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Warum Autisten ihre Gefühle lieber digital kommunizieren

von Haluka Maier-Borst
Digitale Kommunikation soll unpersönlich sein? Für Autisten ist sie oft der einzige Weg, Gefühle zu äußern.

Ich stehe vor Marlies, doch sie schaut an mir vorbei. Strecke meine Hand zur Begrüßung aus, sie zieht ihre zurück. Hätte ich nicht ihren Twitter-Account gelesen, ihren Blog und die Mails, die wir uns schrieben, dann wüsste ich nicht, was hier gerade Sonderbares geschieht. Wäre das unser erstes Gespräch überhaupt und nicht bloß das erste Treffen in der analogen Welt, in diesem Fall einem Stuttgarter Café — die Stimmung wäre jetzt eisig.

Aber wir beide wissen: Hier treffen Welten aufeinander. Marlies — 29 Jahre alt, blond, groß, schmales Gesicht — ist Autistin. Eine von allein in Deutschland etwa 800.000 Personen, die gemäß medizinischer Definition diese Entwicklungsstörung haben. Und ich bin für sie eines dieser „bunten, lärmenden Wusel­­wesen“, wie sie selbst die Mitmenschen nennt, durch deren Alltag sie sich täglich kämpfen muss. Für Marlies ist das eine Qual: Sie kann Reize nicht filtern, oft auch nicht deuten. Jedes Geräusch, jedes Bild, jede Berührung knallt mit Wucht in ihre Wahrnehmung hinein. Gespräche am Nachbartisch klingen wie zerdepperndes Geschirr, ein Blick des Gegenübers wirkt bohrend. Ein Spaziergang durch die Fußgängerzone? „Ich weiß nicht, ob man das so sagen darf“, meint Marlies zögernd, „aber es fühlt sich an wie Krieg.“

Es scheinen die Reaktionen auf diese Reizüberforderung zu sein, die Autisten auf andere so wirken lassen, wie sie es tun: kalt, gefühllos, ohne Anteilnahme. Gefühle, die so stark sind, dass sie die Betroffenen paralysieren. Und paradoxerweise könnte gerade deshalb der oft beklagte Umstand, dass sich immer mehr Kommunikation ins Digitale verschiebt, ein Glücksfall sein — für die Verständigung zwischen Autisten und Nicht-Autisten.

Eine neue Studie der zwei holländischen Universitäten Tilburg und Leiden deutet nämlich darauf hin, dass Autisten viele Aspekte der Online-Kommunikation stärker als Vorteil wahrnehmen als Menschen ohne Autismus. Die Erklärung: Das Netz ersetzt gewissermaßen den Reizfilter, der Autisten fehlt und es ihnen schwer macht, sich bei einem Gespräch im lauten Café zu konzentrieren. In Chats können sie frei über Zeit und Raum bestimmen. Auf Facebook und Twitter müssen sie nicht in Sekundenbruchteilen entscheiden, wie ein Satz gemeint ist. Und vor dem Laptop können sie von der heimischen Komfortzone aus die Welt erkunden.

Online prasselt kein diffuser Mix aus Subtext, Gestik und Mimik auf sie ein. Ein Smiley reicht, und es ist klar, dass Ironie im Spiel ist.

Natürlich finden auch Menschen ohne Syndrom all diese Punkte oft besonders angenehm, um zwanglose Gespräche zu führen. Für Autisten jedoch können es die Faktoren sein, die Kommunikation überhaupt erst ermöglichen. Hinzu kommt, dass auf digitalen Plattformen vergleichsweise klare Regeln gelten. Hier prasselt kein diffuser Mix aus Subtext, Gestik und Mimik auf Autisten ein. Ein Smiley reicht aus, und jeder versteht, dass Ironie im Spiel ist. Auch bei emotionalen und schwierigen Themen fällt es Autisten leichter, digital die richtigen Worte zu finden. 67 Prozent der Befragten hatten der Studie zufolge im Netz sogar neue Bekannte kennengelernt, die sie sonst eher nicht getroffen hätten — bei den Nicht-Autisten waren es nur 42 Prozent.

Auch Marlies verbringt fast den ganzen Tag online, wenn sie nicht arbeiten muss (ihren Job will sie lieber nicht verraten). Schreibt man ihr, bekommt man binnen Minuten eine Antwort — kurz, knapp, präzise. Ihren Gefühlen lässt sie nicht im langen Gespräch freien Lauf, sondern lieber mit 140 Zeichen auf Twitter. Hier fühlt sie sich von den fast 3500 Followern ihres Accounts @outerspace_girl verstanden.

Die digitale Welt kann für manche Autisten sogar ein Karrieresprungbrett sein. Es ist fast schon ein Klischee: In Tech Hubs wie dem Silicon Valley sammeln sich erstaunlich viele Entwickler mit Asperger-Syndrom, denn Computer sind berechenbar, Codes logisch — und für begabte Autisten leichter nachvollziehbar als menschliches Verhalten. Das Valley sei voller „glücklicher Aspies“, schreibt die autistische Wissenschaftlerin Temple Grandin in ihrem Buch „The Autistic Brain“. Als erster Tech-Konzern ermöglichte Microsoft autistischen Kindern von Mitarbeitern teure Verhaltenstherapien und engagierte sich in der Autismusforschung — andere Giganten wie Apple, Intel oder Cisco Systems zogen nach.

Natürlich ist nicht jeder Autist ein IT-Genie: Nur schätzungsweise 10 bis 15 Prozent seien IT-affin genug, um in der Softwarebranche zu arbeiten, sagt Elke Seng. Sie arbeitet als Job-Coach für Auticon, das erste Unternehmen in Deutschland, das ausschließlich Autisten als IT-Berater beschäftigt. „Unsere Mitarbeiter sind beim Lösen komplexer IT-Aufgaben genial“, sagt Seng. „Wenn sie aber einen Schlüssel abholen sollen oder mit den Kollegen sprechen müssen, dann scheitern sie oft daran ohne unsere Hilfe.“

Ähnlich erging es dem 48-jährigen Programmierer Peter Schmidt, der jahrelang nicht wusste, dass er Autist ist. In seinem Buch „Kein Anschluss unter diesem Kol­legen“ beschreibt er, wie es wegen seiner Eigenarten am Arbeitsplatz immer wieder Streit gab. Nur dass er Aufgaben schneller lösen konnte, rettete ihn damals: „Ich habe einfach so viel weggeschafft wie drei andere zusammen. Da konnte man mich nicht rausschmeißen.“ Erst als die Diagnose kam, war das Rätsel um sein Verhalten gelöst.

Autisten, die in anderen Branchen als der IT arbeiten, erleben dagegen jeden Tag als Spießrutenlauf. Sie ecken an und sind überfordert. Viele von ihnen kündigen immer wieder oder werden gefeuert, hangeln sich von einem Job zum nächs­ten. Mehr als 75 Prozent sind arbeitslos. Auch Marlies hat eine Odyssee hinter sich, mit verschiedenen Jobs als Servicekraft. Wo sie überall gearbeitet hat, möchte sie nicht sagen: „Ich versuche, es zu verdrängen, weil das für mich eine einzige Geschichte des Scheiterns ist.“ Ironischerweise seien Autisten ja eigentlich perfekte Arbeitnehmer — ruhig, genügsam, gewissenhaft. „Aber man definiert uns nur über das, was wir nicht können: gute Kollegen sein und begeistert an sozialen Aktivitäten teilnehmen.“

Die Autoren der holländischen Studie vermuten, dass Autisten auch deshalb unzufriedener mit ihrem Leben sind als Nicht-Autisten. Es gibt jedoch einen Bereich, in dem digitale und analoge Welt für Autisten perfekt ineinandergreifen: die Liebe. Für viele von uns mag ein WhatsApp-Flirt nur halb so spannend sein wie einer an der Bar. Das Ende einer Beziehung fühlt sich grausam an, wenn eine SMS es besiegelt. Fernbeziehungen scheitern, digitale Beziehungen gelten vielen als Inbegriff des Profanen — Marlies sieht das alles anders.

Ohne Messenger hätte sie beispielsweise ihre letzte Beziehung mit einem Nicht-Autisten gar nicht führen können. „Ich konnte ihm schriftlich mitteilen, dass ich ihn in Gedanken umarme und küsse, und er wusste, was ich damit ausdrücken wollte“, sagt sie. „Wäre er bei mir gewesen und hätte mich in den Arm nehmen wollen, hätte ich abweisend reagiert und ihn vielleicht verletzt.“ Der Exfreund einer befreundeten Autistin machte sogar bewusst per Messenger Schluss mit ihr — während er direkt neben ihr im Raum stand. Das sei für sie besser gewesen: So konnte sie den Schmerz dosiert an sich heranlassen. Vielleicht ermöglichen Dating-Apps also nicht nur beliebige One-Night-Stands, sondern Romanzen zwischen Autisten und Nicht-Autisten, die zuvor seltener waren.

Marlies ist auf Tinder unterwegs und schreibt in ihrem Profil, dass sie Autistin ist. Nicht auszuschließen, dass sie dort den Partner findet, an den sie sich auch dann halten kann, wenn die Welt mal wieder wie ein Blitzgewitter über sie hereinbricht. Den sie draußen im Lärm vielleicht nicht finden wird. 

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