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Zalandos Erfolgsgeheimnis: Ein bisschen Chaos

von Karsten Lemm
Mit voraussichtlich drei Milliarden Euro Umsatz steuert der Berliner Modehändler Zalando auf ein neues Rekordjahr zu. Dass die Geschäfte so gut laufen, liegt nicht zuletzt am Willen, sich mehr auf Teams zu verlassen, die eigenständig arbeiten — und dabei auch eine gezielte Dosis Chaos hinzunehmen.

Die Zalando-App, an der Fotis Dimanidis fieberhaft arbeitet, soll keine Schuhe präsentieren, keine Kleider zeigen, sie soll überhaupt nichts verkaufen. Sie dient einzig dem guten Zweck, für Flüchtlinge etwas zum Anziehen zu finden. Alle, die in der Not ihr Zuhause hinter sich gelassen haben, sollen in der Fremde ihr Handy befragen können: Wo gibt es in der Nähe Hilfsorganisationen, die eine Hose in der eigenen Größe haben? Oder Socken, Hemden, Jacken? Und für alle, die helfen können, soll es leichter werden, dass man sie findet. „Wir wollen versuchen, es beiden Seiten so einfach wie möglich zu machen“, erklärt Dimanidis.

Seit Montag programmiert der 31-jährige gebürtige Grieche mit seinem Team aus zehn Mitarbeitern an dieser App. Pünktlich zum Ende der Zalando-„Hack Week“ am Freitag ist eine erste Version fertig geworden, die es Nutzern erlaubt, mit ein paar schnellen Fingergesten nach den benötigten Kleidungsstücken zu suchen. Ein Prototyp, mehr nicht, aber er sollte reichen, um der Jury zu zeigen, worum es geht.

Mehr als 100 Projekte treten bei der Hack Week gegeneinander an, die der Online-Händler in diesem Jahr zum vierten Mal veranstaltet. Fast alle der gut 850 Software-Entwickler, die hier in Berlin Mitte in einem unscheinbaren grauen Betonklotz sitzen, kümmern sich in dieser Woche nicht um ihre üblichen Aufgaben, sondern dürfen sich Projekten widmen, die sie selbst entworfen haben. Mit Glück kommt am Ende etwas dabei heraus, das den Erfindern nicht nur Schulterklopfen und interne Auszeichnungen einbringt, sondern auch Zalando hilft — so wie die Bilderkennung aus der Hack Week 2013, die heute jeder Kunde in der Mobil-App wiederfindet: Handy-Kamera auf ein Kleidungsstück halten, klick, und Ähnliches bei Zalando finden.

„Wir haben uns gefragt: Wo kommt Innovation her?‘“, sagt Christoph Lange, VP Brand Solutions. Die Antwort lautete: „Auch aus den Teams.“ Eine Erkenntnis, die Zalando mittlerweile auch jenseits der Hack Week im Dezember umzusetzen versucht. Seit dem Frühjahr arbeitet das Unternehmen nach dem Motto „Radical Agility“ — einer Art Schlachtruf gegen die Gefahr, durch den eigenen Erfolg träge zu werden. Denn seit der Gründung 2008 stellt der Modehändler einen Wachstumsrekord nach dem nächsten auf. Aus 500 Millionen Euro Umsatz 2011 wurden nur drei Jahre später 2,2 Milliarden. Die Zahl der Mitarbeiter hat sich seither mehr als verdoppelt, von 4100 auf fast 10.000.

„Im März haben wir alles infrage gestellt, was wir machen“, erzählt Lange. Wachstum allein war den Gründern zu wenig, zu groß das Risiko, übermorgen von quirligeren Konkurrenten beiseite gedrängt zu werden. So beschlossen sie, Zalando neu aufzustellen, intern wie extern. Aus dem Onlinehändler, der Kleidung verkauft, in Kisten verpackt und verschickt, soll ganz allgemein die erste Adresse im Internet für alle Aspekte rund um Mode werden. Neben den eigenen Angeboten will Zalando auch verstärkt als Vermittler und Berater zwischen Fashion-Freunden und Modebranche auftreten. Intern zerschlug das Management die gewachsenen Strukturen und verlässt sich seitdem auf Teams, die koordiniert zusammenarbeiten, aber weitgehend autonom entscheiden und handeln können.

Chaos liegt nahe bei der Vorstellung, dass alle vor sich hin werkeln, wie sie möchten. Doch die Aussicht schreckt Eric Bowman nicht. „Ein bisschen Chaos ist uns ganz Recht“, sagt der 46-jährige Amerikaner, der als VP Engineering das Konzept der „radikalen Beweglichkeit“ mit umgesetzt hat. Lieber als Mitarbeiter, „die darauf warten, dass man ihnen sagt, was sie tun sollen“, seien ihm Dynamik, Experimentierfreude und selbst ein paar falsche Entscheidungen, erklärt er.

Gemeinsame Ziele, persönliche Verantwortung und ständige, unbürokratische Abstimmung miteinander — so will Zalando wachsen, ohne Fett anzusetzen, und dabei neue Märkte erobern. Neun Monate nach dem Umbau sieht Bowman das Experiment als geglückt an. Die flachen Strukturen mit eigenständigen Teams „erlauben uns, parallel zu arbeiten, ohne dass wir uns gegenseitig in die Quere kommen“, sagt er. „Wir haben das anfängliche Chaos gut genug in den Griff bekommen, um viele Fortschritte zu machen, die vorher undenkbar waren.“

Zahlen untermauern seinen Enthusiasmus: Schon im September hatte Zalando den Umsatz vom Vorjahr überholt, wahrscheinlich kommen für 2015 mehr als drei Milliarden Euro zusammen. Das Wachstum liegt in Deutschland immer noch bei mehr als 30 Prozent im Jahr, im übrigen Europa bei mehr als 40 Prozent.

Mehr Mitarbeiter müssen her, um den Ansturm zu bewältigen und all die Pläne umzusetzen, die sich die Teams und Manager ausdenken. Fotis Dimanidis, der Grieche mit der App für Geflüchtete, ist erst vor drei Wochen zu Zalando gestoßen. „Ich war auf der Suche nach einer neuen Aufgabe“, erzählt er, „und habe in einem Artikel über erfolgreiche deutsche Startups von Zalando gehört.“ Auch Daniel Franke ist Neuberliner: Vor zweieinhalb Monaten zog der Holländer aus Amsterdam an die Spree, um bei Zalando anzufangen. Es war kein Vergnügen. Wohnungssuche, Behördengänge, fehlendes Alltagswissen. „Ich fand vieles eher schwierig“, sagt Franke, und er wünsche sich, dass sein neuer Arbeitgeber besser für ihn da gewesen wäre. „Zalando kann mehr tun und sollte mehr tun.“

So entstand seine eigene Idee für die Hack Week: eine hausinterne Plattform, die Neu-Zalander künftig mit einem maßgeschneiderten Info-Paket in Berlin willkommen heißen soll. Tipps bekommen, Fragen stellen, Kollegen kennenlernen. „Jeder kann sich beteiligen“, sagt Franke. „Wir wollen erreichen, dass die Leute vor so großen Umzügen keine Angst mehr haben müssen.“ Um ihn herum sitzt sein Team, sie alle kennen das Problem: sieben Leute insgesamt, darunter ein Däne, ein Moldawe, ein Kanadier, ein Russe — kein einziger stammt ursprünglich aus Berlin. Das ist typisch Zalando, denn 80 Prozent der Mitarbeiter, die neu anfangen, kommen nicht aus Deutschland. Mehr als 100 Nationalitäten vereint die Belegschaft.

Keine Frage also, glaubt Franke: „Bei diesem Projekt können alle nur gewinnen.“ Die nächsten Neuankömmlinge hätten es leichter als er, und Zalando bekäme Mitarbeiter, die weniger gestresst sind. Sie könnten sofort loslegen mit ihrer Aufgabe, die Modewelt mit frischen Ideen zu erobern, und die Hack Week hätte sich wieder mal gelohnt.

Nachtrag: Fotis Dimanidis erhielt am Ende von der Jury gleich drei Preise, darunter den „Slingshot Award“, der es ihm und einem Team von bis zu vier weiteren Mitarbeitern erlaubt, künftig 20 Prozent ihrer Arbeitszeit in die Entwicklung der Flüchtlingshelfer-App zu investieren. Auch Daniel Franke erhielt zwei Auszeichnungen.

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