dabei. Sie nehmen diesen sehr persönlichen Moment und teilen ihn mit der Welt. Das Problem des Outings, der gesellschaftliche Druck, all das wird im Video sichtbar — und die Menschen, die auftreten, sind zentral. Man ist dankbar, den Moment mitzuerleben.

HAKAN TANRIVERDI arbeitet als freier Journalist unter anderem für das Digital-Ressort von Sueddeutsche.de, er twittert unter @hakantee. Für WIRED Germany schreibt er regelmäßig über Netz- und Technologie-Themen.

In der letzten Folge der Kosmos-Kolumne, stellte Hakan Tanriverdi fest, dass viele Menschen Angst vor Google haben — völlig zu Unrecht. 

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