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„Homs After War“ zeigt uns, wie Drohnen, YouTube und HD das Berichten über Krieg verändern

von Cindy Michel
Völlige Zerstörung, hautnah und gestochen scharf — das zeigt das Drohnenvideo „Homs After War“. Vorbei an Trümmerhaufen und durch stählerne Gerippe fliegt der Zuschauer in dem Clip, der auf YouTube hochgeladen wurde und seitdem die Welt erschüttert. Im WIRED-Interview erklärt die Filmwissenschaftlerin Cilli Pogodda warum uns diese Bilder so berühren.

Anfang Februar lud Alexander Pushin das Video „Homs After War“ auf YouTube. Der Kameramann, der für das russische Staatsfernsehen arbeitet, hat sich mit seiner Firma Russia Works auf Drohnenvideos spezialisiert. Auf deren YouTube-Kanal finden sich viele weitere Clips, die ähnlich gefilmt und inszeniert sind. Das globale Kommunikationssystem YouTube dient ihm als Verbreitungskanal, seit Kurzem ist „Homs After War“ dort allerdings auf privat geschaltet, nur auf anderen Plattformen ist es noch zu finden.

Die Filmwissenschaftlerin Cilli Pogodda ist wissenschaftliche Mitarbeiterin beim DFG-Forschungsprojekt „Inszenierungen des Bildes vom Krieg als Medialität des Gemeinschaftserlebens“ am Seminar für Filmwissenschaft der FU Berlin. Für WIRED analysiert sie das Video und erläutert im Interview die komplexen Mechanismen hinter seiner Wirkung auf uns.

WIRED: Was war Ihr persönlicher Eindruck, als Sie „Homs After War“ zum ersten Mal sahen?
Cilli Pogodda: Ich war einmal mehr beeindruckt, welche Macht audiovisuelle Bilder haben: Man sieht diese Bilder und hat das Gefühl, sie verrieten einem etwas über den Krieg, das eine gewisse Relevanz und Wahrhaftigkeit hat. Das merkt man ja auch an den Reaktionen, die das Video bekommt. Das beeindruckt mich, weil ich um das Kalkül und die Gemachtheit der Bilder weiß und mich diesem Gefühl trotzdem nicht ganz entziehen kann.

WIRED: Wir sitzen vor dem Bildschirm, konsumieren und werden von den spektakulären Bildern mitgerissen. Wie kommt das?
Pogodda: Das hat damit zu tun, wie das Video uns als Zuschauer zum Geschehen positioniert und in welche Wahrnehmungsperspektive uns seine Formalität versetzt. Das Wahrnehmungserlebnis bei diesem Video ist geprägt durch die Bewegung und Perspektive der Kamera: Wir nehmen einen Blickpunkt ein, der maximale Übersicht verspricht. Gleichzeitig vollführt die Kamera einen eleganten „Tanz“ an den Gebäuden entlang und darüber hinweg. Unterstrichen wird dies von den sphärischen Klängen der Musik, die die Kamera noch zu tragen scheinen. Dies alles verleiht den Bildern eine gewisse Erhabenheit. Zum einen erscheinen die Gebäude und ihre Zerstörung dadurch monumental. Zum anderen wird der Zuschauer in eine erhabene Wahrnehmungsposition versetzt.

Es gibt kein Bild ohne Inszenierung.

WIRED: Spielen die Bilder spielen also mit dem menschlichen Bedürfnis, zu gaffen? Einerseits finden wir sie Bilder grausam, andererseits erfreuen wir uns an ihrer — und dem Glück, nicht selbst dort unten in den Trümmern sein zu müssen?
Pogodda: Die Bilder sind auf der einen Seite natürlich erschütternd, aber zugleich, und das ist der Knackpunkt, liegt auch ein gewisser Genuss darin, sich in diese Perspektive zu begeben und diesen Tanz mitzumachen. Diese Inszenierung versetzt den Zuschauer in eine Position, in der er den totalen Überblick hat und leicht und elegant über die Trümmer hinweg fliegen kann, während die syrischen Menschen nur vereinzelt als winzige Gestalten dort unten im Chaos zu sehen sind. Das suggeriert dem Zuschauer eine gewisse Handlungsmacht, die den Menschen vor Ort zugleich abgesprochen wird.

WIRED: Sind das gängige Inszenierungsmuster?
Pogodda: Diese Muster kennen wir auch aus dem Kino, unter anderem aus US-amerikanischen Genrefilmen. Filmische Inszenierungsformen sind sehr viel tiefgreifender mit Berichterstattung verschränkt, als die meisten es vermuten würden. Das kann man schon in den Newsreels aus dem Zweiten Weltkrieg beobachten.

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WIRED: Überspitzt formuliert wird das Genrekino also zum Vorbild für Kriegsberichterstattung. Was hat das noch mit authentischer Berichterstattung zu tun?
Pogodda: Die Frage nach der Authentizität von Bildern treibt unsere Kultur geradezu um. Dahinter steht der Glaube, es gebe eine verborgene Wahrheit über den Krieg hinter diesen Bildern, die man nur zu enthüllen braucht, indem man die Bilder ihrer Inszenierung entkleidet. Das ist schlicht ein Irrglaube, denn es gibt kein Bild ohne Inszenierung. Man kann ja nicht einmal eine Kamera aufstellen, ohne dabei im ganz wörtlichen Sinne eine bestimmte Perspektive einzunehmen. Genau hier liegen die wirklich interessanten Fragen, denke ich: Wie werde ich als Zuschauer durch die Inszenierung positioniert, wie wird mir die Welt gezeigt, die da zu sehen ist, und welche Art des Denkens und Fühlens über diese Welt wird mir hier vorgegeben? Das verrät viel mehr über eine Kultur und ihre Politik als die Frage nach einer Wahrheit, die man im Inhalt der Bilder finden könnte.

(Dieses Video wurde ebenfalls von Russia Works auf YouTube gepostet)

WIRED: Unscharfe, verwackelte Bilder aus Kriegsgebieten scheinen der Vergangenheit anzugehören. Aufnahmen aus dem Syrienkrieg sind meist gestochen scharf, in HD und mittlerweile oft aus der Perspektive einer Drohne aufgenommen. Läutet diese technische Entwicklung eine neue Ära der Kriegsberichterstattung ein?
Pogodda: Es stimmt sicherlich, dass mit dem Fortschritt der technologischen Entwicklung auch in immer höherem Maße scharfe Bilder des Krieges verfügbar werden. Jedes neue Smartphone kann heute HD-Videos aufnehmen, also werden die Bilder der Handykameras aus dem Kriegsgebiet zwangsläufig immer schärfer. Es stimmt auch, dass jeder Krieg aufgrund des medientechnologischen Fortschritts durch spezifische technisch bedingte Bildformen geprägt ist, und momentan markieren sicherlich die Drohnenvideos eine charakteristische Neuerung.

Demokratisierung der Berichterstattung? Ich wäre da vorsichtig.

WIRED: Das Kameraauge blickt heute weiter und auch viel genauer. Wird dadurch mehr Wahres vom Krieg sichtbar?
Pogodda: Das glaube ich nicht. Schon die Kinoprojektionen der Wochenschauen im Zweiten Weltkrieg beispielsweise dürften wesentlich schärfer gewesen sein als die Fernsehbilder des Vietnamkriegs oder viele der Handyvideos aus Afghanistan oder dem Irak. Heute erscheinen sie uns artifiziell, weil ihre Inszenierung, die Art und Weise, wie sie über den Krieg „sprechen“, uns fremd erscheint. Dennoch haben die Zuschauer diesen Bildern damals genauso geglaubt wie wir heute den vermeintlich authentischen Handy- oder Drohnenbildern aus den Krisengebieten der arabischen Welt. Mit der Digitalisierung der Kommunikationsmedien gibt es eine enorme Ausdifferenzierung und Dezentralisierung der Möglichkeiten, durch audiovisuelle Bilder über den Krieg zu sprechen, und das ist das interessante hier, denke ich. Da ist das HD-Bild nur eine technologische Errungenschaft unter vielen.

WIRED: Thema Dezentralisierung: „Homs after War“ wurde unter anderem auf YouTube hochgeladen. Schaut man die Plattform durch, auf die fast die ganze Welt Zugriff hat, stellt man schnell fest, dass es hier eine riesige Masse an Filmen aus Krisengebieten gibt. Inwiefern verändert YouTube die Kriegsberichterstattung?
Pogodda: Wir haben es heute mit einer unüberschaubaren Flut audiovisueller Bilder vom Krieg zu tun, und YouTube spielt sicherlich eine zentrale Rolle bei der Verteilung dieser Bilder und bei der Erzeugung von Aufmerksamkeit. Die Dezentralisierung der Bildproduktion, die wir heute beobachten können, wäre ohne eine Plattform wie YouTube nicht denkbar. Hier ist oft von einer Demokratisierung der Berichterstattung die Rede. Ich wäre da vorsichtig. YouTube ist Teil eines gewaltigen globalen Kommunikationsystems, in dem komplexe Mechanismen am Werke sind und Bilder auf sehr dynamische Weise zirkulieren.

Jede Kultur bringt Muster hervor, durch die eine Verständigung über den Krieg erst möglich wird.

WIRED: In einem globalen Kommunikationssystem stehen arabische Aufnahmen neben beispielsweise deutschen oder japanischen. Kann man in den Videos kulturell geprägte formale Unterschiede erkennen?
Pogodda: Das Bildmaterial gliedert sich immer wieder in bestehende Strukturen ein: Auch vermeintlich authentische Handyvideos wie die aus Syrien stehen nicht für sich, sondern folgen eben bestimmten Wahrnehmungsmustern und Inszenierungsformen, und sie antworten auf andere Bilder und Videos. Jede Kultur bringt Ordnungsmuster hervor, innerhalb derer eine Verständigung über den Krieg erst möglich wird, und dabei geht es nicht nur um Faktenvermittlung, sondern auch und vor allem um moralische und emotionale Haltungen und Bewertungsmuster. Inszenierungsformen spielen dabei eine große Rolle, ob in Nachrichtensendungen, im Dokumentarfilm oder im Handyvideo. Auf YouTube lässt sich beobachten, dass dies weniger institutionell angetrieben wird als vielmehr durch kulturelle Dynamiken.

WIRED: Inwiefern fördern oder schwächen globale Kommunikationssysteme und ihr Wust an Material die Glaubwürdigkeit von Bildern?
Pogodda: Bilder können überhaupt erst glaubwürdig werden, wenn sie sich in bestimmte kommunikative Strukturen einfügen und in dieser oder jener Weise perspektiviert werden. Das hat nichts damit zu tun, das ihr Wahrheitsgehalt größer würde — den kann man in meinen Augen sowieso schlicht nicht ergründen —, sondern dass sie innerhalb dieser oder jener Kultur bewertet werden können, politisch, aber auch emotional und moralisch. Was bedeuten diese Bilder für uns und für mich als politisches, denkendes und fühlendes Wesen? Was sagen sie mir darüber, wie sich Krieg „anfühlt“ und was er für mich als Teil einer Gesellschaft bedeutet? Deshalb entstehen auch auf YouTube immer wieder neue Strömungen, Genres, Mini-Genres und bildschaffende Bewegungen, die den „Wust“ strukturieren.

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