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Anonymous-Aktivist John Chase: „Zum Krieg gehört auch der digitale Raum“

von Max Biederbeck
Eine Woche nach Paris. Eine Woche auf der Suche nach Worten und Antworten. Eine Woche, in der Anonymous mit seinem Kampf gegen den so genannten Islamischen Staat (IS) wieder in den Schlagzeilen auftauchte. Auch eine Woche auf der Suche nach Schuldigen, in der Unternehmen wie Twitter und Telegram, sogar Sony mit seiner Playstation kritisiert wurden, den Terroristen zu viel Platz zu geben. WIRED hat mit einem der bekennenden Anonymous-Sprecher über die aktuellen Entwicklungen gesprochen.

John Chase, alias Xrsone, hat noch ein ziemlich zerknautschtes Gesicht. Er ist für das Interview mit WIRED früh aufgestanden und sitzt in seiner Wohnung in Boston, es ist sieben Uhr am Morgen. Einige Male muss er sich die Augen reiben, schlürft in seiner Küche Kaffee und raucht eine Zigarette, muss erst einmal die Müdigkeit aus seiner Stimme vertreiben. Das alles ist wichtig, denn es macht Chase zu einem echten Menschen. Er trägt keine Maske und er hat auch keine künstliche Stimme, die Sätze per Computerprogramm zusammensetzt. Chase sieht einfach so gar nicht nach Anonymous aus, und doch ist er Teil des Anti-IS-Kampfs der Hacktivisten.

Chase folgt der Sache der Hacktivisten, aber er zeigt sein Gesicht. Er sieht sich als einer der Sprecher der Gruppe, vor allem wenn es um die #OpISIS geht, den Cyber-Kampf gegen den IS. Seit Charlie Hebdo im Januar ist er dabei, hat im Namen der Gruppe dieses Jahr mehr als 26.000 Twitter-Accounts von IS-Supportern als Liste an die Medien weitergegeben. Jetzt, nach Paris, findet Chase: Es ist noch wichtiger geworden, sein echtes Gesicht zu zeigen, egal wie zerknautscht es ist.

WIRED: Ein Gesicht zur Guy-Fawkes-Maske, das hat man selten. Bekommst du keine Drohungen von IS-Leuten?
John Chase: Am Anfang blieb ich genauso anonym wie die anderen, dann dachte ich: Scheiß drauf. Und ja, das hat zu einigen Drohungen geführt. Aber ISIS wird schon nicht zu mir nach Hause kommen und mich im Schlaf umbringen. Glücklicherweise haben auch noch keine amerikanischen Behörden angeklopft. Es war wichtig, mein Gesicht zu zeigen und meinen Namen. Es macht unsere Sache glaubwürdiger. Ich bin kein verruchter Hacker, sondern jemand wie du und ich.

WIRED: Und damit doch nicht mehr „Anonymous“.
John Chase: Nein, aber Teil der Sache, für die sie kämpfen. Das bringt mich in die Lage, ihre Message zu verbreiten.

WIRED: Anonymous ist ein loses Netzwerk. Was ist der Unterschied zwischen der Gruppe und der Sache?
Chase: Viele schließen sich der Sache an, sind aber nicht Anonymous. Sie engagieren sich nicht. Zu dieser Gruppe gehöre ich nicht. Ich bin keins dieser Script-Kiddies. Die glauben, sie würden dazugehören, weil sie einmal einen Knopf gedrückt haben. Die schaden der Glaubwürdigkeit von Anonymous und laufen nur mit. Der Kern der Gruppe arbeitet wirklich hart.

Viele opfern ihr Privatleben, um IS-Seiten aus dem Netz zu schießen.

WIRED: Klingt aber nicht so nach eurem Slogan „Wir sind Legion“.
Chase: Ich habe nichts gegen Freiwillige, sondern etwas gegen Mitläufer. Das ist ein Unterschied. Die einen unterstützen diejenigen, die wirklich was tun. Die anderen nicht. Dabei investieren Anonymous-Aktivisten gefühlt 16 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche. Sie opfern ihr Privatleben, um IS-Accounts auszumachen und ihre Seiten aus dem Netz zu schießen.

WIRED: Wie viele dieser Hardcore-Member gibt es denn? Jeder Experte sagt etwas anderes.
Chase: Ich weiß auch nicht, wo die alle ihre Zahlen herhaben. Es sind nur ein paar Dutzend Leute, die wirklich engagiert sind, inklusive der Hackergruppen Ghostsec und Controlsec. Dazu kommen einige hundert Leute, die am Rande involviert sind. Geht es um die Verbreitung von Nachrichten oder das Melden von Accounts, sind es dann einige tausend Adhoc-Unterstützer.

WIRED: Ghostsec taucht momentan vor allem auf, weil die Gruppe mit dem FBI zusammengearbeitet haben soll.
Chase: Soweit ich das überblicken kann, stimmt diese Information. Allerdings besteht der Kontakt nicht direkt zum FBI. Es ist für Gruppen wie Ghostsec schwierig, mit dem Staat zusammenzuarbeiten. Die Behörden glauben, dass sie neben dem Kampf gegen den Terror auch noch in andere, illegale Aktivitäten involviert sind. Es geht ihnen eben nicht nur um Altruismus. Aber das FBI arbeitet mit Sicherheitsunternehmen zusammen, die für beide Seiten als Vermittler dienen.

Es ist 2015, wenn die Geheimdienste auf Twitter angewiesen sind, um ISIS zu bekämpfen — then we are fucked, man!

WIRED: Also gibt es Zusammenarbeit. Es ist nichts dran an der Experten-Aussage, die Aktionen von Anonymous könnten den Geheimsiensten schaden?
Chase: Der Vorwurf kommt von Behördenseite immer wieder, wir würden ihre Operationen kompromittieren. Aber mal ehrlich, es ist 2015, wenn FBI, NSA, CIA oder BND auf Twitter angewiesen sind, um ISIS zu bekämpfen — then we are fucked, man! Die sollten echt bessere Tools benutzen können.

WIRED: Aber Portale wie Twitter sind doch auch für Anonymous ein Hauptziel, wie können sie da nicht wichtig sein?
Chase: Schau mal, wir wissen schon sehr gut, dass Social-Media-Accounts keine kritischen strategischen oder militärischen Informationen transportieren. Niemand wird dort den nächsten Angriff ankündigen oder erklären, wo die Camps der IS-Kämpfer sind.

WIRED: Aber?
Chase: Die Öffentlichkeit hat oft den Irrglauben, Anonymous-Aktivisten würden sich an einen Computer setzen und einfach mal so den Krieg beenden. Aber der Konflikt ist vielseitiger und zum Krieg gehört auch der digitale Raum. Du hast die Bomben und Soldaten, aber es gibt auch die Informationsseite. Online-Kämpfer, deren Ziel es ist, Leute innerhalb Deutschland, Frankreichs oder der USA zu finden. Leute mit kruden „Einsamer Wolf“-Ideologien, die bereit sind uns jederzeit anzugreifen. Anonymous hindert diese Ideologien daran, auszuufern. Wenn das am Schluss einen Radikalen weniger zufolge hat, wenn nur ein Anschlag weniger stattfindet — dann haben wir Leben gerettet.

Die Öffentlichkeit hat oft den Irrglauben, Anonymous-Aktivisten würden sich an einen Computer setzen und einfach mal so den Krieg beenden.

WIRED: Oder die Terroristen weichen auf andere Portale aus. Den Messenger Telegram zum Beispiel, die Reichweite ist geringer, aber die Kommunikation sicherer.
Chase: Telegram wird gerade an den Pranger gestellt, das finde ich nicht richtig. Das ist immer noch ein sehr kleines Unternehmen mit begrenzten Mitteln. Außerdem versuchen die Macher ja, ihre Kanäle sauber zu halten. Twitter hingegen ist viel größer, hat mehr finanzielle Mittel — und sollte entsprechend mehr medialen Druck bekommen. Je öfter die Wörter Anonymous, Twitter und IS zusammen in Überschriften auftauchen, desto besser.

WIRED: Klingt angriffslustig.
Chase: Es ist immer dasselbe mit diesen Unternehmen. Erst wenn sie in einem Atemzug mit dem Terror genannt werden, fangen sie an zu reagieren. Wenn sie in den Schlagzeilen von New York Times, Newsweek oder CNN auftauchen. Als wir die 26.000 Accounts veröffentlichten, hatte Twitter sogar einen Kurseinbruch an der Börse. Der damalige CEO Dick Costolo musste daraufhin reagieren.

WIRED: Also bleibt festzuhalten: Der digitale Kampf gegen Daesh hat deren Propaganda als Hauptziel.
Chase: SQL-Injection-Attacken, Brute Force Cracking von Passwörtern und DDOS-Überlastungen sind ein Hauptteil, ja. Aber manchmal geht es auch darum, Smartphones und Twitter-Accounts zu kapern, Mikros und Kameras von Recruitern anzuzapfen oder Terroristen gezielt mit Falschinformationen zu verwirren.

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WIRED: Und stimmt die neue Nachricht aus Frankreich, werden diese Angriffe zunehmen?
Chase: Was uns betrifft, waren sie nie weg. Anon und GhostSec, sie haben nie mit ihrer Arbeit aufgehört. So wie ich das sehe, habt ihr Medienleute uns jetzt einfach nur wiederentdeckt.

WIRED: Dabei gibt es in Foren immer wieder Stimmen unter dem Anonymous-Banner, die keine Accounts aus dem Internet werfen wollen, weil das Internet frei sein müsse, egal für wen.
Chase: Das sind wirklich wenige, sozusagen unsere Hippies. 99 Prozent der Aktivisten stimmen darin überein, dass Meinungsfreiheit da endet, wo sie Gewalt und Anschläge fordert. Wir werden weitermachen. 

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