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Diese Frau kann sich an nichts Vergangenes erinnern

von Erika Hayasaki
Die seltsame Geschichte einer Frau, die sich nicht an ihre Vergangenheit erinnert – und sich ihre Zukunft nicht vorstellen kann. Wir haben die Story über Susie McKinnon aus unserem aktuellen Heft für euch freigeschaltet.

Dieser Artikel erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe des WIRED Magazins im April 2016. Wenn ihr die Ersten sein wollt, die einen WIRED-Artikel lesen, bevor er online geht: Hier könnt ihr das Magazin testen.

Wie viele andere amerikanische Ehepaare, die es zu bescheidenem Wohlstand gebracht haben, entwickelten Susie McKinnon und ihr Gatte Eric Green irgendwann eine Begeisterung für Kreuzfahrten. Ihr Einfamilienhaus in einem ruhigen Vorort von Olympia im Bundesstaat Washington ist heute voll mit Mitbringseln dieser Reisen.

Im Badezimmer zum Beispiel gibt es eine Plastikechse, auf der „Cayman Islands“ steht, und im Flur hängt eine gerahmte Collage aus Wachstüchern, die das Paar aus Curaçao mitgebracht hat. Sieht man McKinnon und Green in ihrem Wohnzimmer sitzen und hört sie von ihren Reisen nach Jamaika, Aruba, Cozumel und Mazatlán erzählen, wirken sie wie zutiefst zufriedene Menschen kurz vor der Pensionierung. Da ist nur eine Sache. Eine große.

McKinnon kann sich an keine der Kreuzfahrten erinnern. Sie weiß nicht, wo sie die Plastikechse gekauft haben könnte oder die Col­lage. Sie hat an überhaupt keinen Urlaub, den sie in ihrem Leben je gemacht hat, eine Erinnerung. Und auch an keinen Moment ihrer Ehe mit Green oder irgendwas davor.

Nein, das hier ist nicht eine dieser Geschichten über beginnende Demenz, wie sich dadurch eine Liebe auflöst und jemand schließlich sein Selbst verliert. Susie McKinnon hat nichts verloren. Sie konnte sich ihr ganzes Leben schon nicht an Vergangenes erinnern.

Jahrzehntelang haben Wissenschaftler vermutet, ein Mensch wie McKinnon müsse existieren. Jemand, der auf den ersten Blick ein ganz normales Leben führt, nicht auffiele in einer Menge und doch fundamental anders wäre als die anderen Leute. Im Jahr 2006 haben sie diesen Jemand gefunden oder, besser gesagt: McKinnon hat sie, die Wissenschaftler, gefunden.

Susie McKinnon ist der erste Mensch, bei dem ein Zustand namens Severely Deficient Autobiographical Memory festgestellt wurde. McKinnon weiß um viele Begebenheiten ihres Lebens, doch ihr fehlt die Fähigkeit dazu, diese im Geist noch einmal durchzugehen – sie kann nicht wie wir anderen in der Rückschau durch Erinnerungen schlendern. McKinnon besitzt kein episodisches Gedächtnis. Sie kann vor ihrem geistigen Auge nicht Szenen aus der Vergangenheit noch mal laufen lassen, die sich für uns anderen wie welche aus einem Film anfühlen, der stets aus unserer eigenen Perspektive gedreht wurde. Wenn man sich die menschliche Erinnerung wie ein Lieblingsbuch vorstellt, in dessen Seiten wir immer wieder blättern können, dann ist McKinnon lediglich in der Lage, das Inhaltsverzeichnis des Buches aufzuschlagen. Oder den Wikipedia-Eintrag dazu aufzurufen.

„Ich kenne Teile dessen, was geschehen ist“, sagt McKinnon über ihre Kindheit. Doch nichts davon ist eine lebhafte, persönliche Erinnerung. „Ich weiß nicht mehr, wie es war, jünger zu sein und kleiner. Ich habe keine bildhafte Vorstellung von mir als Kind.“ Die Art und Weise, wie McKinnon ihr Dasein erlebt, widerspricht vielen Annahmen darüber, was man lange für das Essenzielle des Menschseins hielt.

Obwohl McKinnon nicht weiß, was ihren Chrakter geformt hat, weiß sie, was für ein Mensch sie ist

Der Philosoph John Locke ging zum Beispiel im 17. Jahrhundert davon aus, dass das Gedächtnis die persönliche Identität eines Menschen bestimmt. McKinnon aber weiß von keinen wesentlichen Erinnerungen, die sie hätte. Und doch besitzt sie zweifellos eine Persönlichkeit: Susie McKinnon ist eine weltoffene weiße Frau, die einen schwarzen Mann geheiratet hat, obwohl ihr konservativer Vater strikt dagegen war; sie ist eine Katholikin, die sich irgendwann entschieden hat, nicht religiös zu sein; sie ist schüchtern, sensibel, gefühlsbetont, neugierig, witzig. Sie hat einen Job, sie arbeitet als Rentenexpertin in einer Behörde des Bundesstaates Washington. Sie hat Überzeugungen, Meinungen, Hobbys, einen Freundeskreis. 

Obwohl McKinnon keine der Erfahrungen bewusst ist, die ihren Charakter, ihre Persönlichkeit geformt haben könnten, weiß sie sehr wohl, wer und was für ein Mensch sie ist. Was die Frage aufwirft: Ist die Erinnerung, das Gedächtnis, dieser vorgeblich so integrale Bestandteil unserer Existenz, womöglich am Ende verzichtbar?

Musik kann Erinnerungen auf starke Weise triggern. Bei Mc­Kinnons Mann tun das besonders alte Motown-Songs der Temptations und Miracles. Hört er sich diese heute an, fühlt er sich zurückversetzt in die Zeit, als er ein junger Mann war und nachts durch Chicago zog. Die Musik von Motown erinnert ihn an die Nächte, in denen er mit seinem Cousin in Clubs ging, um etwa Marvin Gaye live zu sehen. Die Läden waren stets übervoll, immer war es heiß drinnen, und es roch nach Popcorn. Die Männer trugen Zehn-Dollar-Synthetikhemden, die Frauen knöchellange Kleider.

Green lächelt, als er all die Details beschreibt und sich selbst noch mal als den Menschen betrachtet, der er vor Jahrzehnten einmal war. McKinnon und Green lernten sich später als Kollegen in einem Krankenhaus in Illinois kennen und lieben. „Sie war ein freundlicher Mensch und, nun ja, sehr sexy“, sagt Green über die erste Begegnung mit seiner Frau. Doch die sagt: „Das kann ich kaum glauben.“

Unsere Fähigkeit, der Ich-Erzähler unserer Erinnerungen zu sein, ist Teil dessen, was Psychologen das autonoetische Bewusstsein nennen. Früher glaubte man, unser Langzeitgedächtnis produziere nur auf eine Weise Erinnerungen. Bis der kanadische Psychologe Endel Tulving, der auf dem Gebiet der kognitiven Neurowissenschaft forscht, im Jahr 1972 das heute allgemein anerkannte Konzept vorstellte, dass Erinnerungen in verschiedenen Formen existieren: als semantische und episodische.

Es könnte nicht nur sein, dass sie anders ist als wir – es könnte auch sein, dass sie Glück gehabt hat

Demnach ermöglicht das semantische Gedächtnis, dass wir uns daran erinnern, wie zum Beispiel das Wort „autonoetisch“ buchstabiert wird. Noch in ein paar Jahren werden Sie als Leser dieses Textes hier womöglich wissen, wie das Wort geschrieben wird, aber vielleicht nicht, wo und wann Sie es zum ers­ten Mal gelesen und erfahren haben, was genau es bedeutet. Letztere Information sei eine andere Form von Langzeiterinnerung, argumentiert Tulving, und für die sei das autonoetische Bewusstsein wesentlich: Das episodische Gedächtnis verknüpft Elemente wie Zeit und Sinneseindrücke auf eine filmische, sinnliche Weise. Zu wissen, wo und wann man gelernt hat, „autonoetisch“ zu buchstabieren – das ist eine episodische Erinnerung. 

Susie McKinnon teilt die Leidenschaft ihres Ehemannes Eric Green für Musik, sie ist sogar Mitglied eines Chores. Liedtexte, Melodien und Harmonien kann sie sich merken, weil ihr semantisches Gedächtnis völlig intakt ist. Ebenso weiß sie, dass sie vor drei Monaten auf einer Bühne einen alten englischen Folksong vorgetragen hat, solo, ohne Chorbegleitung. Doch ihr Gatte, der im Publikum saß, muss die szenische Beschreibung dazu liefern: zum Beispiel, wie sie auf die Bühne geschritten ist und sich dort neben den Flügel gestellt hat. Green sagt, er habe während des Auftritts seiner Frau fast zu weinen angefangen. McKinnon wiederum glaubt, sie habe auf der Bühne eine Mischung aus Zutrauen und Angst empfunden. Doch in Wirklichkeit hat sie nicht die geringste Ahnung, was sie gefühlt hat.

McKinnon besitzt eine Tonaufnahme des Auftritts. Sie steht nun auf, geht hinüber zur Stereoanlage, legt die CD ein und drückt auf Start. „Bereit?“, fragt sie nervös. Die Stimme einer Altistin erfüllt das Wohnzimmer, eine Stimme wie aus einer anderen Zeit. „The water is wide“, singt die Stimme, „I cannot cross o’er.“ McKinnon bemerkt ein leichtes Zittern in der Stimme vom Band und kichert deswegen. Es ist, als höre sie ihren eigenen 
Gesang zum allerersten Mal.

Es ist fast 40 Jahre her, dass Mc­Kinnon erstmals auffiel, dass ihr Erinnerungsvermögen sich von dem anderer Menschen unterscheidet. Das war 1977, als eine Freundin aus Highschool-Zeiten, die da gerade eine Ausbildung zur Arzthelferin machte, McKinnon fragte, ob sie mit ihr einen Gedächtnistest machen könne. Den hatte die Freundin als eine Art Hausaufgabe aufbekommen. Klar, warum nicht. Als die Freundin McKinnon einfache Fragen zu ihrer Kindheit stellte, die im Test vorkamen, sagte McKinnon: „Warum fragst du mich so einen Kram? Niemand merkt sich so was!“ Sie wusste, dass andere Leute behaupteten, sie hätten detaillierte Erinnerungen an zurückliegende Ereignisse, doch McKinnon war der festen Überzeugung, die Menschen erfänden diese Erinnerungen einfach und schmückten die dann aus. So wie sie selbst es tat.

Ihre Highschool-Freundin war derart verstört von McKinnons Antworten, dass sie ihr riet, ihr Erinnerungsvermögen medizinisch checken zu lassen. Doch das tat McKinnon damals nicht. Fast drei Jahrzehnte später erst las sie zufällig einen Bericht über die Arbeit von Endel Tulving, den Forscher, der den Unterschied zwischen semantischem und episodischem Gedächtnis beschrieben hatte. 

In dem Text stand, dass Tulving an der Universität Toronto einen Patienten mit Gedächtnisstörungen betreue, der im Alter von 30 Jahren einen schweren Motorradunfall gehabt hatte: Der mit dem Kürzel „K. C.“ bezeichnete Patient hatte bei dem Unfall eine Hirnverletzung erlitten, aufgrund derer sein episodisches Gedächtnis fortan gestört war. K. C. konnte sich an absolut nichts erinnern, außer an die Dinge, die gerade erst passiert waren, vor ein, zwei Minuten. Doch er verfügte weiterhin über sein Schul­wissen, in Mathe zum Beispiel und Geschichte. Wurde ihm im experimentellen Rahmen neues Wissen vermittelt, konnte er sich den Inhalt der Übung merken – hatte jedoch keinerlei Erinnerung an Besuche des Laboratoriums, in dem er unterrichtet worden war und also dieses neue Wissen erworben hatte. Der Fall wurde dann wesentlich für Tulvings Theorien zum Gedächtnis.

Menschen, die unter Amnesie leiden, besitzen wie McKinnon meist kein episodisches Gedächtnis, aber ein semantisches. Auslöser für den Gedächtnisverlust sind meist Hirntraumata, Entwicklungsstörungen oder degenerative Erkrankungen wie etwa Demenz. Betroffene sind in ihrem Alltag oft extrem eingeschränkt, in der Regel können sie kein normales Leben führen. 
Als McKinnon den Bericht über Tulvings Fallbeispiele las, stellte sie die Ähnlichkeiten zu ihrem eigenen Erleben fest – nur dass sie nie eine Hirnverletzung erlitten und sich ihr Zustand auch nie verändert hatte. Ihr Gehirn, ja ihr Leben: Alles erschien ihr gesund und intakt.

Doch eine von Tulvings Aussagen berührte sie sehr. In einem Porträt über ihn stand, Tulving sei davon überzeugt, „dass manchen gesunden Menschen ebenfalls die Fä­higkeit fehlt, sich an persönliche Erlebnisse zu erinnern. Es wurden zwar noch keine solchen Personen gefunden, doch Tulving geht davon aus, dass das bald geschehen wird.“

McKinnon war zu schüchtern, um den längst berühmt gewordenen Tulving auf direktem Wege zu kontaktieren. Stattdessen wandte sie sich an Brian Levine, einen Forscher vom Rotman Research Institute in Toronto, der eng mit Tulving zusammengearbeitet hatte. Am 25. August 2006 schickte sie Levine eine E-Mail, die sich auf die Aussage Tulvings bezog, dass es gesunde Menschen ohne episodisches Gedächtnis geben müsse: „Ich glaube, es besteht zumindest die Möglichkeit, dass ich ein solcher Mensch sein könnte. Ich bin 52 Jahre alt und extrem ausgeglichen, ich bin sehr zufrieden mit meinem Leben und besitze einen ausgeprägten Sinn für Humor. Sie zu kontaktieren, ist für mich ein großer (und, ehrlich gesagt, beängstigender) Schritt.“

„Mich erreichen eine Menge E-Mails von Leuten mit verschiedensten issues“, sagt Levine heute. „Bei Susie hatte ich aber gleich das Gefühl, ich sollte der Sache nachgehen.“ Levine lud sie in sein Labor in Toronto ein. Zusammen mit seiner Kollegin Daniela Palombo begann er zunächst, nach möglichen physiologischen oder psychologi­schen Erklärungen für das Fehlen von episodischen Erinnerungen bei McKinnon zu suchen: eine neurologische Erkrankung, ein Trauma oder ein Hirnschaden, der bei der Geburt durch Sauerstoffmangel hätte ausgelöst worden sein können. Sie fanden nichts.

Deshalb führte Brian Levine mit McKinnon ein autobiografisches Interview, um ihre Selbstbeobachtungen zu überprüfen. Zuvor hatte Levine mit McKinnons Gatten gesprochen, mit einer engen Freundin und mit McKinnons Eltern, um von ihnen Geschichten über Mc­Kinnon zu erfahren; auf die wollte er im späteren Gespräch mit ihr Bezug nehmen. Als Levine und seine Kollegen McKinnon dann etwa auf eine Anekdote ansprachen über eine Highschool-Aufführung des Musicals The Sound Of Music, bei der sie als Mädchen laut der Freundin aufgetreten war, konnte sie dazu nichts sagen; auch Nachfragen wie „Erinnern Sie sich an Objekte in Ihrer Umgebung?“ konnte sie nicht beantworten. Das Interview schien zu bestätigen: Susie McKinnon war der erste gesunde Mensch, der über kein erkennbares episodisches Gedächtnis verfügte.

Bald darauf fand Levine zwei weitere. Es handelte sich um Männer mittleren Alters, die erfolgreich in ihren jeweiligen Berufen waren, einer von ihnen hatte einen Doktortitel, einer war in einer Langzeitbeziehung. Levine machte mit den zwei Männern dieselben Tests wie zuvor mit McKinnon, alle drei ließ er schließlich auch im Kernspin­tomographen untersuchen. Die Ergebnisse stimmten überein: reduzierte Aktivität in den Hirnregionen, die bedeutsam sind dafür, dass ein Mensch eine Vorstellung seines Selbst besitzt; in der Lage dazu ist, im Geiste durch die Zeit zu reisen; und die Fähigkeit dazu hat, episodische Erinnerun­gen zu bilden.

Im April 2015 publizierte Levine die Ergebnisse seiner Studie über McKinnon und die beiden Männer in der Zeitschrift Neuropsychologia. Seither haben sich Hunderte Menschen bei Levines Team gemeldet, die angaben, ähnliche Symp­tome zu haben. Jeden Einzelnen unterzöge er nun Tests, sagt Levine, der schätzt, dass am Ende rund ein Dutzend Fälle wie der von Mc­Kinnon dazukommen werden. 

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Die überwältigende Zahl der Rückmeldungen auf den Artikel zeigen, dass die drei ersten Fälle keine Glückstreffer gewesen sein können. „Ihre Existenz löst relativ große Fragen aus“, sagt Levine. Was genau nützen uns Menschen un­sere Merkfähigkeiten? Wenn es Vertreter unserer Spezies gibt, die ohne Erinnerungen durchs Leben kommen – wofür hat der Mensch diese Fähigkeit dann ursprünglich entwickelt? Und wie lange wird es noch Erinnerungen geben?

Verbringt man längere Zeit mit Susie McKinnon, entwickelt man das merkwürdige Gefühl, dass sie nicht nur anders ist als wir anderen – sondern auch Glück gehabt hat. Erlebnisse, unter deren Erinnerungslast jeder andere Mensch später leiden würde, hinterlassen bei ihr keinerlei Spuren: Da ist das Jahr 1986, als das Ehepaar in Arizona lebte. Green wurde als Schwarzer beim Angeln von einer Gruppe weißer Männer angegriffen. Als er nach Hause kam, war sein Kopf übersät mit Striemen. „Sie holte Eis“, sagt Green über seine Frau, „und begann zu weinen.“ Da kamen auch ihm die Tränen.

Zwar kann sich McKinnon an die wesentlichen Fakten des Vorfalls erinnern, doch die Details weiß erneut nur Green – und mit den schmerzhaften Erinnerungen daran ist nur er bis heute konfrontiert. Seine Frau hat kein Trauma davongetragen, sie plagt keine Furcht. „Ich kann mir vorstellen, dass ich aufgebracht und verängstigt ge­wesen sein muss“, sagt sie, „ich kann mich aber nicht in die Situation zurückversetzen.“

McKinnon vergisst ebenso schnell Streitigkeiten – was, so witzelt sie, der Grund dafür sein könnte, dass Green und sie seit so langer Zeit verheiratet sind. Sie kann keinem Menschen etwas nachtragen. Sie kennt das Gefühl nicht, etwas zu bedauern. Und die Nachteile, die mit dem Älterwerden einhergehen, sind ihr nicht bewusst.

Ein Foto in einem Jahrbuch von 1972 zeigt, dass McKinnon als Kind ein zierliches Mädchen war mit einem zarten Gesicht und braunen Haaren. Sie selbst sagt mit dem Blick aufs Bild: „Was für ein idiotisches, kleines, unschuldiges Ding ich war.“ Rein verstandesmäßig weiß sie, dass sie das ist auf dem Foto. Doch legt sie es zur Seite, ist das Selbstbild McKinnons immer nur ein gegenwärtiges: Sie kann sich selbst nicht anders vorstellen als die Frau knapp über 60, die sie heute ist, breitschultrig und ordentlich, das Gesicht leicht rosa und mit zarten Falten, das graue Haar kurz geschnitten. Sie weiß nicht, wie es ist, in Erinnerungen zu schwelgen, sich nach der Vergangenheit zu sehnen, in ihr zu regelrecht zu hausen.

Wenn ich be­sessen versuchen würde, jeden Moment festzuhalten, weil ich ihn sonst  wieder vergesse, werde ich die Momente nicht wirklich erleben können

Susie McKinnon

Man könnte annehmen, dass Susie McKinnon sich moderner Technologien bedient, um die Auswirkungen ihrer fehlenden Erin­nerungen zu verringern. Denn wir leben ja in einer Zeit, in der Softwarefirmen fortlaufend Produkte herausbringen, die genau das ersetzen sollen, was McKinnon fehlt: Ist nicht der Facebook-Feed für jeden von uns längst zu einer Art autobiografischem Ersatzgedächtnis geworden? Und Google Photos liefert uns sogar rückwirkend die mentalen Assoziationen: Die künstliche Intelligenz der Software greift auf unsere Fotosammlungen zu, verbindet Gesichter und Ereignisse und generiert daraus rührende kleine Videos – synthetische episodische Erinnerungen. 

Ihr Leben aufzuzeichnen, daran fehlt McKinnon aber jegliches Interesse. Einmal nur versuchte sie, Tagebuch zu führen, „doch nach zwei oder drei Tagen hörte ich wieder auf“, sagt sie. „Wenn ich be­sessen versuchen würde, jeden Moment festzuhalten, weil ich ihn sonst gleich wieder vergesse, werde ich die Momente nicht wirklich erleben können.“ Und was außer der Flüchtigkeit der Momente bliebe ihr? Sie kann sie ja nicht im Kopf speichern und wieder abrufen.

McKinnon schreibt E-Mails, soziale Medien hingegen benutzt sie nicht. Kein Pinterest. Kein In­stagram. Sie war mal auf Facebook, doch das hat sie schnell nicht mehr interessiert. Selbst wenn sie dort aktiv wäre, hätte sie wenig, was sie teilen könnte, kaum Videos oder Fotos. McKinnon hat sich mal eine Kamera ausgeliehen, um bei einer der Kreuzfahrten zu filmen, doch sie mochte es dann nicht, die Kamera zu benutzen. Sie habe dadurch das Gefühl für den Moment verloren, sagt sie. Sie macht auch keine Fotos. Sie empfindet nichts dabei, die später zu betrachten. 

Sie holt nun ein Fotoalbum aus dem Bücherregal. In dem sind Bilder eingeklebt, die die standesamtliche Trauung von McKinnon und Green zeigen im Jahr 1981 in Maywood, Illinois. McKinnon hat Übung darin, über all die Anekdoten zu lachen, die an jenem Tag passiert sind: Die hat sie sich anhand der Fotos in diesem Album gemerkt. Doch wenn sie die Bilder anschaut, dann ist es, als betrachte sie die Hochzeit einer fremden Frau.

Nun aber lernt McKinnon etwas Neues über ihre Hochzeit: Während sie das Album durchblättert, erwähnt ihr Gatte eine Freundin der beiden, die bei der Trauung dabei war. „Das wusste ich gar nicht“, sagt McKinnon. Das ist so, weil die Freundin auf keinem der Fotos zu sehen ist. Sie war diejenige, die die Bilder gemacht hat.

Aber passiert uns anderen das nicht auch: Vergessen wir die Person hinter der Kamera in der Rückschau nicht auch oft? Wer nicht auf den Bildern ist, war gar nicht da. Bedeutet das, dass wir durch unseren Gebrauch von Technologie heutzutage bald auch ein wenig wie McKinnon werden? Andauernd fotografieren wir mit unseren Smartphones. So aber könnten wir die Erinnerungen an die Ereignisse, die wir festzuhalten versuchen, eher verwischen; man nennt das den photo-taking impairment effect.

„Was würde die Menschheit verlieren, wenn sie etwas ihrer Erinnerungsfähigkeit einbüßte?“, fragt McKinnon während eines unserer Gespräche. „Wenn es eine Technologie gäbe, die Erinnerung ersetzen könnte, würde sich die Erfahrungswelt der Menschen ändern. Wäre das gut? Oder schlecht? Oder wäre es nur – anders?“

Susie McKinnon schnäuzt sich hörbar die Nase. Sie sitzt in einem Kinosaal in der Capital Mall ihres Heimatortes Olympia und sieht sich den Pixar-Film Alles steht Kopf an. McKinnon weint. Der größte Teil des Films spielt im Bewusstsein einer Elfjährigen namens Riley. Deren Gefühle, die von animier­ten Figuren in einem Kon­trollraum repräsentiert werden, versuchen, Riley vor einer psychologischen Katastrophe zu bewahren: dem Verlust ihrer Erinne­run­gen, die wie kleine, glitzernde Kügelchen aussehen, auf deren Oberfläche Videos laufen. Rileys Persönlichkeitsstruktur begänne zu zerbrechen, verlöre sie ihre Erinnerungen.

Diesen Film findet McKinnon toll. Obwohl es doch scheint, als schildere der ihr alltägliches Erleben als Unglück. Sie begreift ihr Dasein jedoch nicht in Form einer Erzählung. Aber sie liebt Geschichten. Game Of Thrones, Die Tribute von Panem: Sie hat alle Bücher gelesen, alle Filme und Serienfolgen gesehen. Sie weiß nicht mehr, wovon die handelten, doch das macht es umso besser: Sie kann alles so oft von Neu­em lesen und sehen, wie sie mag – sie erlebt es jedes Mal als völlig neu.

Nur selbst Geschichten erfinden, das kann McKinnon nicht. Sie hat keine Tagträume, ihr Geist schweift nicht umher. Der Mangel an Ein­bildungskraft ist typisch auch für Amnesiepatienten. Sie können sich nicht auf Kommando etwas vor­stellen, etwa eine Strandszene. Wir schon, wir sehen uns in einem Liegestuhl, wir hören das Geräusch der Brandung, fühlen den Sand zwischen unseren Zehen. Versucht McKinnon, sich so etwas auszumalen, sieht sie bestenfalls eine Hängematte. „Dann gibt es dort vermutlich eine Palme. Sobald ich aber im Geist die Hand ausstrecke, um die Palme zu berühren, verschwindet die Hängematte.“ McKinnon scheitert daran, die einzelnen Objekte zu einem Bild zu vereinigen. „Ich kann im Kopf nicht mehr als einen Zug im Voraus machen.“ Das bedeutet, dass in ihrem Kopf nicht nur kein Fenster ist, um in die Vergangenheit zu schauen. Da ist auch keines Richtung Zukunft.

An dem Tag, als ich mit Mc­Kinnon im Kino war, haben wir viel unternommen. Wir haben zusammen gegessen, haben lange gesprochen, sind durch die Mall spaziert. Hinterher konnte sie sich an fast kein Detail erinnern – doch das schien sie nicht wirklich zu stören. Während die meisten von uns das Leben als eine Geschichte von Gewinnen und Verlieren begreifen, gibt es in McKinnons Denken keine Dramaturgie. Keine Vorfälle, die eine Handlung auslösen. Keine Konflikte. Keine Aufregung davor, wenn eine Geschichte endet. 
Susie McKinnon erreicht ohne jede Anstrengung, wonach andere Menschen sonst oft viele, viele Jahre streben: Sie lebt einzig und allein in der Gegenwart. 

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