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Made in China / Einmal Internet auf kommunistisch

von Katharin Tai
In unserer Reihe „Internet Made in China“ beleuchten wir den boomenden chinesischen Online-Markt hinter der großen Firewall. Welche Big Player revolutionieren das Netz im Reich der Mitte und wie erschaffen sich Millionen von Nutzern ein eigenes Netz zwischen Zensur- und Selbstzensur? Diesmal: Eine kurze Führung durch die Teile des chinesischen Internets.

Mobile First? Mobile Everything!

Dank der umfassenden Internetzensur der chinesischen Regierung sind in der Volksrepublik beinahe alle Seiten und Apps gesperrt, die den digitalen Alltag in Deutschland ausmachen: Facebook, Twitter, Instagram, Google-Suche, Google Calendar, Google Mail. Stattdessen sieht sich der verlorene Ausländer einer unendlichen Auswahl unbekannter Apps gegenüber, von denen man im Westen noch nie gehört hat: WeChat, Meitu, Weibo, Taobao, Baidu, QQ, Didi, Tan Tan.

Als allererste Maßnahme, um sich an das chinesische Netz anzupassen, kann man den eigenen Laptop direkt in Deutschland lassen — in China ist nicht nur alles auf Smartphones ausgerichtet, viele Dienste gibt es tatsächlich nur für Smartphones. Offiziellen Zahlen zufolge gehen 86 Prozent aller chinesischen Internetnutzer auf Mobilgeräten online. Der Grund dafür ist simpel: Während in Deutschland schon fast alle „online sind“ (die Internetzugangsrate liegt bei etwa 85 Prozent), hat das 1.3 Milliarden-Land China bisher „nur“ 649 Millionen Internetnutzer. Das ist nicht einmal die Hälfte der Bevölkerung. Viele von denen haben erst in den letzten ein, zwei Jahren Zugang zum Internet bekommen, und die andere Hälfte wird in den nächsten Jahren noch dazu kommen. Dass das auf Smartphones sein wird, ist hier selbstverständlich, immerhin bekommt man sie schon für weniger als 50€ Euro — ein Computer wäre deutlich teurer.

Auch eine chinesische Handynummer ist für die Nutzung so ziemlich jedes Dienstes unabdingbar: E-Mails als Identifitkationsmittel spielen höchstens als Backup-Lösung eine Rolle. Stattdessen wird die eigene Telefonnummer zur ultimativen Bedingung, um sich beim chinesischen MyTaxi, Twitter oder WhatsApp anmelden zu können. Die Gründe sind wohl unter anderem in der Politik zu suchen. Jede Handynummer ist offiziell auf eine Person registriert, sodass man im Umkehrschluss auch den Inhaber jedes Online-Accounts identifizieren kann.

Blogs sind tot, es lebe WeChat!

Es gibt eine App, die auf scheinbar allen Smartphones Chinas installiert ist und die auf allen permanent offen ist: WeChat. Es ist keine Übertreibung, zu sagen, dass mittlerweile nahezu alles in China über diese eine App läuft, die im Westen oft nur unzureichend mit WhatsApp verglichen wird.

„Man kann in diesem Land nirgendwo hingehen, ohne Leute zu sehen, die an ihren Handbildschirmen kleben“, erklärt die Kuratorin Michelle Proksell, die sich seit drei Jahren mit chinesischer Internetkultur beschäftigt. „Fast das gesamte Leben wird hier über WeChat geregelt: Familie, Arbeit, Dating, Freundschaft, Hookups, Prostitution, Pornos, Geldüberweisungen, Shopping, Telefonanrufe, Nachrichten — alles über eine einzige App!“ Sie berichtet fasziniert von der Allgegenwärtigkeit des Messengers und von den nahezu unmittelbaren Reaktionen chinesischer Nutzer auf Nachrichten. Sie selbst beschäftigt sich in erster Linie mit der Frage, wie Künstler dieses digitale Ökosystem nutzen und kuratiert Online-Ausstellungen auf der Seite netize.net.

WeChat gehört dem chinesischen Internetgiganten Tencent. Die Firma war Anfang der 2000er durch ihren Messenger QQ groß geworden — eine Art chinesischer ICQ-Klon, der noch vor zwei, drei Jahren das chinesische Internet beherrschte und Nutzern zusammen mit ihrem Account auch eine Email-Adresse gab. Mit dem Aufkommen von Smartphones änderte auch Tencent seine Strategie und veröffentlichte 2011 WeChat. Viele Nutzer wechselten vom Desktop-basierten QQ zu WeChat auf ihrem Smartphone, wenn sie eines bekamen. Ein großer Vorteil war, dass sie dabei ihre gesamten Kontaktlisten mitnehmen konnten. Mit 500 Millionen aktiven Nutzern pro Monat ist Tencents App der größte Messenger der Welt — mit dem Großteil seiner User im riesigen chinesischen Markt.

Es gibt noch ein weiteres Netzwerk, von dem viele Journalisten auch im Ausland schon einmal gehört haben, und dass gerne das „chinesische Twitter“ genannt wird — Sina Weibo, ebenfalls Teil des Tencent-Imperiums. Das Netzwerk landete wegen seiner politischen Natur immer wieder in Nachrichten über China und bildete zusammen mit vielgelesenen Blogs für einige Jahre das Zentrum der chinesischen Blogosphäre, in der auch die Kommunistische Partei und Missstände in der chinesischen Gesellschaft kein Tabu waren. Wer allerdings heute nach China geht und Weibo auf seinem Handy installiert und es in der Hoffnung öffnet, spannende politische Diskussionen vorzufinden, wird enttäuscht: Seit 2012 ist die Regierung stärker gegen Accounts mit hohen Followerzahlen vorgegangen und hat zum Beispiel ein Gesetz gegen das „Streuen von Gerüchten“ eingeführt, das eine Grundlage für die strafrechtliche Verfolgung von Nutzern bietet, deren Posts mehr als 50 Mal geteilt werden. Was als „Gerücht“ zählt, bleibt im Zweifel der Definition der Strafverfolger überlassen.

„Weibo ist für mich in erster Linie eine Quelle für witzige und absurde Nachrichten geworden“, meint Nancy, eine 22-jährige Studentin aus dem Süden Chinas. „Ich habe das Gefühl, dass die Zensur die politische Diskussion, die es dort gab, abgewürgt hat und Leute die Plattform nicht mehr ernst nehmen.“ Entertainment, Marketing, Stars und Sternchen — das sind die Themen, die viele Leute mittlerweile mit Weibo in Verbindung bringen. In Interviews kommt aber auch ein anderes Thema immer wieder auf: Kommentatoren auf Weibo seien zu aggressiv, zu konservativ. Selbst ohne die Zensur, glauben viele junge Leute, wären Diskussionen auf Weibo nicht zielführend, einfach wegen der großen Anzahl an Trollen. Eine Studentin verweist auf die Kommentare, die sie regelmäßig unter den Posts einer chinesischen Feministin sieht: „Das ist einfach nur traurig, alles voller Hass und Männer, die auf Frauen hinabblicken.“

Während die Weibo-Jahre eine Zeit des öffentlichen Diskurses markierten, ist der Rückzug zu WeChat auch einer in privatere Konversationen: Chats können nur von Teilnehmenden gelesen werden. Auch die Kommentare, die man zu Posts von Freunden (sogenannte „Moments“ abgibt), können nur von Nutzern gelesen werden, mit denen man selber befreundet ist. Wer einen nicht kennt, sieht nicht, was man schreibt — außer vielleicht der chinesische Staat.

Eine „anderes“ Internet?

Wer beginnt, WeChat zu nutzen, findet sich auch einer anderen digitalen Kultur wieder: andere Memes, andere Trends, andere technische Möglichkeiten. Besonders populär ist auf WeChat die Stickerfunktion, über die man kleine Bilder, meist GIFs, in Chats verschicken kann — zusätzlich zu Videos, gesprochenen und geschriebenen Nachrichten. Finden Reaction-GIFs im Westen vor allem auf Tumblr und in Blogs statt, so sind sie in China längst fester Bestandteil von Onlinechats geworden. Viele Ausschnitte aus Filmen, Serien und YouTube-Videos dürften auch einem Nutzer aus dem Westen bekannt vorkommen, doch WeChat geht weit darüber hinaus — westliche Memes und GIFs werden mit chinesischem Internatslang kombiniert, gezeichnete, marshmallowartige Wesen bekommen Trollgesichter oder werden übereinander gestapelt, wieder andere Sticker spielen mit Englisch und Chinesisch oder machen sich über Kim Jong-Un lustig, seines Zeichens liebstes Opfer chinesischer Internetnutzer.

In seinem Blog beschreibt der Anthropologe Gabriele de Seta die Entwicklung eines solchen Memes: das Emoji der flackernden Kerze. Es begann als Teil des Emoji-Sets von Sina Weibo und wurde populär als eine Art, Anteilnahme zu zeigen, indem man es unter Posts mit schlechten Nachrichten postete. Antworten unter Meldungen über zum Beispiel ein Zugunglück wurden so zu unendlichen Aneinanderreihungen flackernder Kerzen. Plötzlich tauchten Bilder auf, in denen kleine, weiße Männchen sich an den Kerzen wärmten, sie verehrten, mit ihnen menschliche Pyramiden bauten — „ein ganzes Volk, besessen von der flackernden Kerze“, so de Seta. Während er das Meme weiter beobachtete, wurde es zur Kritik am Verhalten chinesischer Internetnutzer: „Es ging um das Lächerlichmachen ritualisierter Posts zu jeder Tragödie, der kurzen Zwei-Klick-Anteilnahme.“

Während viele Wissenschaftler sich auf das öffentlich zugängliche und leicht durchsuchbare Weibo konzentrieren, tut de Seta die Seite als einen „Bruchteil“ des chinesischen Netzes ab und treibt sich in den Tiefen chinesischer Foren und Imageboards herum. Boards wie Baidu Tieba, die sich oft aus Gaming- und anderen Fankulturen entwickelt haben, haben dabei bis zu 200 Millionen aktive rund eine Milliarde registrierte Nutzer — alles andere als eine Nische. Hier entstehen nicht nur grafische Memes, sondern auch Begriffe, die letztendlich in den Medien und der Popkultur landen. Viele Inhalte aus den Bulletin Boards schwappen aus dem chinesischen Netz heraus und landen auf T-Shirts, als Kuscheltiere auf dem Verkaufstisch oder im westlichen Internet wie der Hase Tuzki, den es jetzt auch bei Facebook gibt.

Während de Seta sich mit Inhalten beschäftigt, die über die Grenzen verschiedener Apps hinweg geteilt werden, arbeitet Michelle Proksell in erster Linie mit WeChat: „Hier landet ohnehin über kurz oder lang fast alles.“ Seit fast einem Jahr dokumentiert sie regelmäßig, welche Bilder Leute in ihrer Umgebung posten, und folgt besonders den Trends in der Hauptstadt Peking. Neben vielen Selfies bekommt sie dabei die unterschiedlichsten Dinge zu sehen: Mit dem Beginn des Sommers kamen Unmengen an Bildern von Menschen mit Wassermelonen, mit dem Erstverkauf des iPhones wurde die Qualität der Bilder deutlich besser und als es im Juni in der Hauptstadt mit der sprichwörtlich schlechten Luft einige Tage mit strahlend blauem Himmel gab, war auch WeChat voller blauer Bilder mit weißen Wölkchen. „Als würden wir alle immer auf diese Tage warten.“

Letztendlich ist das chinesische Netz, sofern man es überhaupt klar definieren kann, mit seinen fast 650 Millionen Nutzern aber so groß, dass es sich nur schwer zusammenfassen lässt. Wer es wirklich kennen lernen möchte, sollte ihm selber mal einen Besuch abstatten, sei es über WeChat oder Baidu Tieba. Wir sehen uns dann in ein paar Jahren wieder.

In Teil 3 unserer „Made in China“-Serie geht unsere Autorin der modernen chinesischen Zensur nach.

Alle Texte der Serie gibt es hier zum Nachlesen. 

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