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„Spotify und Apple Music sind ein Segen“: Der Chef von Sony Music im WIRED-Interview

von Bernd Skischally
Aufatmen bei der Musikindustrie: Für 2015 meldet die Branche ein Plus von 4,6 Prozent. Besonders Streaming boomt und ließ zusammen mit Downloads und herkömmlichen CD-Verkäufen den Umsatz auf 1,55 Milliarden Euro steigen. Also alles wieder gut? WIRED hat mit Philip Ginthör gesprochen, dem Chef von Sony Music Deutschland, Schweiz und Österreich.

Musik auf Abruf liegt schwer im Trend: Ende vorigen Jahres hörten deutsche Musikfans 617 Millionen Songs pro Woche über Streaming-Dienste wie Spotify und Deezer — für den Bundesverband Musikindustrie (BVMI) ein Grund zum Jubeln, denn die Einnahmen aus dem Streaming-Geschäft verdoppelten sich 2015 gegenüber dem Vorjahr. Insgesamt lagen die Umsätze mit 1,55 Milliarden Euro beinahe wieder auf dem Niveau von 2009. Und bei aller Freude über die neuen Klangwunder aus den Wolken zeigen sich die Deutschen der Musik zum Anfassen weiter eng verbunden: CDs, Schallplatten und Bluray-Disks machen immer noch 69 Prozent der Verkäufe aus — wobei Vinyl, romantisch verklärt, sein Erfolgslied in einer sehr überschaubaren Nische von drei Prozent spielt.

Wie geht es weiter? Naht ein neues goldenes Zeitalter für Künstler und Label? Kann man mit Spotify-Gebühren wirklich genug verdienen? Warum liegt die deutsche Musikindustrie weiterhin mit Youtube über Kreuz? Und wozu braucht die moderne Musikwelt überhaupt noch große Plattenfirmen? WIRED traf Philip Ginthör, CEO von Sony Music Deutschland, Schweiz und Österreich, um Antworten zu finden.

WIRED: Herr Ginthör, Sie sind eine Ausnahme in der Musikindustrie: Statt Verluste zu beklagen, bemühen Sie sich seit Jahren um Aufbruchstimmung. Worauf stützen Sie Ihre Zuversicht?
Philip Ginthör: Fakt ist, dass im Jahr 2015 der deutsche Musikmarkt wieder um fast fünf Prozent gewachsen ist. Das ist ein Grund zum Optimismus. Es zeigt, dass Phänomene wie das Streaming — ganz klar ein Zugpferd der Kreativbranchen — den Mainstream erreicht haben. Dazu kommt: Der deutsche Markt ist im internationalen Vergleich sehr gesund in seiner Struktur. Wir haben eine unglaubliche Formatvielfalt. Das ist einzigartig, das gibt es in anderen Märkten nicht mehr so.

WIRED: Woran liegt das?
Ginthör: Es hat viele Ursachen. Eine ist: Das vor Jahren von allen prognostizierte, erdrutschartige Verschwinden der CD hat in Deutschland nicht stattgefunden. Was wir eher beobachten, ist ein langsamer Wechsel von physischen zu digitalen Formaten. Der deutsche Digitalmarkt hat sich vielleicht etwas weniger dynamisch entwickelt als in anderen Ländern, aber die Entwicklung war gesund — erst mit dem Download-Geschäft, jetzt mit dem Streaming. Und wir sind ausdrücklich daran interessiert, dass es viele Anbieter gibt, die Musikfans bedienen, egal ob die sich Vinyl wünschen, eine Bravo-Hits-CD suchen oder die neuesten Hits von Adele per Streaming hören möchten. Musik muss auf möglichst viele Arten zur Verfügung stehen, jeweils zu einem attraktiven Preis. Dann funktioniert das Geschäft auch weiterhin, und das sieht man in Deutschland.

WIRED: Nutzen bestimmte Musikhörer manche Formate mehr als andere?
Ginthör: Ja. Deutschrap ist ein gutes Beispiel dafür: Die Zielgruppe ist sehr jung, aber Fans von Kollegah & Co. kaufen immer noch vor allem CDs. Da geht es, denke ich, sehr um das Abheben von anderen: Der physische Faktor — Ich besitze die CD — ist wichtiger als bei anderen Musikstilen. Gern wird die Musik auch gemeinsam mit T-Shirts und anderen Fan-Artikeln gekauft. Man bekommt ein ganzes Lifestyle-Paket, und das schätzt die junge Zielgruppe wahnsinnig.

WIRED: Ältere wiederum holen sich Vinyl?
Ginthör: Vinyl bekommt seit Jahren überproportional viel Aufmerksamkeit, denn im Gesamtmarkt sind Platten-Käufer weiterhin eine eher kleine Gruppe. Sie machen gerade mal drei Prozent der Einnahmen aus. Aber das Fantastische an Musik ist ja, dass es so viele Aspekte gibt. Für manche Menschen bedeutet Musik: Feiern gehen, Party machen. Andere wollen entspannen, suchen Trost in ihren Lieblingssongs oder wollen sich von einer Symphonie inspirieren lassen. Und natürlich gibt es die Liebhaber, die aktiv sammeln. All diese Aspekte rund um das Kulturgut Musik müssen von uns bedient werden.

Musik ist mehr wert als früher

WIRED: Die große Klage Ihrer Industrie in der Digitalwelt ist ja: Musik ist allgegenwärtig, und zugleich fällt der Wert nahezu ins Bodenlose. Haben Sie das Gefühl, die Wende ist geschafft?
Ginthör: Da stimme ich nicht überein. Musik ist mehr wert als früher, was man an den eben zitierten Zahlen sieht. Die drei Komponenten Allgegenwärtigkeit, mobile Verfügbarkeit und sozialer Konsum halte ich für die wichtigsten Treiber des digitalen Geschäfts. Technologien, die es schaffen, diese drei Dinge gut zu vereinen, gehören für mich zu den wertvollsten Innovationen im Musikbereich.

WIRED: An welche Beispiele denken Sie?
Ginthör: An Spotify und Apple Music etwa. Solche neuen Arten, Musik zu entdecken, Musik zu genießen, sind ein Segen und eine große Chance für uns alle — auch für unsere Künstler. Dass sich die Wege ändern, Geld zu verdienen, ist normal. Das passiert in jeder Branche als Folge des digitalen Wandels. Wichtig ist, dass Künstler die Chance bekommen, auch mit Hilfe von digitalen Business-Modellen Geld zu verdienen. Aber diese Aussage „Musik ist jetzt überall, und deswegen ist sie weniger wert“ halte ich für viel zu kurz gegriffen — gerade mit Blick auf die rasanten digitalen Entwicklungen, die wir überall beobachten.

WIRED: Viele Künstler sehen gerade bei Streamingdiensten kaum eine Chance, Geld zu verdienen, weil jeder Abruf nur Bruchteile von Cents einbringt.
Ginthör: Wir sind an diese Dienste mit individuellen Verträgen gebunden, über die ich natürlich nicht sprechen kann. Aber: Alle arbeiten mit legalen, sauber etablierten Geschäftsmodellen, und Künstler bekommen ihren Share genauso wie bei einem physischen Produkt. Sie werden im Digitalen sogar mindestens so gut beteiligt wie bei CD-Verkäufen.

WIRED: Die Wahrnehmung der meisten Künstler ist eine völlig andere.
Ginthör: Die Wahrnehmung ist eine andere, weil die Funktionsweise eines Streamingdienstes eine ganz andere ist. Beim Verkauf einer CD fällt einmalig ein Betrag an, etwa 9,99 Euro, genauso wie beim Download einer Single für 0,99 Cent. Und an dieser Summe wird der Künstler je nach seinen individuellen Verträgen beteiligt. Beim Streaming dagegen wird nicht einmalig für ein Produkt bezahlt, sondern für die Nutzung. Das heißt natürlich auch, dass die Summe, die als Umsatzbeteiligung pro Stream anfällt, viel, viel kleiner ist. Doch das sammelt sich an. Wenn Songs viel gehört werden, laufen bei den Künstlern mit der Zeit hohe Umsätze auf. Wenn ich einen richtigen Hit habe, verdiene ich über die Jahre viel mehr, als wenn ich ein paar hunderttausend CDs oder Downloads verkaufe.

WIRED: Stimmt das wirklich? Musiker, die eher zur großen Mitte als zu den Spitzenverdienern gehören, beklagen, dass sie selbst mit Hunderttausenden von Plays nicht über die Runden kommen. Irgendwo muss ein Fehler in der Rechnung stecken.
Ginthör: Früher war es für viele Künstler in der Nische überhaupt nicht möglich, ihre Musik zu vertreiben und Fans zu finden. Das geht heute viel einfacher. Manche Künstler, die vorher überhaupt nichts verdienen konnten, sehen Streaming sehr positiv, weil sie es schaffen, ihre Musik einem weltweiten Publikum anzubieten, ohne dass sie selber Kosten für Pressungen oder Vertrieb oder sonst etwas tragen müssten. Was stimmt: Streaming steht noch am Anfang und muss sich vielleicht noch zum wahren Massenphänomen entwickeln. Ich glaube aber, dass Streaming in der Summe zu höheren Einnahmen führen wird, auch für die Künstler. Im vorigen Jahr haben sich die Streaming-Umsätze nahezu verdoppelt.

WIRED: Lange galt in der Musikindustrie der Grundsatz: Kostenlos gibt’s nicht. Heute schalten zwei Drittel der Spotify-Nutzer ein, ohne für ein Abonnement zu zahlen.
Ginthör: Mit Spotify gelingt es uns, wieder sehr junge Menschen an das Bezahlen heranzuführen — also eine Gruppe, die fast über eine Generation hinweg gar nicht mehr bereit war, für Musik Geld auszugeben. Da finde ich es in Ordnung, über ein Freemium-Modell einzusteigen, um die eifrigsten Nutzer zu zahlenden Kunden zu machen. Wir sehen in Märkten wie Schweden, wie gut das funktionieren kann. Nach Pirate Bay war dieser Markt tot. Dann kam Spotify, der Markt ist wieder kontinuierlich gewachsen und kann heute auf eine florierende, gesunde Musikszene blicken.

WIRED: YouTube hat in Sachen Musikvideos längst MTV abgelöst und liegt auch beim reinen Musikhören ganz weit vorn — jedenfalls international. In Deutschland dominiert der Streit zwischen YouTube und Gema.
Ginthör: Über die Verhandlungen kann ich nichts sagen, da wir nicht am Verhandlungstisch sitzen. Aber ich habe eine klare Meinung dazu: YouTube ist weltweit die größte Musikabspiel-Plattform, wenn nicht sogar die größte Medien-Plattform überhaupt, die es derzeit gibt. YouTube bietet den Konsumenten und den Künstlern sehr viel Gutes. Dennoch müssen Künstler für ihre Inhalte im digitalen Zeitalter fair entlohnt werden.

WIRED: Und zwar wie? Stehen Sie voll hinter den Gema-Forderungen?
Ginthör: Wie gesagt, wir führen diese Verhandlungen nicht. Es geht schlicht um einen faireren Ausgleich zwischen dem, was Google anbietet, und dem, was sie an den Inhalten verdienen, die ihnen von unseren Künstlern zur Verfügung gestellt werden.

Der Mainstream zerfällt

WIRED: Haben die Label nicht genügend Macht, sich gegen Google durchzusetzen?
Ginthör: Der Markt ist in Deutschland so strukturiert, dass die Gema das Mandat hat, diese Diskussion im Sinne der Künstler zu führen und eine Lösung zu finden. Wir hoffen auf eine baldige Einigung. Wann die kommt, ist derzeit leider nicht abzusehen.

WIRED: Wenn man Musik überall und zu jeder Zeit abrufen kann und nicht mehr — wie früher mal — das halbe Taschengeld für jede Platte hinlegen muss, ändert das nicht auch das Verhältnis zwischen Fans und Musikern? Wie bildet sich bei dem nahezu beliebigen Hin- und Herspringen ein inniges Verhältnis zu den Künstlern?
Ginthör: Ich glaube, die Frage muss man größer fassen. Denn in allen kulturell geprägten Bereichen, auch in der Mode oder der bildenden Kunst, sehen wir eine ähnliche Entwicklung. Auf der Berlin Fashion Week etwa werben manche Label damit, dass sie gar keine Handschrift mehr haben. Hersteller und Konsumenten passen sich einander viel stärker an als früher. Der sehr freie, sehr schwellenlose Zugang zu Produkten in digitalisierter Form führt natürlich dazu, dass sich das, was wir als Mainstream aus den großen Jahrzehnten der Popkultur kennen, sehr stark verändert. Nischen werden größer. Es entstehen überhaupt viel mehr Nischen. Die Verbindlichkeit eines Mainstreams, vor allem eines Mainstreams, der industriell hergestellt wird, nimmt dagegen deutlich ab. Man könnte sagen: Der Mainstream, wie wir ihn bisher kannten, zerfällt.

WIRED: Das werden Adele und Helene Fischer mit Überraschung hören.
Ginthör: Das ist natürlich die Magie der Musik, dass sie uns alle zusammenbringen kann. Und in dieser Hinsicht sind wir Label auch sehr altmodisch: Wir fragen uns noch immer jeden Tag in der Früh: Wo sind die Talente, auf die sich alle einigen können? Und wir glauben daran — es gibt sie. Sie werden nur weniger. Dieses eine große Narrativ zerfällt in kleine, sich überschneidende oder nebeneinander herlaufende Entwicklungen.

WIRED: Wie sehr hatte das Phänomen der Gigastars von einst — ob Madonna oder Michael Jackson — damit zu tun, dass Sie als Label das Entdecken steuern konnten, weil Sie Vermittler waren zwischen Talenten und Publikum?
Ginthör: Es war eng verbunden. Eine Platte aufzunehmen war damals ja noch erheblich teurer als heute und für Künstler fast ausschließlich in Partnerschaft mit einer Plattenfirma möglich, genau wie der weltweite Vertrieb und die Promotion. Das hat sich natürlich geändert. Der Anspruch des Majors ist zwar immer noch, diese Infrastruktur zur Verfügung zu stellen, und sie wird auch dankend genutzt. Aber ein Künstler, der das nicht möchte, kann sein Produkt heute eben trotzdem veröffentlichen. Die Gigastars sind auf dem Boden einen sehr starken, weltweiten Major-Kultur gewachsen. Die Relevanz großer Label ist ungebrochen.Das sehen wir auch am Wandel der vergangenen Jahre: Allein über das Internet ist kein einziger Popstar groß geworden. Es wurden natürlich viele neue Talente über das Internet entdeckt, und digital sind ganz neue Promotion-Aktivitäten entstanden. Aber am Ende sind alle großen Künstler von Major-Labeln unter Vertrag genommen und gefördert worden.

Piraterie bleibt eine Herausforderung.

WIRED: Wie machen Sie Künstler, die Sie neu entdecken, einem größeren Publikum bekannt?
Ginthör: Am wichtigsten ist Social Media, an zweiter Stelle das Radio. Die Bedeutung des Radios hat wieder zugenommen, auch deshalb, weil wir eine enge Verzahnung erleben mit dem, was online passiert. Wenn Menschen Musik übers Radio kennenlernen, werden Songs gezielt gesucht – über Shazam, über Streaming-Dienste. Aber auch umgekehrt: Radios informieren sich sehr genau, was im Netz passiert, greifen Trends auf und bringen sie zu den analogen Medien zurück.

WIRED: Wie groß ist das Problem der Piraterie noch für die Musikindustrie?
Ginthör: Piraterie ist eine bleibende Herausforderung. Aber wir haben das Thema rechtzeitig so massiv und dringlich behandelt, dass die Dimensionen heute andere sind als noch vor zehn Jahren. Das ist wirklich der Etablierung von digitalen Geschäftsmodellen zu verdanken. Lange war das Glas aus Sicht der Musikindustrie nur noch halb voll. Aber meine optimistische Sicht war immer: Wir können es auch wieder ganz voll bekommen. Man muss die Zukunft in diesem Sinne eben auch umarmen und neue Modelle bieten. Die einzige Art, Piraterie zu bekämpfen — davon war ich von Anfang an überzeugt —, ist es, Musikfans etwas zu bieten, das Nutzen entfaltet. Und nicht, wie es lange gemacht wurde, die Kernkunden im Prinzip für ein fehlendes Angebot verantwortlich zu machen. 

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