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Leben unter der Lupe: So durchschaubar waren wir noch nie

von Karsten Lemm
Das Internet of Things verspricht absolute Transparenz. Und so durchschaubar waren wir noch nie, auch beim Thema Gesundheit: Das kann Leben retten. Oder es zerstören. Die Wahl liegt bei uns.

Bier oder Wein? Zum Nachtisch etwas Süßes? Eine Zigarette dazu? Das Leben ist reich an kleinen Entscheidungen, die künftig arm machen könnten. Denn wenn sich alles messen, quantifizieren, auswerten lässt, wird jede Handlung, so banal sie auch scheinen mag, Teil einer Risiko-­Kalkulation. Und Risiko kostet Geld: Versicherungen, die Gesellschaft, jeden Einzelnen von uns.

Totale Transparenz verspricht das Internet der Dinge, und nirgendwo zeigen sich Fluch und Segen dieses Versprechens ähnlich deutlich wie beim Thema Gesundheit. Mikroskopisch kleine Sensoren, Chips und Sender erlauben die dauerhafte, automatische Erfassung vieler Körpersignale. Startups wie BodyCap und Scanadu ar­beiten daran, Herzfrequenz, Stresslevel und andere Körperfunktionen mit medizinischer Präzision zu messen.

Der Preis, den die ver­netz­te Zukunft im Gegenzug verlangt, ist Durch­schau­barkeit. Nichts bleibt verborgen

Sensoren, bisher auf dem Körper getragen, wandern dabei auch in den Körper: werden geschluckt und senden Messdaten, die zeigen, wie der Organismus reagiert. Die Proteus-Discover-Pille etwa, die bereits von der US-Gesundheitsbehörde FDA zugelassen wurde, signalisiert dem System, wann sie eingenommen wird, und registriert unter anderem Puls, Blutdruck und Gewicht.

Dutzende solcher Lösun­gen sind weltweit in Entwicklung, sollen helfen, chroni­sche Erkrankungen in den Griff zu bekommen und andere gar nicht erst entstehen zu lassen: Wenn intelligente Systeme fortwährend aus unseren Daten herauslesen können, wie es uns geht, steigt die Chance, Krankheiten zu entdecken, ehe es zu spät wird. „Das Potenzial ist riesig“, sagt Gregor-Konstantin Elbel, Neurologe und Gesund­heitsexperte bei Deloitte. „Im Moment erfolgt die Behandlung punktuell, vieles ist einfach unbekannt.“

Je präziser die Informationen über unser Verhalten im Alltag sind, umso besser könn­ten Ärzte verstehen, was uns krank macht, und die Behandlung individuell abstimmen. Forscher dürften hoffen, in anonymisierten Daten neue Erklärungen für die Entstehung von Krebs zu finden. Gesundheitssysteme, die unter rasant steigenden Kosten zu kollabieren drohen, hätten dank effektive­rer Vorsorge und Therapien wieder eine Perspektive.

Der Preis, den die ver­netz­te Zukunft im Gegenzug verlangt, ist Durch­schau­barkeit. Nichts bleibt verborgen, wenn jedes Haus, jeder Strauch, jedes Auto voller Sensoren steckt. Und selbst wenn es gelingt, uns komplette Kontrolle über die eigenen Daten zu garantieren, bleibt die Frage: Wer bekommt was davon zu sehen?

Zwei Drittel der Deutschen können sich vorstellen, Fitness-Tracker-Messungen an ihren Arzt weiterzureichen. Beim Gedanken, solche Einblicke auch mit der Versicherung zu teilen, zucken viele noch zurück.

Bis zu welchem Punkt möchten wir die Effizienz, die in diesen Datenströmen steckt, ausschöpfen?

Sascha Lobo

Aber wie lange? Autofahrer zeigen sich bereits sehr offen, wenn ihnen Rabatte winken: Sogenannte Tele­matik-Tarife, die defensives Fah­ren belohnen, boomen – obwohl Versicherungen dabei jeden Tritt aufs Gaspedal auswerten und selbst die Reiseroute analysieren. Unfallträchtige Landstraßen bringen ebenso Punktabzug wie Raserei auf der Autobahn.

Am Ende, argumentiert Sascha Lobo, stehe die Gesellschaft vor die Frage: „Bis zu welchem Punkt möchten wir die Effizienz, die in diesen Datenströmen steckt, tatsächlich ausschöpfen?“

Überlassen wir die Technik ungebremst ihrem Drang zum Optimieren, könnte ein Zwang zum Mitmachen entstehen: Risikokandidaten, die sich der ­Analyse verschließen, geraten ins Abseits – zahlen XL-­Tarife für schwer Berechenbare und müssen fürchten, von Arbeitgebern gemieden zu werden. Noch lässt sich das verhindern, doch die Debatte darüber ist überfällig. Denn das Internet der Dinge gewinnt täglich neue Einsichten.

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