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re:publica / Es geht nicht um die Frage nach der Entscheidung, Edward Snowden!

von Max Biederbeck
Edward Snowden hat bei der re:publica gleich am ersten Tag sein Publikum gefunden. Allerdings: Er hat mit seiner Rede den aktuellen Stand der Debatte nicht getroffen, die geht längst weiter und läuft auf einem anderen Niveau ab, kommentieren Max Biederbeck und Timo Brücken.

Edward Snowden hat eine Entwicklung verpasst. Vielleicht hat sie ihn überholt, vielleicht konnte er sie einfach nicht mitbekommen. Wenn er auf der re:publica zu Gast ist, dann – wie immer auf Konferenzen – nur als Kopf auf einer Leinwand. Snowden kann ja bekanntlich nicht raus aus Russland, er ist Opfer seiner eigenen Enthüllungen geworden. Deswegen sagt er seine Sätze eben von weit weg.

Sie klingen seit langem ähnlich. „Ich bin weder Optimist noch Pessimist, wir müssen jetzt entscheiden, welchen Weg wir als Gesellschaft einschlagen wollen“, sagte er auch diesmal. Man hat das Gefühl, Snowden war selbst nicht dabei in den vergangenen drei Jahren seit seinen Leaks.

Wir haben über Überwachung gestritten, um unsere Daten gekämpft, den Missbrauch unserer Privatsphäre angeprangert. Und unter der Oberfläche ist längst eine mündigere Netz-Gesellschaft entstanden. Wir erleben sie bei WIRED jeden Tag. Dass Snowden sie nicht sieht, ist schade. Auch die Massen, die zur re:publica strömen, beweisen das. Sascha Lobo hat im WIRED-Interview erzählt: „Da ist etwas entstanden und das geht nicht wieder weg. Und das finde ich sehr positiv.“ Er hat Recht, zehn Jahre schon gibt es eine immer weiter wachsende Netz-Diskussion der Interessierten in Deutschland. Edward Snowden, ein Großteil der Gesellschaft hat sich längst entschieden, die Debatte hat sich weiterentwickelt!

Snowden hat Transparenz hergestellt, aber die Leute können sie noch nicht für sich nutzen

Lina Dencik, Medienwissenschaftlerin

Auf der re:publica wird am Mittwoch noch ein Vortrag zum Thema Massenüberwachung gehalten. „Digital Citizenship in an Age of Mass Surveillance“ heißt er und könnte aufschlussreicher sein als Snowdens Auftritt selbst. Die Medienwissenschaftlerin Lina Dencik und ihr Kollege Arne Hintz von der Cardiff University werden ihre Ergebnisse aus 18 Monaten Nachforschungen über die Implikationen der Snowden-Leaks präsentieren.

Sie haben politische Inhalte untersucht und technologische Entwicklungen, sie sprachen mit Akteuren aus Medien, Politik und Zivilgesellschaft. Ihr Forschungsbereich, das muss man dazu schreiben, liegt in England – sie kommen aber zu einem klaren Ergebnis und Handlungsempfehlungen, die nicht weniger für Deutschland gelten.

Das Problem, so zeigen sie, ist vor allem die Unmündigkeit und ein Mangel an Übersetzung. Die breite Masse weiß noch immer nicht recht, wie sie sich wehren soll. „Snowden hat Transparenz hergestellt, aber die Leute können sie noch nicht für sich nutzen“, sagt Dencik. Die Gesellschaft muss nicht entscheiden, sie muss sich entwickeln und dazu braucht es den Weiterdreh der Debatte. Der lässt sich erreichen.

Der Netzaktivist Jakob Appelbaum fordert es eigentlich schon lange: Es muss eine politische Bewegung entstehen. Wir würden erweitern: Wir müssen uns in Erinnerung rufen, dass die Debatte um Massenüberwachung eine grundauf politische und kein technische ist.

Der digitale Bürger möchte nichts anderes als jeder andere auch: Privatsphäre, keine staatliche Willkür, Schutz vor Missbrauch, Rassismus und Unterdrückung. Warum lassen wir zu, dass all das in Daten existiert und keiner was tut? Warum findet Dencik in ihren Nachforschungen heraus, dass große soziale Bewegungen nicht mit Netzaktivisten zusammenarbeiten?

Es geht nicht um ein überwachtes Handy, ein bisschen Profiling und die böse NSA, sondern um soziale Gerechtigkeit

Snowden sollte nicht eine Entscheidung fordern, wie er es seit Jahren tut. Er sollte fordern, dass all die Aktivisten da draußen mit mehr Ellenbogen auf die Straße gehen. Sie müssen dem Rest erklären, wo eigentlich das Problem liegt, dass es nicht um ein überwachtes Handy, ein bisschen Profiling und die böse NSA geht, sondern um soziale Gerechtigkeit als solche. Die Diskussion sollte breiter ablaufen, wir können uns freuen, wenn WhatsApp endlich eine P2P Verschlüsselung einführt, aber das Hier ist kein Katz und Maus-Spiel und die Antwort auf das Problem kann nicht technisch sein.

Die wichtigen Debatten sind komplizierter und müssen besser von den großen NGOs aufgegriffen und verbreitet werden. Wenn es um Safe Harbor geht, um EU-Datenschutzreform oder um die politischen Bemühungen im Kampf gegen Hate Speech. Die Frage nach Massenüberwachung wird die Gesellschaft auf diese Weise Stück für Stück erschließen und lösen. Snowden hat längst die Weichen für diesen Weg gestellt. Es stellt sein eigenes Licht unter den Scheffel, wenn er immer noch darum bettelt, überhaupt nur wahrgenommen zu werden.

Die re:publica findet vom 2. bis 4. Mai 2016 in Berlin statt. Die WIRED-Berichterstattung zur Konferenz findet ihr hier

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