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Binaural Bits / Die Charts der freien Netzmusik — ermittelt per Algorithmus

von Teresa Sickert
Der Schweizer Markus Koller liebt Musik. Deswegen hat er eine Band und begann vor dreizehn Jahren, auch über Musik zu schreiben. Mittlerweile präsentiert er auf seinem Blog Starfrosch die Charts der wahren Netzmusik, die Künstler unter Creative-Commons-Lizenzen ins Netz stellen. Unsere Kolumnistin Teresa Sickert hat mit Koller gesprochen.

„Ich hatte das Bedürfnis, für meinen Blog mehr Musik zu finden. Ich habe dort immer Stücke gepostet, die ich mochte, hatte natürlich auch viele Netlabels und Künstler abonniert. Aber über die vergangenen Jahre sind diese eher verstummt und mir ist der Sound ausgegangen“, erzählt Koller, der als Systemadministrator an einer Blindenschule in Bern arbeitet. Vor dreizehn Jahren startete er den Blog Starfrosch, damals noch mit dem Ziel, die Songs seiner gleichnamigen Elektroband einem größeren Publikum zugänglich zu machen. Was aus dieser Seite werden würde, davon hatte er damals noch keine Ahnung.

2002 war Starfrosch einfach nur eine Seite mit ein paar MP3s. „Ich dachte damals, wir stellen unsere Songs auf die Homepage und lassen das mal brummen“, sagt Koller. Doch gebrummt hat erst einmal gar nichts. Die Musik des Schweizers versank im Grundrauschen des Internets. Die eigene Musik mithilfe eines großen Labels zu vermarkten, war allerdings keine Alternative. Markus Kollers Band blitzte bei den Major-Labels ab und er selbst war sowieso abgeschreckt von dem ganzen kommerziellen Rummel. Im selben Jahr veröffentlichte die Creative Commons Initiative in den USA die ersten freien Lizenzen — und weckte Kollers Interesse: „Da hab ich gesehen, dass man was Legales im Internet machen kann, Musik hoch- und runterladen.“

Er hebt die ganz besonderen Schätze des kreativen Untergrunds.

Es entstand eine Szene aus Künstlern, die frei über ihre Werke entscheiden wollten und die weniger an kommerziellem Erfolg als an einer leichteren Verbreitung ihrer Musik und einem Bekenntnis zur Remixkultur interessiert waren — und bis heute sind. Netlabels halfen CC-Künstlern, ihre Zielgruppe im Internet zu erreichen und Netzmusikportale wie Jamendo oder das Free Music Archive wurden geboren. Auch Starfrosch entwickelte sich zum Communityblog für Netzmusik. Doch nach ein paar Jahren war der große Hype vorbei. Viele der Netlabels verstummten, weil ihnen ein nachhaltiges Geschäftsmodell fehlte. Das veränderte auch Kollers Blog: „Die CC-Musik und die Community waren ja immer noch da. Aber es gab keine zentrale Anlaufstelle mehr. Und ich wollte wissen: Was geht da noch?“

Also programmierte Koller Ende 2014 einen Algorithmus, der die großen Netzmusikplattformen nach den aufmerksamkeitsstärksten Songs durchsucht. Aus den Downloadzahlen, Streamings, Facebook-Shares, Likes und Last.fm- Plays ergeben sich die Charts der Creative-Commons-Musik: die #HOT100. „Wow, der Sound ist wirklich gut!“, dachte sich Koller, als er den Algorithmus im vergangenen Jahr das erste Mal über die Netzmusikplattformen laufen ließ. Die musikalische Qualität überraschte ihn.

Ein Spamfilter hilft gegen gekaufte Likes und Plays.

Um auszuschließen, dass gekaufte Likes und Plays bei SoundCloud oder Facebook die Statistik verfälschen, baut Koller zusätzlich einen Spamfilter ein. Seine #HOT100 heben so die besonders beliebten Schätze des kreativen Untergrunds der Netzmusikszene — und das nicht ganz ohne Folgen: „Was ich sehe, ist, dass einzelne Künstler ihre Songs jetzt auf verschiedenen Plattformen hochladen. Die Titel der Charts tauchen jetzt auch in anderen Blogs und in Podcasts auf. Daran kann man sehen: Charts beeinflussen sich selbst. Wenn ein Track in den Verkaufscharts auf Platz 1 steht, empfinden Leute den Track auch als besser.

Das hat auch zur Folge, dass die vorderen Ränge häufiger runtergeladen werden, als die hinteren, obwohl es dort auch ein paar musikalische Perlen zu finden gibt. Als Markus Koller vor acht Monaten das erste Mal die #HOT100 der Netzmusik auf Starfrosch veröffentlicht, durchsuchte der Algorithmus noch etwa 10.000 Songs pro Woche. Heute sind es circa 45.000 Creative-Commons-Songs, die wöchentlich neu im Netz landen. Ein enormer Zuwachs, der nicht nur Kollers Starfrosch Blog bereichert, sondern eine ganze musikinteressierte Szene, glaubt der Schweizer: „Ich finde jede Woche zehn bis 20 Tracks, die mir wirklich gefallen. Die ersten drei, vier Ränge meiner Charts ähneln vielleicht den kommerziellen Charts. Sonst zeigt sich bei uns aber ein breiterer Stilmix mit vielen Brüchen.“

So ergeben sich auch für uns Musikhörer im Netz immer wieder neue Potentiale. Wer sich von den kommerziellen Charts, die im Radio rauf- und runterlaufen, nicht abgeholt fühlt, kann im Internet nach Alternativen suchen — und Markus Koller hilft dabei. Doch wie bei den kommerziellen Singlecharts zeigen auch die #HOT100 nur den Mainstream: die Netzmusik, auf die die meisten Leute abfahren. Sie sind nichts anderes als eine Big-Data-Analyse, wie sie auch im kommerziellen Musikgeschäft genutzt wird, um mehr über den Geschmack und das Verhalten der Hörer herauszufinden. Wer nach wirklich anderer Musik sucht, muss sich immer noch selbst auf die Suche begeben — ohne Algorithmus.

In der letzten Folge Binaural Bits stellte Hendrik Efert einen Interview-Podcast vor, zu dem sich sogar Barack Obama gern einladen lässt. 

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