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Zensur in Russland: „Snowden war ein Segen für die Welt, aber eine Katastrophe für unser Land“

von Max Biederbeck
Troll-Armeen, Verfolgung von Journalisten und Bloggern, Druck auf westliche Unternehmen. Die Regierung Putin versucht nach Kräften, das Internet in Russland zu kontrollieren und Kritiker mundtot zu machen. „Red Web“ nennen zwei russische Investigativ-Journalisten in ihrem neuen Buch diesen Teil des Netzes. Doch noch bleibt der Opposition Zeit, sich zu wehren.

Den russischen Geheimdienst kennen Andrei Soldatov und Irina Borogan für ihren Geschmack etwas zu gut. Seit dem Jahr 2000 berichten die beiden Invesitagtiv-Journalisten auf ihrer Website Agentura.ru über die Machenschaften des FSB und der Kommunikationsbehörde Roskomnadzor. Doch unabhängige Reporter haben es nicht einfach in Russland. Soldatov und Borogan bekommen keine Aufträge mehr, die Justiz leitet Strafverfahren gegen sie ein und immer wieder zwingen Agenten sie zum Verhör.

Seit Jahren geht das schon so. Jahre, in denen es unter Vladimir Putins Regime nicht nur mit der Pressefreiheit bergab ging. Die russische Regierung hat auch damit begonnen, massiv Kontrolle auf die digitalen Aktivitäten von Oppositionellen auszuüben. Soldatov und Borogan gehören dazu. In ihrem diese Woche erscheinenden Buch „The Red Web: The Struggle Between Russia's Digital Dictators and The New Online Revolutionaries“ erklären die beiden Reporter, warum sie dennoch einen Hoffnungsschimmer sehen. Mit WIRED sprachen sie über die Zensurstrategie des Kremls, über die eigentlichen Probleme der russischen Opposition und über die beschränkten Möglichkeiten des Putin-Regimes im Internet — trotz Edward Snowden.

WIRED: Am Dienstag habt ihr beim Guardian eine Fragerunde über euch ergehen lassen. Die meisten User wollten Fakten zu Putins Trollarmee wissen. Ein prominentes Thema im Westen.
Andrei Soldatov: Ja, aber in Russland ist der Einfluss von bezahlten Kommentatoren noch wesentlich größer. Trolle manipulieren hier Emotionen. Es geht nicht nur darum, irgendeine politische Diskussion zu stören, sondern ganze Narrative zu erzeugen. Man erinnere sich daran, welchen Einfluss dieses Bild des ertrunkenen syrischen Kinds auf die Flüchtlingsdebatte in Europa hatte, und stelle sich diesen Einfluss 24/7 auf die russische Bevölkerung vor.
Irina Borogan: Solche emotionalen Botschaften haben eine wahnsinnig starke Wirkung auf osteuropäische und russische Zielgruppen. Dort gibt es eine gemeinsame Geschichte in Abgrenzung zum Westen. Der Kampf gegen den Faschismus zum Beispiel. Heute lässt sich darauf aufbauend ganz einfach die These „Wir kämpfen gegen Faschisten in der Ukraine“ durchdrücken. Patriotismus, Größe und Freiheit — daran bleiben Menschen hier hängen. Und diese Emotionen lassen sich online nach Belieben verstärken.

WIRED: Eine Art digitale Propaganda-Maschine also. Kann Aufklärung durch Journalisten wie euch da kein Gegengewicht schaffen?
Soldatov: Vielleicht wissen viele Leute ja, dass es bezahlte Trolle da draußen gibt. Die schiere Masse an Postings reicht aber, um Zweifel zu sähen. Irgendwann denkt man: „Vielleicht stimmt ja wirklich was nicht mit der westlichen Politik in der Ukraine.“ Obwohl man das eigentlich gar nicht glaubt. Es ist schade, dass diese Taktik so gut aufgeht.

WIRED: Wie meinst du das?
Soldatov: Das russische System der Zensur und der Überwachung im Internet funktioniert ähnlich wie in anderen autokratischen Staaten auch, nur schlechter. In vielen Fällen versagt es. Das Internet ist ein Tool, um Informationen zu verbreiten, und sowohl in den Protesten von Moskau 2011 und 2012 als auch in der Ukraine-Krise hat es die Regierung Putin nicht geschafft, diesen Informationsfluss zu unterdrücken. Da ist eine Lücke im russischen Überwachungsapparat.

WIRED: Weil die technischen Mittel fehlen?
Borogan: Die technischen Mittel, die Manpower, die Expertise.

WIRED: Woher wollt ihr das wissen?
Borogan: Die russischen Behörden haben erst sehr spät damit angefangen, ihren digitalen Zensurapparat aufzubauen. Im Vergleich zu Staaten wie China oder den USA ist er geradezu klein. Ein Beispiel zum Mangel an Expertise: Diese Woche gaben Behörden bekannt, dass sie den Zugang zu Porno-Seiten sperren wollen. Es wird interessant sein, zu sehen, wie sie das durchsetzen wollen. Selbst wenn sie es aber schaffen würden, provozieren sie damit das Gegenteil von dem, was sie wollen: das vermehrte Aufkommen von VPN-Clients und sonstigen Umgehungsmethoden, weil die Menschen ihre geliebten Seiten ja weiter aufrufen wollen. Kein sehr schlauer Schachzug.

Wenn du mit so starken Narrativen konfrontiert bist, kann Technologie allein dich nicht retten.

Andrei Soldatov

WIRED: Klingt in der Tat nach einer Behörde, die nicht genau weiß, wovon sie redet.
Soldatov: Trotzdem versucht sie es, die ersten Websites sind meines Wissens schon gesperrt. Ein kleiner Prozentsatz von hunderten Millionen Seiten. Dieses Vorgehen zeigt den Mangel an Verständnis für die Funktionsweise des Internets.

WIRED: Und die Opposition nutzt diese Lücken nicht genug für ihre Zwecke aus?
Soldatov: Wie schon erwähnt, das Internet ist nur ein Tool und natürlich benutzen es intellektuelle Eliten und Oppositionelle für sich. Genau wie auch wir als Journalisten.

WIRED: Klingt, als komme gleich ein „Aber“.
Soldatov: Aber da kommen wieder die Narrative ins Spiel und die Macht der Trolle. Wenn du mit solch starken Narrativen konfrontiert bist, dann kann Technologie allein dich nicht retten. Das hat etwas mit der russischen Mentalität zu tun. Sogar die Intellektuellen haben sich in Russland über Jahre hinweg vom Westen verraten gefühlt. Und Putin ist ein Meister darin, diese Gefühle analog wie digital auszunutzen. So gleicht er die technischen Nachteile aus und gewinnt Zeit.

WIRED: Zeit wozu?
Borogan: Die Internetzensur auch technisch auszubauen. Die Regierung will Unternehmen dazu zwingen, Daten zu russischen Bürgern auf russischen Servern zu lagern. Das Gesetz dazu wurde letztes Jahr verabschiedet und tritt jetzt in Kraft.
Soldatov: Bisher ist das Ziel dieser Gesetzgebung noch nicht ganz klar, aber Unternehmen wie Paypal, Ebay und Alibaba spielen mit. Andere, etwa Facebook, weigern sich und niemand weiß so genau, wie Google zu der Sache steht.

Die Regierung hätte am liebsten eine Hotline, mit der sie direkt bei Twitter anrufen und sagen kann: Der Inhalt gefällt uns nicht, nehmt den offline.

Andrei Soldatov

WIRED: Der Sammelwahnsinn der NSA — Russland Edition. Aber wenn große Unternehmen wie Facebook nicht mitspielen, wird das ja nichts, oder?
Soldatov: Es geht hier gar nicht nur um die Daten an sich, sondern um Kontrolle und Druck auf die Unternehmen. Die russische Regierung hätte am liebsten eine Hotline, mit der sie direkt bei Plattformen wie Twitter und YouTube anrufen kann und sagt: Der und der Inhalt gefällt uns nicht, nehmt das mal offline. Zu russischen Unternehmen gibt es diese Verbindungen schon lange, das wollen die Behörden international ausbauen. In China funktioniert Zensur über die direkte Kontrolle von Usern, in den USA werden Datenberge angesammelt, in Russland will man die Verbreitung von Informationen direkt bei den Firmen kontrollieren.

WIRED: Diese Entwicklung hat Edward Snowden vergangene Woche stark kritisiert. „Frustrierend und enttäuschend“ seien diese Kontrollversuche und „ein politischer Fehler“.
Borogan: Das waren ganz neue Töne und auch die richtigen. Aber Snowden hat das nur gesagt, weil er mit einem Zitat des russischen Wikipedia-Vorstands aus unserem Buch konfrontiert wurde, dem auch wir zustimmen.

WIRED: Nämlich?
Borogan: Snowden war vielleicht ein Segen für die Welt, aber er war eine Katastrophe für Russland.

Jeder, der das Internet zensieren will, beruft sich in Russland auf Snowden.

Irina Borogan

WIRED: Solche Kritik hätte ich von eurer Seite nicht erwartet.
Soldatov: In Russland haben die Snowden Enthüllungen keine gesellschaftliche Debatte über den Einfluss der Geheimdienste wie in Deutschland, Frankreich oder England ausgelöst. Wir haben über Monate auf diese Debatte gehofft. Was wir stattdessen bekommen haben, waren neue und stärkere Repressionen. Die russischen Behörden haben die Snowden-Enthüllungen dazu benutzt, das Internet als CIA-Propaganda hinzustellen. Ich kann mich noch an Putins Kommentar „Das war doch klar“ erinnern. So rechtfertigte der Kreml massiven Druck auf Online-Aktivisten, Nachrichten-Plattformen und eben auch die vorhin angesprochene Gesetzgebung zu russischen Servern, weil die Daten ja woanders nicht mehr sicher seien.
Borogan: Es ist verrückt, jeder, der das Internet zensieren will, beruft sich in Russland auf Snowden.

WIRED: Da kann man ihm persönlich aber schlecht vorwerfen, oder?
Soldatov: Nein, kann man nicht. Und es ist auch gut, dass er jetzt klar Stellung bezogen hat. Aber Snowden hätte von Anfang an transparenter agieren müssen. Wir wissen von WikiLeaks, dass der FSB ihn aufgesucht hat, nachdem er damals in Russland ankam. Was dann passierte, weiß niemand. Und aus welchen Gründen auch immer redet Snowden mit niemandem darüber. Er muss natürlich nicht für die russischen Freiheitsrechte kämpfen, aber er hätte mit ein paar Sätzen die russische Propaganda zu seinen Enthüllungen entkräften können.

WIRED: Wird sich das „Red Web“, wie ihr es nennt, also stattdessen ausdehnen und der Widerstand dagegen versickern?
Soldatov: Wir sind nicht in der Position, der Opposition zu sagen, wie sie sich verhalten soll. Aber sie hat bislangkein Problem mit der Internetzensur als solcher, sondern mit ihrer eigenen analogen Message. Wenn man Oppositions-Führer fragt, was sie wollen, dann heißt es: „Putin muss weg“. Aber das reicht nicht. Das ist kein Narrativ, das es mit den Trollen und dem ohnehin ausufernden Patriotismus im Land aufnehmen könnte. Und so lassen sie das Internet als mächtiges Instrument eher für Putin arbeiten, als es selbst zu nutzen. 

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