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Twentysomething / „Drohnenland“-Autor Tom Hillenbrand spricht mit Hologrammen der Toten

von Tom Hillenbrand
Während mein Renault durch den dichten Brüsseler Feierabendverkehr zockelt, lese ich die Nachrichten. Dabei fällt mein Blick auf die Datumszeile einer Meldung. Mich trifft fast der Schlag. 17. April, fuck! Ich habe ihn vergessen. Ich habe den Geburtstag meines Dads vergessen.

„Wieso“, brülle ich in mein Kehlkopfmikro, „pushst du Scheißteil mir keinen Reminder an Dads Geburtstag?“

„Die rekurrierenden Erinnerungen für den Geburtstag Ihres Vaters“, antwortet die Assistenzsoftware seelenruhig, „wurden vor sechs Jahren aus Ihrem Kalender entfernt.“

Ich will etwas erwidern, mache den Mund aber wieder zu. Natürlich wurden sie entfernt. Man kann dem Assistenzsystem da keinen Vorwurf machen.
„Auto – neues Ziel. Nach Schaerbeek.“

Das mit dem Geburtstag ist eine heikle Sache. Dad und ich haben 15 Jahre lang nicht miteinander geredet. Für einen traditionsbewussten Koreaner wie ihn ist so etwas besonders schlimm. Pinyin, kindliche Pietät, ist nämlich eine der wichtigsten konfuzianischen Tugenden. Seit wir uns wieder vertragen, habe ich noch nie einen seiner Geburtstage verpasst – da ist schließlich einiges gutzumachen. Ist ein sehr wunder Punkt bei mir. Und nun das.
Während der Fahrt bestelle ich ein Blumengebinde aus schönen gelben Veilchen. Mit 5000 Euro ist es nicht allzu teuer. Den Kranz jedoch per Drohnen-Drop-off rechtzeitig liefern zu lassen, kostet mich ein kleines Vermögen. Sei’s drum.

Am Cimetière de Schaerbeek steige ich aus und eile durch das schmiedeeiserne Tor. Meine Specs weisen mir den Weg. Dad liegt im neuen Teil, dem mit den Datengräbern. Dieser ist von den klassischen Grabstätten durch eine kleine Mauer getrennt, weil viele Leute Datengräber irgendwie creepy finden.
Ich kann das nicht nachvollziehen. Und auch für Dad war immer klar, dass er seine Datenkorona nicht würde löschen lassen, wenn er abtritt. Diese Europäer sind da wahnsinnig altmodisch. In Korea lässt sich fast niemand löschen. All die Bestandteile eines menschlichen Lebens, Hunderttausende Fotos, Texte und 360er, alles, was man je gesagt, gegessen oder gelesen hat – das ist doch ein Schatz, oder? Warum sollte man sein Lebenswerk wegwerfen?

Der einzige Grund, das zu tun, ist meines Erachtens, dass ein Datengrab ganz schön teuer ist. Aber da Dad mit 90 ohnehin keine Lust mehr hatte, trat er freiwillig ab. Für seinen vorzeitigen Hinschied kassierte er die Sankt-Peter-Prämie der EU. Und damit konnten wir das Grab problemlos bezahlen.
Ich erreiche den Datenfriedhof. In einiger Entfernung kann ich die Drop-off-Drohne abschwirren sehen, die Blumen sind also rechtzeitig eingetroffen. Als ich vor dem Grab stehe, verbeuge ich mich und sage: „Datenecho Kim Leclerq aktivieren.“

Dads Holo erscheint. Es stellt ihn wie immer in Hanbok und neongrünen Nikes dar.

„Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Abeoji.“

Er nickt, lächelt aber nicht, was leider ziemlich originalgetreu ist. Das Modell wird schließlich aus seiner Datenkorona erstellt, und ich kenne kein Foto, auf dem Dad lächelt.

„Du kommst sehr spät. Ich habe lange gewartet.“

Das ist natürlich Unsinn, denn bis eben war das Holo ausgeschaltet. Dad war absolut nirgendwo.

„Das tut mir leid, Abeoji. Ich habe dir Blumen mitgebracht.”

Er runzelt die Stirn. „Veilchen. Gab es keine Tulpen? Ich mochte Tulpen.“
„Aber ich dachte …“

„Seit deine Mutter mich vor 47 Jahren verlassen hat, mochte ich keine Veilchen mehr.“

„Ich verstehe. Nächstes Mal werde ich dir Tulpen bringen, Abeoji.“
„Ja.“

Dann schaut er mich schweigend an. Ich erzähle ihm ein bisschen von meiner Arbeit in der Agentur, und er hört zu, ohne ein Wort zu erwidern. Nach einigen Minuten verneige ich mich und gehe zurück zum Auto. Ich bilde mir ein, dass Dad mir nachschaut, mit Stolz in den Augen.

Tom Hillenbrand ist Schriftsteller, sein Buch „Drohnenland“ spielt in einem hoch technologisierten Europa der nicht allzu fernen Zukunft. In dieser Zeit lebt auch PR-Profi Dae-Jung Leclerq, der seine Alltagserlebnisse hier regelmäßig schildert

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