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So schmeckt die Zukunft

von Greg Williams
Das „Noma“ in Kopenhagen wurde 2010, 2011, 2012 und 2014 vom britischen Magazin Restaurant zum besten Res­taurant der Welt gekürt. Der 38-jährige Küchen-Chef René Redzepi will uns zu besseren Essern machen – mit Ameisen, Kompost und Schimmelpilz. Dafür riskiert er alles.

Dieser Artikel erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe des WIRED Magazins im April 2016. Wenn ihr die Ersten sein wollt, die einen WIRED-Artikel lesen, bevor er online geht: Hier könnt ihr das WIRED Magazin testen.

An einem Vormittag im Herbst 2015 sitzt der Koch René Redzepi im Noma und fragt sich, ob sein Restaurant, das sich daran macht, von Dänemark aus die Welt zu verändern, überhaupt noch ein dänisches Restaurant ist. „Die Leute nehmen uns hier als lokal wahr“, sagt er. „Kulturell gesehen, mag das ja stimmen. Aber was bedeutet der lokale Bezug für die Herkunft unserer Zutaten? Um die Landwirtschaft zu unterstützen, hat die US-Regierung 2008 den Farm Act verabschiedet. Danach müssen Köche Lebensmittel aus einem Umkreis von höchstens 400 Meilen beziehen. Das sind 650 Kilometer. So gesehen, sind wir genauso ein polnisches Restaurant“, sagt Redzepi. 

Das Noma ist untergebracht in ei­nem Lagerhaus aus dem 18. Jahrhundert, das 2011 neu aufgebaut wurde. Das Gebäude und das Viertel direkt am Wasser, in dem es steht, sind Ausdruck von Kopenhagens maritimem Erbe. Früher wurden hier gepökelter Fisch, Walprodukte sowie Öle und Häute aus dem ganzen Nordatlantikraum gelagert. Redzepi sitzt an der Ecke eines langen Tisches am oberen Ende einer Treppe. Dieser Raum ist das sogenannte Food Lab, entworfen von den dänischen Architekturvisionären 3XN. Darin sind untergebracht: ein Büro mit modularen Möbeln, ein hydroponischer, also erdloser Kräutergarten und Sitzge­legenheiten fürs Team. In der Luft liegt der frische, organische Duft lebendiger Pflanzen. An der Tür reihen sich Sneaker und Lederschuhe aneinander – jeder hier hat Birkenstocks an den Füßen. Der 38-Jährige trägt einen weißen Kochkittel mit schwarzer Schürze. Wenn er spricht, schichtet er Gedanke auf Gedanke und verbindet sie so, dass ausgewogene Antworten entstehen. Er redet, wie er kocht. 

Doch Redzepi, welliges, braunes Haar, trotz seines Alters mit jugendlichem Aussehen, kann auch anders. Er ist bekannt dafür, dass sein Ton hart und direkt wird, wenn er seine Mannschaft zu Hochform anstacheln möchte. Den Sohn einer dänischen Mutter und eines albanischen Vaters treibt ein kaum bezähmbarer Ehrgeiz. Das Noma hat er schon zum besten Res­taurant der Welt gemacht. Jetzt will er diesen Ruhm nutzen, um die ganze Welt zu einem anderen Umgang mit Lebensmitteln zu bekehren. Von Kopenhagen aus will Redzepi eine globale Bewegung starten.

Obwohl den ganzen Nachmittag über Menschen durch das Food Lab wuseln, verliert Redzepi nie das Verspielte, das seine Erscheinung umgibt. Zu Death Metal und HipHop tragen Angestellte die angelieferten Waren in die Lager oder kommen aus der Vorbereitungsküche nebenan und setzen sich zum Essen (die Mahlzeiten sind weniger aufwendig, als man sich das vorstellen mag: Käsetoast mittags, gegarter Fisch und Salat abends). Später treffen die Kräutersammler ein, die Küsten und Wälder nach den saisonalen Zutaten absuchen, die das Wesen des Noma ausmachen – Löffelkraut, Meerfenchel, Erbsen, Acker-Senf, Burzelkraut, Sumpfdreizack. Der Inhalt ihrer großen Körbe landet in den Regalen ein Stockwerk tiefer. Und den ganzen Nachmittag lang spazieren Besuchergruppen vorbei und schießen Fotos von der Testküche, aus der pro Woche sechs neue Gerichte kommen – in jeder Kreation stecken zwischen 80 und 90 Stunden Tüftelei.

Als das Noma im Jahr 2003 öffnete, lautete die Philosophie: Alle Gerichte sollen einen Bezug haben zur Herkunft der Zutaten. So einfach diese Überlegung klingt, so kompliziert war ihre Einhaltung für einen ambitionierten Koch, der sich vorgenommen hatte, etwas vollkommen Neues zu erschaffen. Redzepi wollte nicht einfach besondere Nahrungsmittel verwenden, um sie in bestehende Rezepte zu in­tegrieren. Doch zunächst passierte genau das. „Ich wusste, dass die Küche gut war. Aber es war nicht unsere eigene.“ 

In den Jahren 2010, 2011, 2012 und 2014 wurde das Noma vom britischen Magazin Restaurant zum besten Res­taurant der Welt gekürt. Es war die Zeit, in der ein neues Bewusstsein entstand. Allmählich wurde dem Team klar, dass es sich hatte einschränken lassen. Um wirklich originell sein zu können, musste es sich vom Format der westlichen Degustationsmenüs lösen. Die bleiben im Jahresverlauf weitgehend unverändert. 

Warum kochen wir nicht einfach mit dem, was da ist? Körbeweise Seeigel, Austern, merkwürdige Muscheln.

Lars Williams, Koch und Chef der Noma-Forschungsabteilung

Lars Williams, Koch und Chef der Forschungs- und Entwicklungsab­teilung, formuliert es so: „Als das Noma vor 13 Jahren eröffnete, war es lächerlich, ein Spitzenrestaurant mit skandinavischen Zutaten betreiben zu wollen. Man brauchte französische Tauben, Gänseleber und Kaviar.“ Redzepi und sein Team hatten sich als „Walpenis“ und „Seal Fuckers“ verspotten lassen müssen. In den kalten nordischen Wintern tat sich Redzepis Mannschaft zunächst schwer, zu finden, was sie für ihre Idee brauchten. Zwiebeln etwa kamen aus Stockholm oder Hamburg. Entfernung: 300 bzw. 700 Kilometer. So gesehen, war das Noma auch ein deutsches und schwedisches Restaurant. 

Andere Zutaten dagegen waren – und sind – reichlich vorhanden. „Im Winter gibt es hier mehr als genug Fisch“, sagt Redzepi. „Das Fleisch ist so fest, wie man es sich nur vorstellen kann. Die Bäuche sind voller Rogen, und all die anderen Innereien sind makellos – Leber, Milz und so weiter. Auch die Schalentiere sind dann am besten: körbeweise Seeigel, Austern, merkwürdige Muscheln. Irgendwann fragt man sich, warum man sich nicht einfach darauf konzentriert. Warum sind wir – in dieser Zeit – nicht einfach ein Fischrestaurant? Warum kochen wir nicht einfach mit dem, was da ist?“ Also sahen sich die Köche an, welche Zutaten im Jahresverlauf wann verfügbar waren, und stellten die Karte auf saisonale Gerichte um. Heute prägt diese Philosophie jeden Bereich, vom Essen bis zum Geschirr. Das Noma ist zu einem Lokal geworden, im Wortsinn. Redzepi ist überzeugt, dass „dieser Ansatz in Zukunft eine wichtige Rolle bei allen Fragen in Zusammenhang mit Lebensmitteln spielen wird“. 

Die Service-Küche wurde entsprechend dieser Überlegungen neu arrangiert. Traditionelle Küchen sind nach dem klassischen französischen Brigade-System aufgebaut: einem hierarchischen Ansatz, bei dem jeweils ein Koch für Saucen, Fischgerichte, Grillen oder Rösten zuständig ist. In der Noma-Küche dagegen bestehen die Arbeitsbereiche aus einfachen schwarzen Blöcken und sind weitaus weniger starr als andere Küchen. Die Vorbereitung von Gemüse, Wurzeln, Kräutern und Früchten bildet die Basis. Hier muss jeder Koch jedes Gericht zubereiten und auf den Teller bringen können. 

Gesprochen wird nicht – lauter als die Musik könnte ohnehin niemand sein.
Redzepi liebt es, die Gäste auf dem falschen Fuß zu erwischen. Achtung, Spoiler-Alarm: Was auf dem Tisch auf den ersten Blick wie ein Blumenar­rangement aussieht, erweist sich als Vorspeise. Und für das Gericht Henne und Ei müssen Gäste, die es durch das berüchtigte Reservierungssystem geschafft haben (einen Nobelpreis zu bekommen, dürfte einfacher sein), ein Wildentenei über einer Bratpfanne aufschlagen, die auf 280 Grad erhitzt wurde und auf einem Bett aus feuchtem Stroh liegt.

Zu ergründen, welche Lebensmittel wie verwendet werden können, ist die Aufgabe von Lars Williams und seiner Kollegin Arielle Johnson. Als Williams 2009 zum Noma kam, begann er in der Küche. Nach einem Jahr bat ihn Redzepi, das Nordic Food Lab (NFL) zu übernehmen, anfangs ein Joint Venture mit der Universität Kopenhagen. Seine Aufgabe: innovative Möglichkeiten für den Einsatz skandinavischer Lebensmittel zu entwickeln. „Die Basis für alles, was wir tun, ist die Suche nach Geschmack und Köstlichkeit – das ist unser Mantra, wenn wir überhaupt eines haben“, sagt Williams, ein New Yorker, der sich auf seinen Unterarm die ersten Zeilen des Gedichts Paradise Lost von John Milton tätowieren lassen hat („Des Menschen erste Schuld und jene Frucht / Des strengverbotnen Baums, die durch Genuss / Tod in die Welt gebracht und jegliche Weh / Die Eden raubte, bis ein größrer Mensch / Des Heiles Sitz uns wiederum errang ...“). 

Williams machte sich im NFL, das zu dieser Zeit in einem Hausboot im Hafen neben dem Restaurant untergebracht war, an die Arbeit. Er kostete zum Beispiel Waldameisen, die in einer Entfernung von 25 Autominuten vom Restaurant zu finden sind. Er probierte ihre verschiedenen Aromen und Geschmacksnoten und fand eine Spezies, die intensiv nach Ingwer-Zitronengras schmeckte. Williams wollte wissen, warum. Beim Durchforsten von wissenschaftlichen Aufsätzen und Patenten stieß er auf ein Dokument, das die chemischen Strukturen von Ameisen-Duftstoffen und deren Zusammenhang mit dem Geschmack erläuterte. Doch er kam damit nicht recht weiter. 

Als er gerade über einem Diagramm grübelte, kam Arielle Johnson herein, die den Sommer über parallel zu ihrer Doktorarbeit in dem Labor arbeitete. Damals forschte die heute 28-Jährige an der University of California in Davis über Aromachemie und Gastronomie. Sie warf einen Blick auf seinen Bildschirm. „Warum beschäftigst du dich mit Zitro­nengras?“, fragte sie. Wie sich zeigte, bestehen Ameisen-Pheromone aus den gleichen Molekülen, wie sie auch in Lavendel, Pinien oder eben Zitronengras zu finden sind. 

Die Ameisen, die wir im Moment am meisten benutzen, produzieren zur Verteidigung eine Säure mit starkem Zitronenaroma.

Lars Williams, Koch und Chef der Noma-Forschungsabteilung

„Die meisten sozialen Insekten haben irgendeine Art von Pheromon, aber bei Ameisen scheint es die größte Bandbreite zu geben“, erklärt Wil­liams. „Die Ameisen, die wir im Moment am häufigsten benutzen, produzieren zur Verteidigung eine Art Säure mit star­kem Zitronenaroma. Aber sie können auch viele andere Aromen erzeu­gen – Orange, Koriander oder Minze.“ Als Johnson von der Arbeit des Food Lab erfuhr, war sie sofort elektrisiert. „Ein Restaurant mit einem Labor, das an Kochkunst forscht – das war genau das, was ich machen wollte“, erzählt sie. Gleich an ihrem ersten Tag traf sie Williams und Mark Emil Tholstrup Hermansen, der das Programm des jährlichen Noma-Koch­symposiums MAD zusammenstellt („Mad“ ist dänisch und bedeutet „Essen“. Das Wort ist die Referenz für den zweiten Teil in Noma – die erste Silbe ist eine Verkürzung von „Nordic“). Nachdem sie ihre Doktorarbeit abgeschlossen hatte, zog sie 2014 als MAD-Forschungsleiterin nach Ko­penhagen. 

Wer im Food Lab arbeiten möchte, ist am besten Allesfresser. Gerade sind Williams und Johnson von einer Reise nach Simbabwe zurückgekehrt, bei der Johnson Magenprobleme bekam. Sie weiß nicht genau, ob von Brunnenwasser oder von Ziegeninnereien. Auch Williams probierte alles, was es gab. Er blieb allerdings weitgehend gesund. „Es ist mein Job, eine breite Palette an Mikrobiomen zu essen“, sagt er. „Ich habe ein recht robustes Verdauungssystem.“ 

Das kam ihm auch bei einem Forschungsaufenthalt in japanischen Wäldern zugute. „Was ist das hier?“, fragte er Johnson und hielt eine Beere hoch, die er gerade probiert hatte. Johnson identifizierte diese als Frucht vom hochgiftigen Schwarzen Nachtschatten. Auch die überstand er un­beschadet.
Williams isst sogar, womit andere den Garten düngen. Die beiden führen eine Anlage vor, die für sie zu einer Art zweiter Küche geworden ist: eine wasserlose Kompostiermaschine, gebaut vom australischen Unternehmen Closed Loop. Innerhalb von 24 Stunden macht sie aus 100 Kilogramm Essensresten zehn Kilogramm Kompost. Ganz wohl war ihm allerdings nicht, als er davon einen Löffel kostete. Williams: „Der Kompostierer arbeitet mit Milchsäurebakterien.“
Johnson: „Das sind Bakterien, die bei hohen Temperaturen wachsen, dieselbe Art wie im Sauerkraut. Sie sind sehr salz- und hitzetolerant und sehr schwierig zu töten.“

Williams: „Und sie verdauen alles, was man in den Kompostierer gibt.“
Johnson: „Nachdem Lars davon gegessen hatte, haben wir uns alle Fachaufsätze angeschaut. Wir wollten herauszufinden, wie die thermische Todeskurve dieser Bakterien aussieht.“ Wohlgemerkt: nachdem. Williams: „Die interessanteste Frage für uns war: Wenn ich das probiere, esse ich es dann tatsächlich, oder isst es eher mich?“ Ein großer Teil der Arbeit im Food Lab dreht sich um Fermentation. Skandinavien hat eine lange Tradition von Lebensmitteln, die zur Aufbewahrung mit Hefe und Bakterien versetzt werden. Die wärmere Jahreszeit ist extrem kurz, und es gibt eine Phase mit starkem Pflanzenwachstum. „Eine Explosion bei Vegetation und Aromen, für die man unbedingt Möglichkeiten zur Konservierung finden musste, wenn man etwas zu essen haben wollte“, 
sagt Williams. 

Das NFL-Team wusste, dass Fisch und Fleisch zum Haltbarmachen oft stark geräuchert oder gesalzen werden und dass beim Einlegen über­-mäßig viel Säure im Spiel ist. Also begann es, mit Fermentation zu ­experimentieren, indem es sich mehr auf den Geschmack konzentrierte. Inspiration bezog es aus Asien, insbesondere aus Japan. „Dort sind auf der Grundlage von kaum mehr als Reis und Sojabohnen und 1000 Jahren Schlauheit Fermentationstechniken entstanden, die zur Basis für eine unglaublich komplizierte, aber elegante Küche geworden sind“, sagt Williams. Die Zukunft der Ernährung, so scheint es, liegt in Pilzen, insbesondere im Schimmelpilz Aspergillus oryzae. In Japan ist er als „Koji“ bekannt und die Basis für einen Großteil der Küche des Landes.

Vor einigen Jahren bekam das Noma vier Schiffscontainer geliefert. Zwei davon sind heute die Heimat für die Suche nach dem Neuen. Oder wie es Williams formuliert: für „unser Doomsday-Projekt“. Das „Büro“ besteht aus zwei aufeinandergestapelten Containern, in die ein paar Fenster geschnitten wurden; innen finden sich eine alte Ikea-Küche, eine gebrauchte Bank und verschiedene wissenschaftliche Gerätschaften wie eine Zentrifuge („Praktisch für das Klären von Säften, Nussmilch und Rosenöl“, sagt Johnson). Die Container sind in sieben Kammern mit Temperaturen zwischen -30 und +60 Grad Celsius und einer Luftfeuchtigkeit zwischen null und 100 Prozent unterteilt. Bei einem Budget von ungefähr null bedeutete das für Williams und Johnson viel Bastelei.
Die heißeste Kammer ist der Garum-Raum. Garum ist eine fermentierte Sauce aus Blut und Innereien von Fischen, die bei den Römern beliebt war. In der Kammer nebenan werden enzymatische Fermente auf der Basis von Gemüse wie Schwarzlauch entwickelt, für die 55 bis 60 Grad Celsius optimal sind. Darüber wächst der Aspergillus oryzae, der eine hohe Luftfeuchtigkeit und Temperaturen von 33 bis 35 Grad Celsius benötigt. 

Beim Essen passiert derzeit vieles, wofür sich die Wissenschaft nutzen lässt.

Arielle Johnson

Im Gespräch springen die beiden zwischen Lebensmitteln hin und her, als blätterten sie durch ein Biologiebuch. Johnson erzählt davon, wie sie „mit Makrelen herumspielen“. Williams fügt hinzu, dass sie „früher viele Grashüpfer hatten“. Als die beiden versuchten, aus den Insekten Garum herzustellen, stellten sie fest, dass diese „eine ordentliche Menge Protein enthalten“. Bald verselbstständigt sich das Gespräch, bis sich die beiden darauf einigen, dass Garum aus Schwertmuscheln Ähnlichkeiten mit Sojasauce hat und Tintenfisch-Garum dem römischen Vorbild am nächsten kommt.

„Beim Essen passiert derzeit vieles, wofür sich die Wissenschaft nutzen lässt. Diese Arbeit hat bislang nur noch niemand gemacht“, sagt Johnson. „Wenn man anfängt, Wissen über die Biochemie von Mikroorganismen oder die Chemie von Aromastoffen anzuwenden, kann man Geschmacksnuancen viel präziser abstimmen.“ Williams beschreibt die Methode als „natürliche Biotechnologie“: Fermentation zum Beispiel ist ein Hilfsmittel, das sich nutzen lässt wie Pfanne oder Herd. 

„Wenn Wissenschaftler an Lebensmitteln arbeiten, heißt es manchmal: ,Oh, Sie rationalisieren den kreativen Prozess!‘“, sagt Johnson. „Aber das stimmt nicht. Eine rationale Herangehensweise würde diesen Prozess tatsächlich zerstören. Wissenschaft ist nicht dazu da, zu sagen, was gut schmeckt. Wissenschaft ist dazu da, zu erklären, wie die Dinge funktionieren. So kann man mit dem, was man hat, kreativer umgehen.“

Bald wird es das Noma in seiner jetzigen Form nicht mehr geben. Um sich neu zu erfinden, ist das Restaurant samt dem kompletten Team im Januar in ein Lagerhaus in Sydney umgezogen. Wie bei einem Aufenthalt in Tokio im vergangenen Jahr (und etwas weniger aufwendig 2012 bei einem Pop-up-Restaurant im Londoner Hotel Claridge’s) geht es auch in Australien darum, neue Menüs aus lokalen Erzeugnissen zu schaffen. Im Mai kehrt das Noma zurück. Ende Dezember wird es dann schließen – für immer.

Redzepi und sein Team haben einen Standort gefunden, an dem ein viel größeres und ambitionierteres Projekt beginnt. Mit dem Fahrrad fünf Minuten nordöstlich vom heutigen Noma – vorbei an der Hippie-Kommune Chris­tiania –, befindet sich ein altes Militärlagerhaus, in dem früher Minen für die dänische Marine lagerten. Im Moment ist das Gelände noch in der Hand von Graffiti-Künstlern. Auf dem Boden liegen Tausende leerer Spraydosen. Das eingeschossige Gebäude ist hundert Meter lang. Das bedeutet weitaus mehr Fläche als im jetzigen Restaurant. Zudem ist die Lage günstig: am Ufer eines Sees, umgeben von Bäumen und Natur. So kann das Team einen Garten für Kräuter und Gemüse anlegen und Anbauplattformen bewirtschaften, die auf dem See schwimmen. In einem Treibhaus auf dem Dach sollen Zutaten wachsen, die im Winter sonst nicht erhältlich sind. Derzeit besteht ein großer Teil des Bewuchses auf dem Gelände aus wilden Beerensträuchern. Die werden so bleiben, wie sie sind. Das neue Noma will weiterhin mit seinen Produzenten und Lieferanten arbeiten. Doch der Standort bietet auch neue Möglichkeiten. Das Restaurant wird mehr Kompost produzieren, der mit den Bauern geteilt wird, und die Noma-Köche werden Landarbeit lernen und so mehr über den Zusammenhang erfahren zwischen dem Gärtnern und dem, was auf dem Teller landet.

„Im Winter werden wir genau das anbauen, was wir brauchen, und uns so weit selbst versorgen wie möglich“, sagt Williams, während er vor dem See steht, auf den Noma-Gäste in Zukunft von ihren Tischen aus blicken werden. „Alles, was auf die Teller kommt, wird von uns stammen. Dadurch können wir jeden Schritt des Prozesses steuern.“ Williams und Johnson steigen über weggeworfene Flaschen und Reste von Lagerfeuern. Dann zeigen sie, was wohin kommen soll: hier eine Fermentationsküche, eine Räucher­kammer und ein Steinofen, dort eine Testküche und eine Werkstatt für die Herstellung von Tellern und Besteck, ein Empfangsbüro, ein Büro für die MAD-Gruppe, ein Essensbereich für das Personal, eine Vorbereitungsküche, eine Serviceküche und der Gästebereich, der dem von heute ähneln wird. 

Obwohl das „Noma“ ein Restaurant mit nur zwölf Tischen ist und bleiben wird: Sein Einfluss soll in Zukunft weit darüber hinausgehen. „Wir haben uns viel damit beschäftigt, zu verstehen, wie im nächsten Jahrzehnt Arbeit aussehen wird“, sagt Redzepi. „Alles, was wir tun, soll auf langfristigem Denken basieren.“ So startete das MAD im Herbst eine nationale Foraging School, ein Programm für Erwachsene und Schulkinder. „Damit wollen wir das Leben der Kinder bereichern und sie hoffentlich enger mit der Natur verbinden.“ Redzepi hofft, dass der Umgang mit Lebensmitteln irgendwann genauso auf dem Lehrplan stehen wird wie Lesen, Schreiben und Rechnen.

In diesem Frühjahr gibt es zum ersten Mal ein Noma-Führungskräfteprogramm an der Yale University. Er selbst habe Jahre gebraucht, um den richtigen Führungsstil zu finden. „Aus manchen Situationen musste ich mich physisch entfernen. Es war eine sehr schwierige Entscheidung.“ Er konnte es nicht ertragen, wenn Mitarbeiter nicht alles genau so gemacht haben, wie er es wollte.
Wenn man etwas Zeit im Noma verbringt, wird klar: Redzepi möchte – über das Restaurant, das Forschungslabor, das MAD-Symposium und die Beziehungen, die er mit Lieferanten und anderen Beteiligten aufgebaut hat – etwas entstehen lassen, das viel mehr ist als nur ein Restaurant. Er will eine globale Gemeinschaft, die übers Essen verbunden ist. 

„Wir wollen einen Geist entstehen lassen, in dem wir als eine wachsende Gruppe zusammenarbeiten und uns alle als Teil desselben Organismus begreifen“, sagt er. „Wir machen verschiedene Dinge. Aber wir erkunden gemeinsam das Leben durch Lebensmittel und berücksichtigen dabei Faktoren wie Teamwork, Nachhaltigkeit und finanziellen Erfolg. Jeder Einzelne muss verstehen: Wenn wir zusammenhalten, wird jeder von uns am Ende erfolgreicher sein.“ 

Das Noma-Team wird die Möglichkeit haben, auf der Grundlage geografischer Besonderheiten vollkommen neue Menüs zu entwickeln – wo auch immer es sich gerade befindet. Der Prozess beginnt damit, dass es so viele Produkte wie möglich probiert. Williams’ Magen sei Dank. Dann entsteht eine Reihe von Gewürzen, die auf für die jeweilige Gegend typischen Produkten basieren. Erst dann beginnt das Team damit, Gerichte zu entwickeln. „Man benutzt seine Intuition und lässt sich vom natürlichen Geschmack der Produkte dorthin leiten, wo man sie langsam zu etwas anderem verändern und formen kann“, sagt Williams. 

Als Restaurant gibt man den Großteil seiner Einnahmen für Experiemente aus. Das ist teuer. 

René Redzepi, Noma-Küchenchef

Die Inkarnation des Noma als urbane Farm soll sich zu einem Kollektiv um das Restaurant herum entwickeln und könnte weitreichenden Einfluss auf die Art und Weise haben, wie Menschen auch unterhalb der gehobenen Gastronomie essen. Alle Lieferanten des Noma müssen einen strengen Prozess der Qualitätskontrolle überstehen. Den Butterlieferanten beispielsweise bezeichnet Williams im Scherz als Extremisten. „Er interessiert sich für nichts als die Herstellung von Butter und die Innovationen, die möglich sind“, erklärt er. Experimentiert hat jener etwa mit „Sumpfbutter“, inspiriert von den Schotten des 18. Jahrhunderts. Die filterten die Milch mit Heu, damit die speziellen Bakterien ihr ein besonderes Aroma verliehen, und vergruben die Butter in Torf. 

Als das Noma eröffnete, befand es sich in einer Ansammlung von verfallenen Lagerhäusern. Am neuen Standort wird das Restaurant umgeben sein von neu erbauten Wohnungen mit Blick auf den See. Eine Fußgängerbrücke zwischen dem jetzigen Noma und dem Stadtzentrum ist beinahe fertig. Arbeiter mit Schutzhelmen und Warn­westen laufen auf dem Betonbogen herum. Nur noch eine Lücke von 20 Metern bleibt, bis das Noma kein Außenposten mehr ist. Mit anderen Worten: Es ist Zeit, weiterzuziehen. 

„Als Restaurant gibt man einen Großteil seiner Einnahmen für Experimente aus – das ist sehr teuer“, sagt Redzepi. „Man muss sich darüber im Klaren sein, dass der Grund dafür die Liebe darin ist, neue Dinge zu lernen, die Welt zu erkunden und Menschen zu treffen. Und man muss verstehen, dass man Leute bitten muss, in der Arbeit die meiste Zeit über unglücklich zu sein. Denn so fühlt man sich, wenn man scheitert. Das ist wirklich schwierig. Wie schafft man ein Umfeld, in dem das in Ordnung ist?“

Dreizehn Jahre lang haben sich Redzepi und sein Team auf den Schritt vorbereitet, der vor ihnen liegt. Das Noma soll zum Inkubator werden, der beweist, dass es nicht nur möglich ist, allein mit Lebensmitteln aus eigenem Anbau auszukommen. Sondern auch, dass es die Sinne wiederbelebt, wenn man sich beim Essen an den natürlichen Zeitläufen orientiert. Das Noma häutet sich dreimal im Jahr: In den kalten Monaten kommt Fisch auf den Teller. Sobald es draußen grün wird, wird es zum vegetarischen Restaurant. Und zum Ende des Jahres greifen die Köche auf das zurück, was der Wald ihnen bietet, von Pilzen bis zu Vögeln – und selbstverständlich Ameisen. 

Alle wesentlichen Entscheidungen fielen im Noma aus dem Bauch heraus, sagt Redzepi. „Wenn man etwas vorhat wie wir, man muss bereit sein, Risiken einzugehen und alles aufs Spiel zu setzen. Man muss sich sagen: ‚Es könnte sein, dass es das Noma in zwei Jahren nicht mehr gibt.‘ Kann ich damit leben? Ja, das kann ich.“ 

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