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Studie zu Hate Speech: Netzhetzer kommentieren lieber unter vollem Namen

von Chris Köver
Hass, Hass, Hass: Dass im Netz auf eine Art diskutiert wird, die sich im echten Leben kaum jemand leisten würde, wird oft mit der Anonymität erklärt. Eine Studie der Universität Zürich fand jetzt allerdings heraus, dass Hetze und Beleidigung gegen andere eher unter Klarnamen gepostet wird als anonym. Steht eine unserer liebsten Grundannahmen zum Asozialverhalten im Netz in Frage?

Eine der beliebtesten Küchenpsychologien des Netzes geht so: Die Anonymität ist schuld daran, dass Debatten im Internet so schnell in die unteren Stockwerke der sozialen Umgangsformen absacken. Die Anonymität ist Schuld, dass Beleidigungen, Drohungen und schlimmere Dinge in die Tastatur gehackt werden, die wir uns aus Scham in einer direkten Begegnung niemals ins Gesicht sagen würden.

Eine neue Studie der Universität Zürich stellt diese Ur-Erzählung der Netzkultur jetzt infrage. Die Soziologinnen Katja Rost und Leah Stachel und der Ökonom Bruno S. Frey kommen darin zu dem Schluss, dass Kommentatoren, die unter ihrem vollen Namen auftreten, im Schnitt sogar aggressiver sind als jene, die anonym posten.

Für die Studie, die gerade im Online-Journal PLOS One erschienen ist, haben Rost, Stachel und Frey Datenmaterial der Petitions-Website Open Petition ausgewertet: 532.197 Kommentare aus einem Zeitraum von 2010 bis 2013, zu allen möglichen Themen von der Gema-Reform bis zum geforderten Rücktritt des Bayrischen Justizministers. Mit einer Software identifizierten sie Onlinehasser über die Zahl der Beleidigungen und Schimpfwörter in den Kommentaren. Anschließend überprüften sie, ob die Hater eher zur Anonymität neigten als freundliche Kommentatoren.

Die Hater neigten eher dazu, Aggression unter Klarnamen zu posten

Das Ergebnis überrascht erst einmal: Aggressive Sprache kam in den anonymen Kommentaren mit geringerer Wahrscheinlichkeit vor als in jenen, bei denen der Kommentator unter seinem vollen Namen schrieb. Oder anders: Die Hater neigten eher dazu, ihre Aggression unter ihrem Klarnamen zu posten. Müsste das nicht eigentlich umgekehrt sein?

Müsste es nicht, erklärt Mitautorin Leah Stachel: Die meisten Online-Hasser hielten es gar nicht für nötig, anonym zu sein. Sie sähen sich als Verfechter eines Anliegens. Und „wieso sollte man sich im Einsatz für eine gerechte Sache hinter Anonymität verstecken?“

Stachel und ihre Co-AutorInnen arbeiten für ihre Studie mit einer Theorie der sozialen Normen. Ihnen zufolge sind die aggressiven Kommentare nicht, wie bisher angenommen, einfach nur Ausdruck von irrationalem Hass oder das Ergebnis von Enthemmung. Vielmehr würden die Kommentatoren Verstöße gegen soziale Normen ahnden, die sie als wichtig oder erwünscht erachten – etwa, wenn sie gegen gierige Manager, korrupte Politiker, böse Konzerne hetzen, aber auch gegen Gutmenschen oder Feministinnen.

Wer zu seinen Aussagen steht, erscheint überzeugender und glaubwürdiger für andere

Die Hassrede gegen die Angegriffenen sei in diesem Fall eine Art „moralische Pflicht“, schreibt Stachel, weil der Angegriffene es „verdient hat“. Außerdem sei es für die Kommentatoren von Vorteil, dies nicht anonym zu tun. Wer mit Klarnamen zu seinen Aussagen stehe, erscheine überzeugender und glaubwürdiger für andere. Nichtanonyme Kommentatoren signalisierten, dass sie bereit sind, „Risiken einzugehen, um ihre Wahrheit in die Welt hinauszuposaunen und erarbeiten sich so einen Vertrauensbonus“.

Zum anderen können nicht-anonyme Hasser mit ihrem Handeln ihren sozialen Status erhöhen. Durch Filterblasen wie auf Facebook, in denen wir von unserem Umfeld für solches Verhalten auch noch mit Likes belohnt werden, verstärke sich dieses Verhalten noch.

Das verträgt sich mit der Einordnung, die die Journalistin Ingrid Brodnig in ihrem Buch Hass im Netz vornimmt: Online-Hassredner werden häufig als „Trolle“ zusammen in einem Topf geworfen und dort gemeinsam umgerührt. Dabei treten Internet-Nutzer aus ganz unterschiedlichen Gründen aggressiv auf, erklärt sie. Brodnig unterscheidet in ihrer Typologie zwischen dem Troll, dem es auf sadistische Weise einfach Freude macht, andere zu ärgern, und jenen Kommentatoren, die sie als „Glaubenskrieger“ bezeichnet. Letztere sind jener Typus, wie er in der Studie beschrieben wird: Menschen, die aus moralischer Überzeugung handeln. Im festen Glauben, das Gute, Wahre und Richtige aufrechtzuerhalten. Und die aus dieser Motivation heraus umso vehementer und selbstgerechter hassen.

Social-Media-Plattformen oder Nachrichtenseiten, die darum kämpfen, das Diskussionsniveau in ihren Foren erträglich zu halten und zumindest die schlimmsten Entgleisungen zu verhindern, sehen die Einführung von Klarnamen oft als letzte Maßnahme, sofern sie ihre Kommentarbereiche nicht ganz schließen. Aber gegen solche Kommentatoren, da ist sich Brodnig mit den AutorInnen der Züricher Studie einig, wird keine Klarnamenpflicht der Welt helfen.

Indirekter Hass, etwa in Form von Zynismus, fiel durchs Raster

Doch die Studie hat ziemliche Schwächen, einige davon räumen die AutorInnen sogar selbst ein. Zum Beispiel konnten mit der verwendeten Methode nur direkte Aggressionen ermittelt werden, also jene, in denen klare Schimpfwörter und Beleidigungen auftauchen. Indirekter Hass, etwa in Form von Zynismus, fiel durchs Raster. Außerdem hat jede Social Media-Plattform eine eigene Dynamik. Eine Webseite wie Open Petition, auf der es ohnehin um vermeintlich moralisch wichtige Anliegen geht, zieht vermutlich mehr „Glaubenskrieger“ an als Facebook oder Twitter. Auch ist auf der Seite nicht annähernd so viel los wie an anderen Stellen im Netz (nur 500.000 Kommentare in drei Jahren?).

Die wohl größte Schwäche ist allerdings, dass die AutorInnen, was die Ursachen für ihren Fund angeht, nur mutmaßen können. Die Studie sagt lediglich etwas über die statistische Wahrscheinlichkeit aus, mit der ein Kommentar aggressiv ist oder nicht. Was die Gründe dafür sind, dass Menschen unter ihrem Klarnamen aggressiver auftreten, darüber können die AutorInnen nur spekulieren.

Dass es sich bei den Hassern um Glaubenskrieger im Dienste einer – zumindest in ihren Augen – guten Sache handelt, könnte ein Teil der Erklärung sein. Ebenso wahrscheinlich ist es jedoch, dass auch die Unsichtbarkeit im Netz eine Rolle spielt – und viele weitere Faktoren, die in der Studie gar nicht erwähnt werden. Um fundierte Aussagen darüber treffen zu können, was Menschen im Netz auf eine Weise wild macht als gäbe es kein Morgen, dazu muss noch viel geforscht werden müssen. Wer eine differenzierte Analyse des Forschungsstandes lesen will, findet sie in Ingrid Brodnigs Buch.

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