Hinweis zu Affiliate-Links: Alle Produkte werden von der Redaktion unabhängig ausgewählt. Im Falle eines Kaufs des Produkts nach Klick auf den Link erhalten wir ggf. eine Provision.

Slon.ru Chefredakteur Maxim Kashulinsky trotzt der russischen Medienzensur

von Dimitrij Kapitelman
Rebellion für die Wahrheit: Maxim Kashulinsky ist Chefredakteur der kritischen Nachrichtenseite slon.ru in Russland. Doch wie gelingt Medien-Startups der Balanceakt mit der Zensur?

Journalismus als Russisches Roulette: Der Journalist Maxim Kashulinsky hat erlebt, wie gefährlich es ist, gegen die Mächtigen anzuschreiben. Nachdem er sieben Jahre als Chefredakteur für Forbes Russland gearbeitet hatte, leitet er nun das unabhängige Nachrichtenportal slon.ru. Mit diesem möchte er eine Alternative zu Russlands Staatsmedien aufbauen. Bei seinem Besuch in der WIRED-Redaktion in Berlin erzählte er, warum das Internet kein Wundermittel gegen Zensur ist, was bei einer staatlichen Verwarnung passiert und warum manche russischen Reporter manchmal sogar Kollegen in Weißrussland beneiden.

WIRED: Wie kann sich eine kritische Nachrichtenseite in Russland behaupten?
Maxim Kashulinsky: Eine Nachrichtenseite zu gründen, ist leicht. Aber das Projekt dann auch am Leben zu halten, also es zu refinanzieren, das ist in Russland sehr schwierig. Der Anzeigenmarkt schrumpft, und das Investmentklima ist äußerst schlecht — besonders, wenn man ein kritisches Portal ist.

WIRED: Warum werden zurzeit trotzdem noch so viele Medien-Startups gegründet?
Maxim Kashulinsky: Fernsehen und Print kontrolliert der Staat. Also versuchen viele Leute, etwas Alternatives aufzubauen. Alles hängt letztlich vom Enthusiasmus der Betreiber ab — und von der Größe des Startups. In Russland ist es eher von Vorteil, ein kleines Nischenprodukt zu sein und unter dem staatlichen Radar zu bleiben.

Das Internet ist inzwischen wie Luft einfach überall. Aber hilft Luft uns deshalb gegen Putins Machtapparat?

WIRED: Aber um eine Alternative zu den Massenmedien zu etablieren, muss aus Nische doch irgendwann Mainstream werden.
Kashulinsky: Das kommt darauf an. Es gibt viele traurige Geschichten über dichtgemachte russische Medien, kritische Plattformen, die ausgeschaltet wurden, sobald sie eine gewisse Relevanz und Größe entwickelten — wie lenta.ru. Bis zum Frühjahr 2014 erreichte diese Seite immer mehr Aufmerksamkeit und Leser, einfach durch sehr gute, investigative Arbeit. Dann kam die Ukraine-Krise, und der politische Druck auf den Besitzer wuchs. Dieser verdient sein Geld nicht hauptsächlich mit Medien, sondern in anderen Geschäftsfeldern. Also beugte er sich — was paradoxerweise dazu führte, dass die Chefredakteurin wegen zu exzellenter Arbeit entlassen wurde.

WIRED: Ist die Reichweite von slon.ru schon groß genug, um ein Risiko zu sein?
Kashulinsky: Unsere Seite wird monatlich von 3,5 Millionen Usern aufgerufen. In einem Land wie Russland ist das eigentlich nicht besonders viel, aber genug, um ins Fadenkreuz der Politik zu geraten. Hierzulande gibt es Gesetze, die es sehr leicht machen, Medien zu verbieten. Der Prozess läuft in zwei Schritten ab: Zuerst gibt es eine Mahnung von den Behörden. Bei der zweiten Mahnung wird man dann auch schon geschlossen.

WIRED: Was passiert bei der ersten Verwarnung?
Kashulinsky: Es gibt keine Geldstrafe. Aber man muss seine gesamte Arbeitsweise überdenken und sehr vorsichtig sein. Denn die nächste Mahnung bedeutet das Ende. Wir haben bereits die erste Mahnung erhalten.

WIRED: Wofür genau?
Kashulinsky: Das war eine wirklich sehr dumme Angelegenheit. Als im Osten der Ukraine Diskussionen über Autonomiegebiete losbrachen, verlangte Moskau, dass die Kiewer Regierung umgehend föderalisiert. Ein russischer Künstler kündigte daraufhin an, eine Demonstration zur Föderalisierung Sibiriens zu organisieren, und berief sich dabei auf die russische Verfassung. Es war offensichtlich, dass der Mann den Kreml nur provozieren will. Wir haben ihn jedenfalls interviewt.

WIRED: Und dann?
Kashulinsky: Die angekündigte Demonstration hat nie stattgefunden. Trotzdem bekamen wir für das Interview die erste Mahnung. Seit August sind wir im Fadenkreuz der Behörden — Themen wie Autonomie und Separatismus sind derzeit in Russland heikel.

Das Leben in Russland ist nicht einfach. Keiner kennt die Regeln wirklich. Weil es keine gibt.

WIRED: Slon.ru setzt auf investigative Berichte, aber ist gleichzeitig immer nur einen Schritt vom Verbot entfernt. Wie können Sie so weiterarbeiten?
Kashulinsky: Es ist verstörend. Man muss jede Kleinigkeit zweimal abwägen — und das ist nur der journalistische Aspekt. Manche Werbekunden wollen plötzlich nicht mehr ihre Banner auf unserer Seite sehen. Nicht nur Staatsunternehmen, auch einige private, sogar ausländische Firmen distanzieren sich von uns. Wir seien „zu politisch“. Das Verrückte ist: Wenn man in diesem Umfeld lebt und arbeitet, beginnt man zu glauben, dass alles normal sei. Dass es nachvollziehbar ist, wenn eine Automarke ihr neues Modell nicht neben einer bissigen Geschichte über Putin platzieren will. Dann wacht man plötzlich auf und begreift: „Das ist doch verrückt!“

WIRED: Slon.ru hat weiterhin sehr kritische Beiträge publiziert: interne E-Mails der Regierung, die beweisen, dass die Annexion der Krim von langer Hand geplant war, oder ein Interview mit dem damals frisch aus dem Gefängnis entlassenen, inzwischen zu einer Bewährungsstrafe verurteilten Oppositionellen Alexej Nawalny. Und dann werden Sie für Gespräche mit Aktionskünstlern belangt?
Kashulinsky: Ja. Diese Paradoxie ist Teil des Problems. Das Leben in Russland ist nicht einfach. Keiner kennt die Regeln wirklich. Weil es keine gibt. Man kann nur raten.

WIRED: Keine Regeln?
Kashulinsky: Manchmal glaube ich, dass unser Land von einem einzigen Mann gesteuert wird. Von seiner Tageslaune hängt dann ab, wer wofür und wie bestraft wird. Es gibt russische Journalisten, die ihre Kollegen in Weißrussland beneiden — weil sie bei Lukaschenko wenigstens wissen, was man schreiben darf und was nicht.

WIRED: Wie sehr hilft das Internet, die Zensur zu umgehen?
Kashulinsky: Ich weiß nicht, inwiefern Technologie und Internet uns wirklich helfen. Natürlich ermöglichen Social-Media-Kanäle, Content schneller zu verbreiten. Als Printredaktion wären wir viel leichter angreifbar. Aber technische Geräte sind dermaßen allgegenwärtig und zugänglich geworden, dass sie eigentlich gar kein Faktor mehr sind. Das Internet ist inzwischen wie Luft — einfach überall. Aber hilft Luft uns deshalb gegen Putins Machtapparat?

Das Internet ist immer noch eine Quelle der Freiheit. Aber die Mehrheit der Menschen denkt nicht an Freiheit.

WIRED: Wurde das Internet also als Befreiungsinstrument neutralisiert, weil autoritäre Regime es ebenso für ihre Zwecke nutzen?
Kashulinsky: Das Internet ist immer noch eine Quelle der Freiheit. Aber die Mehrheit der Menschen denkt nicht an Freiheit, zumindest nicht in Russland. Faktisch korrekte Informationen, richtiger Journalismus — dafür gibt es keine größere Nachfrage.

WIRED: Es gibt keine Nachfrage nach Wahrheit in Russland?
Kashulinsky: Wenn man nicht weiß, dass das, was man hört und liest, gelogen ist, verlangt man nichts anderes. Außerdem sind die Erklärungen, die Russlands Staatsmedien bieten, unglaublich bequem. Wer ist schuld am Wertverfall des Rubels? Die Amerikaner und die Europäer mit ihren Sanktionen. Weshalb werden die Nahrungsmittel immer teurer? Wegen der Amerikaner, die sich vor einem großen und wiedererstarkten Russland fürchten. Es ist sehr schwierig, mit diesen „Begründungen“ zu konkurrieren.

WIRED: Sie haben gesagt, dass im Internet und in Zeitungen längst genug Enthüllungen über Putins Regime kursieren, die die Gesellschaft gegen die Regierung aufbringen könnten. Aber für eine politische Mobilisierung müssten diese Informationen auch im Fernsehen gezeigt werden. Wie könnte das gelingen?
Kashulinsky: Überhaupt nicht. Das Fernsehen wird drakonisch vom Kreml kontrolliert. Russisches Staatsfernsehen ist vergiftet — ich halte keine Minute davon aus. Es ist so aggressiv, so verlogen. Aber das Prinzip funktioniert. Wenn man sich mit Menschen über Politik unterhält, die nur Staatsfernsehen nutzen, merkt man, dass sie argumentativ auf einem anderen Planeten leben.

WIRED: Sie waren Chefredakteur der russischen Ausgabe von Forbes. Weshalb sind Sie zu einem kleinen, vergleichsweise unbedeutenden Internetunternehmen gewechselt?
Kashulinsky: Nach sieben Jahren als Chefredakteur eines Wirtschaftsmagazins hatte ich das Gefühl, dass ich Monat um Monat das Gleiche tue. Und ich wollte unbedingt online arbeiten, um mit den neuen digitalen Möglichkeiten zu experimentieren. Außerdem gehört Forbes zu Axel Springer — zentrale Entscheidungen müssen mit Berlin abgesprochen werden. Die Arbeit für Slon fühlte sich plötzlich wie die reinste Freiheit an.

WIRED: Reinste Freiheit im Fadenkreuz des Kremls?
Kashulinsky: Ja, sozusagen.

WIRED: Gibt es einen Austausch mit anderen russischen Startups?
Kashulinsky: Den gibt es natürlich. Aber grundsätzlich besteht das Problem, dass immer mehr junge Unternehmer aus der Tech-Industrie Russland verlassen. Die Lage ist zu deprimierend. Das Klima für Investoren verschlechtert sich immer weiter.

WIRED: Sie waren bei slon.ru erst für Finanzen und Publishing verantwortlich, jetzt sind Sie Chefredakteur. Arbeiten Sie gerne wieder journalistisch?
Kashulinsky: Das versuche ich mir zumindest einzureden. So eine Umstellung ändert das eigene Leben gewaltig. Als ich noch auf der Managementseite arbeitete, bevorzugte ich weniger politische Konfrontation bei Slon. Als Journalist neige ich wieder dazu, Risiken einzugehen.

WIRED: Haben Sie Angst, dass Ihr Eigentümer die Seite wie bei lenta.ru irgendwann schließt, weil sie nicht profitabel genug ist?
Kashulinsky: Glücklicherweise droht uns dieses Szenario nicht. Unser Investor Alexander Winokurow, ein ehemaliger Banker, will das Projekt mit uns durchziehen. Im Gegensatz zum Eigentümer von lenta.ru sind Medien jetzt sein Hauptbusiness, auch wenn dieses Feld momentan nicht profitabel ist. Die Zukunft von Slon ist dennoch sehr ungewiss. Vielleicht müssen wir dieses Jahr alles ändern, um zu überleben.

Update: In einer früheren Version dieses Artikels stand, der russische Oppositionelle Alexej Nawalny sei aus dem Gefängnis entlassen worden, jedoch inzwischen wieder inhaftiert worden. Das ist nicht der Fall, die entsprechende Stelle wurde korrigiert. 

GQ Empfiehlt