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Deutsche Behörden haben illegale Waffendeals mit Mexiko abgesegnet

von Sonja Peteranderl
Die Waffen gerieten in die Hände von Gangstern und korrupten Polizisten: Tausende deutsche G36-Sturmgewehre wurden illegal in Krisengebiete in Mexiko exportiert — auch mit Unterstützung deutscher Ministerien. Jetzt kommt der Fall vor Gericht.

„El Talibán“ wurde der Mann genannt, der mit seiner Truppe den Drogenhandel in Petaquillas im mexikanischen Bundesstaat Guerrero kontrollierte. Er setzte den Machtanspruch der Drogengang SUR (Sierra Unida Revolucionaria) durch, auch mit Mord. Als die selbsternannten Ordnungshüter der Bürgerwehr FUSDEG versuchten, die Kriminellen festzunehmen, um die öffentliche Sicherheit wiederherzustellen, stürmten sie im März 2015 auch das Haus von „El Talibán“. Sie nahmen ihn fest, beschlagnahmten auch seine Lieblingswaffe: ein G36-Sturmgewehr, mit eingravierter Seriennummer 85-012252, produziert vom deutschen Waffenhersteller Heckler & Koch im baden-württembergischen Oberndorf, 2009 nach Mexiko geliefert.

Das Sturmgewehr von „El Talibán“ ist eine von Tausenden Waffen made in Germany, die nie in mexikanische Konfliktregionen wie den Bundesstaat Guerrero hätten gelangen dürfen — und die dennoch exportiert wurden, auch mit Unterstützung oder zumindest dem Wegsehen von deutschen Ministerien, Kontrollbehörden und Politikern. Von 10.000 nach Mexiko exportierten G36-Sturmgewehren landete etwa die Hälfte in Unruheprovinzen, die mit einem Exportverbot belegt waren, weil dort der Drogenkrieg tobt und die Polizei als gewalttätig und korrupt gilt.

Die Verwicklungen reichen bis in die Spitze der Ministerien und betreffen Beamte, die jetzt noch im Amt sind.

Jürgen Grässlin, Rüstungsexperte

2016 kommen die Mexiko-Deals vor Gericht: Die Staatsanwaltschaft Stuttgart hat gegen sechs ehemalige Mitarbeiter von Heckler & Koch, darunter zwei ehemalige Geschäftsführer, Anklage erhoben. Der Vorwurf: Verstoß gegen das Kriegswaffenkontroll- und Außenwirtschaftsgesetz. Zwischen 2006 und 2009 sollen die Heckler & Koch-Mitarbeiter an 16 Lieferungen von Gewehren und Zubehörteilen nach Mexiko beteiligt gewesen sein — und dabei gewusst haben, dass die Waffen für mexikanische Bundesstaaten bestimmt sind, für die keine Exportgenehmigung vorlag.

Mehr als fünfeinhalb Jahre hat Jürgen Grässlin auf diesen Schritt der Justiz gewartet. Im April 2010 hatte der Sprecher der Anti-Rüstungs-Kampagne Aktion Aufschrei — Stoppt den Waffenhandel und Autor von „Schwarzbuch Waffenhandel — Wie Deutschland am Krieg verdient“ über seinen Rechtsanwalt Holger Rothbauer Strafanzeige gegen Verantwortliche von Heckler & Koch gestellt. Dass die Justiz nun gegen die Rüstungsfirma vorgeht, ist für ihn trotzdem nur ein Etappensieg. „Die Unterlagen und Dokumente belegen eindeutig, dass ein Trio tätig war — neben der Firma auch das Bundesausfuhramt und das Bundeswirtschaftsministerium“, sagt Grässlin gegenüber WIRED. 2012 hatte Rothbauer Grässlins Anzeige um Beamte im Bundeswirtschaftsministerium und Bundesausfuhramt erweitert, die die Exporte nach Mexiko genehmigt hatten. Dass die Staatsanwaltschaft nicht auch gegen sie ermittelt, hält er für ein „schweres Versäumnis“ — und hat Beschwerde eingelegt.

„Die Verwicklungen reichen bis in die Spitze der Ministerien und betreffen zum Teil Beamte, die jetzt noch im Amt sind“, sagt Grässlin. „Viele halten die Rüstungsindustrie für den Triebtäter alles Bösen, aber wir haben festgestellt, dass sowohl legaler als auch offensichtlich illegaler Waffenhandel mit der Unterstützung von Bundesausfuhramt und Bundeswirtschaftsministerium und dem Auswärtigem Amt bestens funktionieren.“ Bedenken, deutsche Kriegswaffen an menschenrechtsverachtende Regierungen und in Krisengebiete zu liefern, gebe es nicht — oder höchstens pro forma zur Beruhigung der Öffentlichkeit.

Die Aufdeckung der fragwürdigen Deals begann mit dem Anruf eines Whistleblowers: 2009 meldete sich ein Mitarbeiter von Heckler & Koch bei Grässlin. „Er sagte, dass die Firma bis hin zur Geschäftsleitung in illegalen Waffenhandel involviert sei“, erinnert sich Grässlin. „Er hatte detailgetreue Fakten, die er in Text, Bild und Film beweisen konnte.“

Argumente wurden umgedreht, Bedenkenträger in die Schranken gewiesen, Genehmigungen auf Zuruf erteilt.

Auszug aus „Netzwerk des Todes“

Mehr als 1000 vertrauliche bis geheime Dokumente, Aussagen von mehreren Ex-Mitarbeitern von Heckler & Koch und andere Beweise zum Waffengeschäft mit Mexiko haben Jürgen Grässlin, der Filmemacher Daniel Harrich („Meister des Todes“, „Tödliche Exporte“) und die Journalistin Danuta Harrich-Zandberg in den vergangenen Jahren zusammengetragen. Erste Dokumente veröffentlichte das Autorentrio in dem Enthüllungsbuch „Netzwerk des Todes“ im September 2015. Das Buch offenbart die „kriminellen Verflechtungen von Waffenindustrie und Behörden“. Demnach werden „Ausfuhranträge bereits im Vorbereitungsausschuss auf Staatssekretärsebene entschieden, Bedenken von Mitarbeitern in den Behörden, beispielsweise wegen eklatanter Menschenrechtsverletzungen im jeweiligen Empfängerland, wieder fallen gelassen, Argumente umgedreht, unbequeme Bedenkenträger in die Schranken gewiesen, Genehmigungen auf Zuruf erteilt“. Grässlin nennt den Mexiko-Waffendeal in Anlehnung an den früheren Watergate-Skandals „den Anfang von Heckler-Gate.“

Die Situation in Mexiko war den deutschen Beamten bekannt. Ein Bericht der Deutschen Botschaft in Mexiko vom 14. April 2005, der dem Auswärtigen Amt vorlag, warnte vor der grassierenden Korruption in der mexikanischen Polizei sowie Folter und Gewalt durch staatliche Sicherheitskräfte, insbesondere auf Bundesstaaten-Ebene. Im September 2005 verweigerte das Auswärtige Amt deshalb einem Waffenexportantrag von Heckler & Koch die Zustimmung. Eine generelle Ablehnung sei „die saubere Lösung“, schrieb das Länderreferat 306 — einzelne Bundesstaaten je nach „Menschenrechts-Performance“ von Waffenlieferungen auszuschließen oder dafür zu qualifizieren, hielt das Referat für politisch problematisch.

Doch genau dies geschah: Heckler & Koch setzte zusammen mit dem Bundeswirtschaftsministerium, das einem allgemeinen Exportverbot für Mexiko nicht folgen wollte, einen Kompromiss durch. Die Bundesstaaten Chiapas, Chihuahua, Guerrero und Jalisco, die das Auswärtige Amt als problematische Beispiele aufgeführt hatte, wurden vom Export ausgeschlossen.

Die Gewalt in Mexiko war für die deutsche Rüstungsindustrie ein lukratives Geschäft.

Heckler & Koch besorgte in Mexiko neue Endverbleiberklärungen, die belegen sollten, dass die vier „bösen“ Bundesstaaten nicht beliefert werden — zumindest auf dem Papier. Auffällig war, dass die Stückzahlen gleich blieben, nur die Adressaten verändert wurden. Die fragwürdige Ausnahme wurde zur Regel. Eine „politische Lösung“, wie der Ministerialrat Claus W., Referatsleiter im Wirtschaftsministerium, bei seiner späteren Aussage im August 2010 einräumte. Denn die tatsächliche Umsetzung des Exportverbots könne in der Praxis von der deutschen Regierung nicht kontrolliert werden. Alle Waffen wurden an die zentrale mexikanische Waffenbeschaffungsstelle DCAM geliefert — und von dort aus auch an die vom Export-Bann betroffenen Bundesstaaten weiterverteilt. Einem der Heckler & Koch-Whistleblower zufolge kassierte der damalige Leiter der mexikanischen Behörde, General Aguilar, für jedes nach Mexiko verkaufte G36-Sturmgewehr ein Bestechungsgeld von 25 US-Dollar, für jede Kurzwaffe 20 Dollar.

Es gab immer wieder Verdachtsmomente, die jedoch nie zu einem Exportstopp führten. Das Auswärtige Amt intervenierte erneut, als bei einem Exportantrag von Heckler & Koch vom 1. August 2006 plötzlich vom Bundesstaat Chiapas Ersatzteile wie Reinigungsgeräte, Magazine und Tragegriffe für das G 36 angefragt wurden — an den nie ein Gewehr hätte geliefert werden dürfen. Heckler & Koch begründet die Nennung des Bundesstaates mit einem „Versehen der mexikanischen Behörden“, erneut wird nur der Name des Bundesstaates ausgetauscht. Waffenpräsentationen und Trainings fanden unterdessen auch in den vom Exportverbot betroffenen Bundesstaaten statt, etwa 2008 in Guadalajara, der Hauptstadt des Bundesstaates Jalisco.

Die Gewalt in Mexiko war für die deutsche Rüstungsindustrie ein lukratives Geschäft: 2006 hatte die auf mexikanische Länderpolizeieinheiten ausgerichtete Groß-Offensive für das deutsche G36 begonnen — Ende 2006 begann der „Drogenkrieg“ des damaligen Präsidenten Felipe Calderón. Er schickte Tausende von Soldaten und Bundespolizisten in verschiedene Bundesstaaten, die offiziell die Kartelle bekämpfen sollten und die korrupte Lokalpolizei ersetzen sollten. An vielen Orten explodierte daraufhin die Gewalt: zwischen Sicherheitskräften und Kartellen, aber auch innerhalb der Sicherheitskräfte. Auch die Bundespolizisten und Militärs folterten und töteten Unschuldige, viele standen selbst auf der Gehaltsliste der rivalisierenden Kartelle. Edgardo Buscaglia, Experte für Organisierte Kriminalität, hält Waffenlieferungen an mexikanische Sicherheitskräfte grundsätzlich für problematisch: „Man sollte keine Waffen an eine Polizei liefern, die korrupt oder Teil des Organisierten Verbrechens ist.“

Im Bundesstaat Guerrero schossen Polizisten mit importierten G 36-Sturmgewehren auf Studenten — 43 von ihnen sind bis heute verschwunden, wohl brutal ermordet worden. Auch in Ciudad Juárez im Bundesstaat Chihuahua, lange der Stadt mit der höchsten Mordrate der Welt, zirkulieren deutsche Waffen. „Durch die Korruption und das Versagen der Polizei, das Organisierte Verbrechen zu bekämpfen, sind die deutschen Sturmgewehre hier in die Hände krimineller Gruppen gelangt“, sagt Luz Sosa, Polizeireporterin der lokalen Tageszeitung Diario del Juárez. Viele Waffen wurden von Gangs und Kartellen aus Polizeibeständen geraubt: In Chihuahua, der Hauptstadt der gleichnamigen Provinz, brach ein bewaffnetes Kommando in das Kontrollzentrum der Sicherheitsbehörden ein und gelangte so an Sturmgewehre, auch deutsche. Die Waffen der Polizei in Juárez wurden inzwischen ausgetauscht — während die Kriminellen weiter mit deutschen Waffen töten.

Erst als Jürgen Grässlin 2010 Strafanzeige stellte, wurden Lieferungen von Kleinwaffen wie Maschinenpistolen und Sturmgewehren nach Mexiko von der Bundesregierung eingestellt. Die Staatsanwaltschaft Stuttgart hat zwar Mitarbeiter von Heckler & Koch vernommen und zwei Hausdurchsuchungen durchgeführt — dass trotzdem erst jetzt, fünfeinhalb Jahre nach der Strafanzeige, Anklage erhoben wurde, hält Grässlin für bedenklich. „Es war ein desaströses Versagen der Staatsanwaltschaft“, sagt Grässlin. „Die demokratischen Regularien funktionieren bei widerrechtlichem Waffenhandel nicht.“ Auffällig sei etwa, „dass Volker Kauder, quasi der Cheflobbyist von Heckler & Koch und die rechte Hand von Bundeskanzlerin Angela Merkel zugleich CDU-Abgeordneter des Wahlkreises Rottweil-Tuttlingen ist — dort wo Heckler & Koch seinen Stammsitz hat.“ Bei einem Besuch im Wahlkampfjahr 2009 bedankte sich der Mehrheitsgesellschafter von Heckler & Koch, Andreas Heeschen, bei Kauder: Er habe „immer wieder die Hand über uns“ gehalten, auch „wenn es um Exportgenehmigungen ging“.

Mexiko stellt inzwischen eigene Gewehre her, offensichtlich inspiriert von deutschen Bauplänen.

Wann genau die Staatsanwaltschaft Stuttgart das Verfahren gegen die Heckler & Koch-Mitarbeiter eröffnet, ist noch unklar, wahrscheinlich im Frühling 2016. Das Rüstungsunternehmen nimmt nur in einer knappen Pressemitteilung Stellung zum Vorwurf: „Heckler & Koch sieht der Beurteilung des Sachverhalts mit der Erwartung entgegen, dass die Sach- und Rechtslage durch ein unabhängiges Gericht nun abschließend geklärt wird.“

Mexiko stellt inzwischen seine eigenen Sturmgewehre her, etwa 40.000 FX-05-Gewehre liefen bereits vom Band — die offensichtlich von deutschen Bauplänen inspiriert sind. Bis 2004 hatte Heckler & Koch mit dem mexikanischen Militär über eine mögliche Lizenzvergabe verhandelt, dann wurde das Projekt aufgrund von Budgetkürzungen eingefroren. Wenig später stellte Mexiko mit der FX-05 eine eigenes Gewehr vor. Bei diesem Waffendeal besteht der dringende Verdacht „nicht genehmigten Technologietransfers für die Lizenz der G36- bzw. der FX-05-Gewehre“. Eine entsprechende Strafanzeige gegen Heckler & Koch hatte Grässlin im Februar 2014 über Rechtsanwalt Rothbauer gestellt. Die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft Stuttgart laufen noch. Gehandelt wird die Waffe heute als „100 Prozent mexikanisches Sturmgewehr“. 

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