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Machines Of Loving Grace / Sind Algorithmen gute Kaufberater?

von Jürgen Geuter
Algorithmen sind überall. Jeder hat ständig mit ihnen zu tun, viele fürchten sie, doch die wenigsten verstehen tatsächlich, wie sie funktionieren. In seiner WIRED-Kolumne durchleuchtet Jürgen Geuter die mathematischen Problemlöser, die unsere Welt zu lenken scheinen. Diesmal: Leiden Einkaufs-Alghorithmen an chronischer Empfehlungsschwäche?

Betrachtete man nur die Welt der sich irgendwo zwischen Weltuntergang und Science-Fiction Utopie schwankenden Artikel über moderne Technologie, müsste man wahrscheinlich zum Schluß kommen, dass Algorithmen und Maschinen quasi übermächtig sind. Sie sagen unsere Stimmung vorraus und können sie sogar subtil verändern, in dem sie uns bestimmte Inhalte zeigen oder ausblenden. Sie können selbstständig Auto fahren und auf Bildern Essen oder Tiere erkennen. Und vor allem können sie — wenn die letzten Wochen ein brauchbarer Indikator sind — [Bilder ganz besonders gut mit Hunden anreichern] und so das Erleben eines LSD Trips ohne Rückgriff auf Chemieexperimente simulieren. Die unalgorithmisierte Welt machen wir einfach zu, bringt ja nix mehr. Der Eindruck überlebt aber auch nur, bis man dann mal was einkaufen will.

Amazon war einer der ersten Onlineshops, der Empfehlungsalgorithmen wirklich ernst genommen hat. Anstelle einfach nur einen analogen Katalog in eine elektronisch durchsuchbare Form zu bringen, versuchte man dort sehr früh, Beziehungen zwischen den Artikeln herzustellen. Die meisten kennen sicherlich auf Amazon die Hinweise unter bestimmten Artikeln: „Wird häufig zusammen gekauft mit“. Das ergibt nicht nur für Amazon Sinn, das auf diesem Wege natürlich mehr Produkte absetzt, als wenn es darauf warten würde, dass die Menschen die Extraprodukte selbst in ihre Einkaufswagen klicken. Auch mir hat ein solcher Kaufvorschlag schon mehr als einmal geholfen und mich daran erinnert, dass bei einem Gerät keine SD-Karte oder Batterien oder wasauchimmer dabei liegt.

Permanent analysieren kleine Programme das Einkaufsverhalten der gesamten Amazon- Kundschaft

Die Empfehlungen generiert Amazon dabei algorithmisch aus dem Kaufverhalten der Kunden zuvor. Permanent analysieren kleine Programme das Einkaufsverhalten der gesamten Amazon-Kundschaft: Welche Produkte werden oft zusammen gekauft? Welche werden in direkter Abfolge angesehen? Von welchen Artikeln wird auf welche anderen Artikel weitergeklickt? Welche Artikel werden direkt bestellt und welche wandern auf Wunschlisten? Und viele viele weitere Fragen.

Amazon setzt dabei auf die Ähnlichkeit der Menschen: Ihre Analysealgorithmen ermitteln die Beziehungen von Artikeln aus dem aggregierten Verhalten aller Kunden. Die Vorschlagsalgorithmen wenden dann diese Beziehungen an, um einzelnen Kunden neue Produkte vorzuschlagen.

Dieses theoretisch sehr gute Konzept hat aber sein Schwierigkeiten, denn Amazons Empfehlungsalgorithmen — und die vieler anderer Plattformen — verstehen eine Sache nicht, ohne die unser menschliches Handeln kaum begreifbar ist: Kontext.

Ich betrachte und kaufe alle möglichen Dinge, die für mich sonst irrelevant sind

Der Dezember ist zum Beispiel für meine Amazon Empfehlungen keine einfache Zeit: Ich betrachte und kaufe alle möglichen Dinge, die für mich sonst irrelevant sind. Und bis in den Februar hinein schlägt mir Amazon dann vor, noch fünf andere LEGO-Sets zu kaufen, obwohl ich schon ein Geschenk für meine Nichte gekauft habe und Weihnachten längst hinter uns liegt.

Uns Menschen ist intuitiv klar, dass nicht alle Käufe, nicht jedes Ansehen eines Produktes oder Videos gleich sind, aber den Online-Systemen, mit denen wir interagieren, bleibt unsere innere Welt verschlossen. Und so verlinkt ein Freund auf Twitter [das epische Review] eine DVD mit „Waschmaschinen-Impressionen“ und plötzlich will Amazon mir nur noch DVDs mit Testbildern und andere Scherzartikel verkaufen. WTF Amazon? Es ist, als würdest du mich gar nicht kennen!

Und mein Musikstreaminganbieter knabbert immer noch an der Silvesterparty des vorletzten Jahres

Amazon ist aber natürlich nicht die einzige Plattform mit chronischer Empfehlungsschwäche. YouTube mag ja jeden Click tracken, versteht aber trotzdem nicht, dass mein Betrachten einiger Videos von PEGIDA-Anhängern nicht bedeutet, dass ich plötzlich Ken Jepsen und andere Neurechte in meinen Empfehlungen sehen will. Und mein Musikstreaminganbieter knabbert immer noch an der Silvesterparty des vorletzten Jahres.

Ich kann nun manuell aufräumen und all die Empfehlungen mit "not interested" wegklicken, während mir gefühlt die Empfehlungsalgorithmen mit großen, traurigen Hundeaugen zusehen und verzweifelt "aber ich dachte, du magst 90er Jahre Trash" wimmern, aber leider ist das immer nur ein sehr kurzfristiger Fix: Bei der nächsten atypischen oder nicht ohne Kontext verständlichen Aktion sind die Empfehlungen wieder weitgehend kaputt.

In vielen Fällen endet Online-Kommunikation in einem schriftlichen Auffahrunfall

Es ist auch immer eine Bandbreitenfrage: Wenn wir Menschen miteinander kommunizieren, tauschen wir – neben dem nakten Fakteninhalt irgendwelcher Nachrichten – auch immer jede Menge weiterer Signale miteinander aus. Die Art, wie wir etwas aussprechen, unseren Gesichtsausdruck, unsere Körpersprache, unsere Wortwahl und viele andere „Meta-Aspekte“ erlauben es unserem Gegenüber unsere Aussage besser einzuordnen. Wie wichtig all diese Informationen für unsere Kommunikation sind, sehen wir nur zu deutlich, wenn wir versuchen, in unserer textbasierten Online-Kommunikation Ironie einzusetzen: In vielen Fällen endet das – wenn sich die Gesprächspartner nicht sehr gut kennen – in einem schriftlichen Auffahrunfall.

Wie können wir Empfehlungen besser machen? Es ist schwierig. Natürlich könnte eine Plattform wie Amazon auf jeder Seite kleine Buttons einbauen, mit denen man dem System den eigenen Kontext mitteilen kann. Quasi die Hipsterfizierung aller Online-Angebote: „Ich betrachte das hier nur ironisch, lol“. Aber wie viele solcher Knöpfe will man anbieten? Wie kommuniziere ich ein "wissenschaftliches Interesse" oder eine Recherche? Und viel wichtiger: Hat irgendjemand Lust und Zeit, all die zusäzlichen Buttons zu klicken, nur um einem etwas schlichten Empfehlungsalgorithmus zu helfen?

Der Schlüssel dürfte eher darin liegen, nicht mehr alle Klicks und alle Menschen gleich zu bewerten. Empfehlungsalgorithmen sind heute oft noch auf dem Niveau eines Musikhändlers, der auf die Frage nach einer CD-Empfehlung mit einem Fingerzeig auf die aktuellen Top10 antwortet. Dabei sind gute Empfehlungen hoch persönlich und extrem vom individuellen und sozialen Kontext, in den sich eine Person einordnet, abhängig.

Die Zukunft der Empfehlungsalgorithmen liegt daher in einer zunehmenden Personalisierung, in der Erfassung und Verarbeitung größerer und größerer Datenmengen über die Nutzenden: Amazon muss quasi mein Blog und meinen Twitter-Feed lesen, um klar zu verstehen, was es mir vorschlagen sollte. Denn die Akzeptanz schlechter Empfehlungen wird in wenigen Jahren nicht mehr als "niedliches Algorithmenversagen" gewertet werden, sondern als professionelles Versagen der Plattform. Wie weit kann man einer IT-Plattform trauen, die nicht mal ihre Empfehlungen im Griff hat?

„Content is King“ ist seit Jahren der Schlachtruf diverser Online-Publikationen. Aber wenn Empfehlungsalgorithmen eine Rolle spielen ist wahrscheinlich „Context is King“ das bessere Motto. Und egal, ob es Online-Shopping oder Musik- und Videostreaming ist: Wer als erstes Kontext wirklich verstehen lernt, wird sich gegen seine Konkurrenz durchsetzen.

In der letzten Folge von „Machines Of Loving Grace“ fragte Jürgen Geuter: Sind Algorithmen als Richter eine gute Idee?

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