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CrimeWatch / Wie Realfakes andere Menschen beim Online-Flirt in die Irre führen

von Sonja Peteranderl
Mit komplexen Lügengeschichten und einem Netzwerk aus Fake-Identitäten bauen sogenannte Realfakes im Internet Beziehungen auf — und täuschen dabei auch eigentlich netzaffine Menschen.

Online-Flirts sind Alltag, Geschichten über Fakes leider auch: Scammer tasten sich im Internet an ältere Singles heran, um sie um Geld zu erleichtern. Flirtplattformen wie das gehackte Portal Ashley Madison erschaffen Armeen von weiblichen Bots, die mit männlichen Kunden chatten. Doch meistens bleibt das Gefühl, dass es einen selbst nicht treffen kann, weil man Fake-Profile ja sofort erkennen würde (oder gar nicht auf Flirtportalen unterwegs ist).

Doch sogenannte Realfakes täuschen selbst medienkompetente Internetnutzer, bauen mit virtuellen Identitäten und komplexen Lügengebilden virtuelle Beziehungen auf — und haben dabei anders als klassische Betrüger keine finanziellen Motive. „Die Vorstellungen sind sehr eingeschränkt, wie solche Fakes arbeiten“, sagt Victoria Schwartz, Journalistin, Gründerin der Aufklärungsplattform Realfakes.net und Autorin des Buchs „Wie meine Internet-Liebe zum Albtraum wurde“.

Schwartz ist heute Expertin für „Realfakes”, weil sie selbst betroffen war. Auch sie dachte lange, dass sie Fake-Accounts sofort erkennen würde. Dann verliebte sie sich online in eine Frau, die sich als Mann ausgab, allein auf Facebook 24 Accounts betrieb, ihre Geschichte mit Profilen auf anderen Plattformen und einer Clique von Fake-Freunden authentisch gestaltete. Sie schickte Victoria Schwartz von einem fremden Facebook-Profil gestohlene Fotos und Videos und nutzte bei Telefonaten eine Software, die die Stimme verzerrt.

Viele bauen ein kleines Netzwerk an Fake-Accounts auf, um glaubwürdig zu sein.

Victoria Schwartz

Ein Extremfall, aber kein Einzelfall. „Viele Realfakes bauen zumindest ein kleines Netzwerk an Fake-Accounts auf, um glaubwürdig zu sein und spinnen dann Geschichten um diese Freunde herum“, sagt Schwartz. Die virtuellen Identitäten sind überzeugend gestaltet: „Die Hauptopfergruppe ist zwischen 20 und 30 Jahre alt, Frauen und Männer. Das sind alles Leute, die mit dem Netz aufgewachsen sind, die medienkompetent sind und für die das Netz zum Alltag gehört.“

Fazit: Jeden kann es treffen. Die meisten Beziehungen mit Realfakes beginnen nicht auf Dating-Plattformen wie Tinder oder OKCupid, sondern entwickeln sich zum Beispiel aus Chats in sozialen Netzwerken, wie auf Twitter oder Facebook. Aus Freundschaft entwickelt sich langsam emotionale Nähe, eine virtuelle Beziehung. Bei Dating-Apps wollen viele Nutzer sich möglichst schnell treffen — das Ziel von „Realfakes“ dagegen ist es, ein Treffen so lange wie möglich hinauszuzögern, oft mit skurrilen Ausreden.

Die Motive der Täter und Täterinnen sind wissenschaftlich kaum erforscht. Bei komplexen Täuschungsgeschichten seien oft tiefergehende psychische Probleme der Hintergrund, sagt Schwartz, die für ihr Buch auch Psychologen befragt hat. So könnten etwa eine Borderline-Persönlichkeitsstörung oder eine Selbstunsicher-vermeidende Persönlichkeitsstörung Ursachen sein. Hinter den Realfakes können Menschen stecken, die sich ausgegrenzt oder einsam fühlen, die sich online eine Rolle erschaffen, die ihr Ich in optimierter Form zeigt. Manche experimentieren im Netz mit ihrer sexuellen Identität, bevor sie ihr Coming-Out haben Andere genießen Macht und Kontrolle.

Den Tätern, mit denen Schwartz gesprochen hat, war in den meisten Fällen gar nicht bewusst, was sie anrichten. Viele verteidigten sich damit, dass sie nicht viel gelogen hätten, eben nur eine falsche Identität benutzen würden, während die Gefühle echt seien, und damit, dass sie in den Gesprächen auch von sich erzählen, sich authentisch fühlen.

Die Dunkelziffer ist hoch, weil die Opfer sich scheuen, über ihre Erfahrungen zu sprechen. „Wenn man damit an die Öffentlichkeit geht und wenn ein Opfer es Freunden erzählt, heißt es sofort: Das kommt davon, wenn man online eine Beziehung beginnt, man soll sofort die Finger vom Internet lassen, man sieht doch, dass das ein Fake ist”, sagt Victoria Schwartz. Sie war eine der ersten, die ihre Erfahrung öffentlich gemacht hat. Alle zwei bis drei Tage erhält sie seitdem E-Mails von Betroffenen, bisher haben sich fast 300 bei ihr gemeldet.

Rechtliche Mittel haben die Getäuschten nicht, weil die Fakes keinen finanziellen Betrug betreiben.

Ein einfacher Bildercheck oder eine Google-Suche reicht bei komplexen Fake-Identitäten nicht aus, um die Lügen auffliegen zu lassen. Schwartz recherchierte ihrem Online-Flirt zehn Monate lang hinterher, um ihr Gegenüber zu enttarnen. Ein Foto hatte Schwartz misstrauisch gemacht, das ihren Flirt angeblich in einer deutschen Stadt zeigte — doch im Hintergrund war eine amerikanische Steckdose sehen. Die Hemmschwelle, das Gegenüber mit einem Anruf beim angeblichen Arbeitgeber oder beim Einwohnermeldeamt zu überprüfen, sei hoch: „Wenn man nicht zu 100 Prozent weiss, ob jemand falsch ist, denkt man immer: Was ist, wenn der Typ doch echt ist“, sagt Schwartz. „Leuten hinterherzuspionieren, die man eigentlich mag, ist schwierig.“

Betroffene wissen oft nicht, an wen sie sich wenden sollen. Es gibt keine Selbsthilfegruppe, auch für Telefonseelsorge-Stellen ist das Thema neu. Auf der Plattform Realfakes.net klärt Schwartz deshalb ehrenamtlich über klassische Vorgehensweisen von Fakes auf und nennt Check-Möglichkeiten. Betroffenen hilft sie dabei, Fotos, Webseiten und Profile von möglichen Fakes zu analysieren, und hört sich ihre Geschichte an.

Rechtliche Mittel haben die Getäuschten nicht, weil die Fakes keinen finanziellen Betrug betreiben. Im Gegenteil: Oft beschenken sie ihre Online-Flirts sogar. Doch der emotionale Schaden nach wochen- oder monatelangen Täuschungen ist bei vielen dramatisch. Einige Betroffene leiden unter Selbstmordgedanken, Depressionen, Vertrauensverlust oder Angstzuständen. „Ich versuche sie notfallmäßig aufzufangen, und sage ihnen, wenn ich das Gefühl habe, das sie eine Behandlung brauchen“, sagt Victoria Schwartz.

Die wichtigste Hilfe ist jedoch Prävention, durch Aufklärung und viel Öffentlichkeit: „Es ist wie ein Zaubertrick — wenn du einmal gehört hast, wie es funktioniert und was für einen hohen Aufwand die Realfakes betreiben, fällst du nicht mehr darauf rein.“ Schwartz' Perspektive auf Onlinebekanntschaften bleibt pragmatisch: Sie habe viele gute Erfahrungen gemacht — aber eben auch eine schlechte. 

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