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Die Post-Antibiotika-Ära hat begonnen — was sollen wir tun?

von Chris Köver
Wissenschaftler warnen seit Jahren von der „post-antibiotischen Ära“, wenn kein einziges der uns bekannten Antibiotika mehr wirkt. Jetzt haben Forscher in China ein Bakterium entdeckt, dass gegen Colistin resistent ist – eines der Antibiotika „für den härtesten Fall“. Das erst verabreicht wird, wenn nichts mehr hilft. Stehen wir am Rand einer Zeit, in der Menschen wieder an einfachen Infektionen sterben werden? WIRED sprach mit Martin Kaase, stellvertretendem Leiter des Nationalen Referenzzentrums für gramnegative Krankenhauserreger an der Universität Bochum.

700.000 Menschen sterben jedes Jahr an Bakterien, die gegen fast alle bekannten Antibiotika resistent sind — das schätzt ein Bericht, den die britische Regierung 2014 in Auftrag gab. Im Jahr 2050, so vermuten die Forscher, könnte diese Zahl auf zehn Millionen im Jahr steigen. Das klingt nach einem Ende-der-Menschheit-Szenario wie aus einem schlechten Film, aber Wissenschaftler und Politiker warnen seit Jahren: Genau dieser Fall wird eintreten, wenn wir unseren Umgang mit Antibiotika nicht radikal ändern.

Die neueste alarmierende Nachricht stammt von Mitte November: Ein Forscherteam hat in China Bakterien entdeckt, die resistent gegen Colistin sind, eines der Antibiotika, die Ärzte normalerweise zurückhalten und erst dann verwenden, wenn kein anderes bekanntes Antibiotikum mehr hilft. Die Autoren der Studie gehen davon aus, dass sich dieser Resistenzmechanismus in absehbarer Zeit über die ganze Welt verbreiten wird. Wenn ein Patient in Berlin, Stuttgart oder Münster dann mit einem solchen multiresistenten Keim infiziert ist, wird es nichts mehr geben, was die Medizin noch für ihn tun kann. Ein fast unvorstellbares Szenario in einer Welt, die fast 90 Jahre nach der Entdeckung des Penicillins gewohnt ist, dass Lungenentzündungen oder Wundinfektionen nicht mehr mit dem Tod enden.

WIRED: Ein Forscherteam hat in China erstmals Bakterien entdeckt, die resistent gegen Colistin sind. Müssen wir uns Sorgen machen?
Martin Kaase: Eine Resistenz gegen Colistin gab es vorher auch schon, allerdings mit dem Unterschied, dass ein Bakterienstamm diese Resistenz erst durch zufällige Mutationen auf dem Genom entwickeln musste. Diesmal — und das ist besorgniserregend — ist der Resistenzmechanismus horizontal übertragbar, also von einem Bakterium auf ein anderes Bakterium. Innerhalb einer Spezies auf unterschiedliche Stämme, aber vermutlich auch über Speziesgrenzen hinweg.

WIRED: Das klingt ziemlich besorgniserregend?
Kaase: Bakterien können jetzt sehr viel schneller diese Resistenz erlangen. Und zwar auch ohne, dass sie je mit Colistin in Berührung kommen. Vorher musste ein Stamm mit dem Antibiotikum Kontakt haben, dann brauchte es den Zufall, bis sich eine Mutation entwickelte und es dadurch zur Resistenz kam. Jetzt kann das fertige Gen mit der Resistenz einfach von einem anderen Bakterium übernommen werden.

WIRED: Colistin ist derzeit das letzte Antibiotikum, das zum Einsatz kommt, wenn nichts mehr hilft?
Kaase: Es ist eins der Reserveantibiotika, die man bei sehr stark multiresistenten gramnegativen Bakterien einsetzen kann.

Wenn sich in erfolgreiche Bakterienstämme nun auch noch dieses Resistenz-Gen überträgt, wäre das sehr gefährlich.

WIRED: Aber nicht das einzige?
Kaase: Es gibt noch Alternativen, aber meist wird das Colistin verwendet. Wenn sich diese Resistenz ausbreitet, wäre das also hochdramatisch. Es gibt ja schon multiresistente Bakterien in Krankenhäusern. Wenn sich auf diese erfolgreichen Bakterienstämme, die bereits gegen viele andere Antibiotika resistent sind, nun auch noch dieses Colistin-Resistenz-Gen überträgt, wäre das sehr gefährlich.

WIRED: Laut dem Bericht haben Forscher in China in einem Fünftel der untersuchten Tiere resistente Bakterien entdeckt, aber nur bei einem Prozent der untersuchten Patienten, insgesamt 16 Menschen. Das klingt nicht nach sehr viel.
Kaase: Colistin wird in der Massentierhaltung sehr häufig eingesetzt. Wir müssen also befürchten, dass sich das Gen unter Tieren noch weiter ausbreiten wird — und aufgrund der Handelsbeziehungen sicher nicht nur in China, sondern weltweit. Wenn Bakterienstämme, etwa E. coli, dann nach dem Schlachten auch im Fleisch landen, können sie theoretisch auch in den menschlichen Darm gelangen.

WIRED: Dazu müsste man ein mit solchen Bakterien infiziertes Tier aber essen?
Kaase: Denkbar wäre auch, dass zum Beispiel befallene Fäkalien von diesen Tieren zum Düngen eingesetzt werden und die Bakterien eventuell auch auf Pflanzen landen. Vom ungegarten Fleisch könnten die Bakterien durch mangelnde Küchenhygiene auch auf andere Lebensmittel gelangen, zum Beispiel wenn das gleiche Messer oder Küchenbrett benutzt wird.

WIRED: Sie sagen die ganze Zeit „könnte“. Wie wahrscheinlich ist das denn?
Kaase: Dass sich dieser Resistenzmechanismus weltweit ausbreitet, halte ich für sehr wahrscheinlich. Wir wissen nicht, ob er sich nicht längst in andere Regionen ausgebreitet hat. Erst seit Erscheinen der Studie hat man angefangen, das zu untersuchen. Die Erfahrung aus der Vergangenheit zeigt, dass sich solche Resistenzen sehr schnell verbreiten. Es gibt zum Beispiel die NDM Carbapenemase, die eine Resistenz gegen andere wichtige Antibiotika vermittelt. Die ist erstmals um das Jahr 2005 in Indien aufgetreten, und es hat nur wenige Jahre gedauert, bis andere Bakterienstämme mit diesem ebenfalls horizontal übertragbaren Gen auch in Afrika, Europa und den USA aufgetaucht sind.

WIRED: Was würde es denn bedeuten, wenn diese Resistenz auch in Europa ankommt?
Kaase: Die Wahrscheinlichkeit wird steigen, dass Patienten ein multiresistentes Bakterium haben, das zusätzlich zu den bereits vorhandenen Resistenzen dann auch eine Colistin-Resistenz trägt.

Es wird Infektionen geben, die wir dann nicht mehr mit Antibiotika behandeln können.

WIRED: Werden wir dann Zustände haben wie vor der Erfindung des Penicillins, als Menschen regelmäßig an Lungenentzündungen oder infizierten Wunden gestorben sind?
Kaase: Die genannten Beispiele sind eher unwahrscheinlich, denn bei Lungenentzündungen oder Wundinfektionen, die außerhalb des Krankenhauses erworben werden, spielen andere Keime eine größere Rolle. Es wird aber andere Infektionen geben, die wir dann nicht mehr mit Antibiotika behandeln können. Denkbar wäre das etwa bei einem Patient, der auf der Intensivstation beatmet wird und dort eine Lungenentzündung bekommt, die von einem gramnegativen multiresistenten Erreger verursacht wird. Für solche Patienten gibt es dann kein Mittel mehr, das noch hilft. Außerhalb von Krankenhäusern spielen diese sehr ausgeprägt multiresistenten Erreger im Moment aber keine besonders große Rolle.

Harnwegsinfektionen werden auch durch E. coli hervorgerufen. Das heißt aber nicht, dass die Patientinnen ohne Antibiotika daran sterben.

WIRED: Antibiotika kommen ja auch bei Chemotherapien oder bei Standardeingriffen wie Hüft-OPs zum Einsatz. Werden diese Behandlungen in Zukunft zu gefährlich sein?
Kaase: So weit sind wir jetzt sicher noch nicht. Das Spektrum an Bakterienspezies, mit denen ein Mensch eine Infektion bekommen kann, ist relativ groß. Es gibt viele Infektionen, die nicht von den gramnegativen Bakterien verursacht werden, um die es in der neuen Studie geht. Und selbst bei den Infektionen, die von diesen Bakterien verursacht werden, gibt es unterschiedlich schwere Verläufe. Die Harnwegsinfektionen, die Frauen oft haben, werden zum Beispiel auch meistens durch E. coli hervorgerufen. Das heißt aber nicht, dass die Patientinnen ohne Antibiotika daran sterben. Normalerweise sind diese Infektionen auch ohne Antibiotikatherapie selbstlimitierend.

WIRED: Und bei schweren Infektionen, die sich nicht selbst limitieren?
Kaase: Bei solchen Infektionen sinkt die Überlebenswahrscheinlichkeit schon ohne wirksame Antibiotika. Wichtig ist: Diese Bakterien sind nicht zu vergleichen etwa mit Ebola: Es kann gut sein, dass ein Mensch diese Bakterien ein Leben lang in der Darmflora trägt, ohne je Nachteile daraus zu haben.

Das ist nicht Ebola: Ein Mensch kann diese Bakterien ein Leben lang in der Darmflora tragen, ohne je Nachteile daraus zu haben.

WIRED: Theoretisch könnte ich gerade mit multiresistenten E. coli durch die Gegend laufen und wüsste es nicht?
Kaase: Theoretisch ist das denkbar.

WIRED: Wenn abzusehen ist, dass bekannte Antibiotika demnächst wirkungslos werden, warum wird dann nicht viel mehr Zeit und Geld investiert, um neue zu erforschen?
Kaase: Weil das für Pharmaunternehmen nicht lukrativ ist. Wenn sie ein Medikament gegen Bluthochdruck entwickeln, nimmt das der Patient sein ganzes weiteres Leben. Ein Antibiotikum wird, wenn es hoch kommt, vielleicht zehn Tage gegeben auf einer Intensivstation und bei einer eng definierten Anzahl an Patienten. Gleichzeitig sind die Kosten in der Entwicklung extrem hoch.

WIRED: Wenn der Markt das nicht regelt, dann wäre es doch Aufgabe der Politik, dafür zu sorgen.
Kaase: Es gibt sicher mehrere Stellschrauben. Die Entwicklung neuer Antibiotika ist das eine. Die Verringerung des irrationalen Einsatzes in der Humanmedizin und im tiermedizinischen Bereich ist auch sehr wichtig. Außerdem natürlich die Krankenhaushygiene. Hier muss man sagen, dass es in Deutschland noch sehr gut aussieht. In einer Studie zu Carbapenemasen (dazu gehört auch der Resistenzmechanismus NDM, der 2005 in Indien auftauchte), die wir in Zusammenarbeit mit ausgewählten Krankenhäuser in ganz Deutschland durchgeführt haben, kam heraus, dass von über 400.000 aufgenommenen Patienten nur 22 einen solchen Erreger trugen – und von diesen hatten nicht einmal alle eine wirkliche Infektion mit dem Erreger. 

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