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„Netzneutralität ist ein Muss“: Wirtschaftsforscher Jeremy Rifkin im Interview

von Karsten Lemm
Wenn die Digitalrevolution ihr Versprechen einlösen soll, mehr Menschen an Wirtschaft und Wohlstand zu beteiligen, müssen faire Bedingungen für alle Beteiligten garantiert sein. Das fordert der Autor und Ökonom Jeremy Rifkin. „Netzneutralität ist ein Muss“, sagte Rifkin im Gespräch mit WIRED am Rande der DLD-Konferenz in München. „Da kann es keine Kompromisse geben.“

Jeremy Rifkin ist ein Mann der großen Visionen. Vor gut 15 Jahren sagte der Wirtschaftsforscher in seinem Buch „The Age of Access“ voraus, dass Ausleihen künftig populärer sein würde als Kaufen — der Siegeszug von Netflix, Spotify und Uber gab ihm Recht. Kein Wunder, dass Rifkin bei vielen Unternehmensführern und Regierungschefs mit seinen Thesen auf offene Ohren stößt. Auch Angela Merkel sucht bisweilen den Rat des Amerikaners.

Aktuell sieht der 70-Jährige, wenn er in die Zukunft schaut, den Anbruch eines potenziell goldenen Zeitalters für die Menschheit — mit Stromkosten, die dank Solarkraft und Windenergie gegen Null gehen; mit der Chance, Produkte dank 3D-Druck weit günstiger herzustellen als je zuvor und via Internet an Kunden in aller Welt zu vertreiben; mit der Aussicht, durch die „Sharing Economy“ Ressourcen zu schonen und zugleich an vielen Stellen effizienter zu arbeiten.

Nicht weniger als eine dritte industrielle Revolution erkennt Rifkin in alledem und widerspricht den Organisatoren des Weltwirtschaftsforums in Davos, die bei ihrem bevorstehenden Gipfeltreffen Ende dieser Woche bereits den Anbruch einer vierten industriellen Revolution feiern wollen. „Die digitale Revolution hat gerade erst begonnen“, wehrt Rifkin ab. „Jetzt schon zu sagen, sie müsse umbenannt werden, nur weil sich alles so schnell entwickelt, ist absurd.“

Das Internet wird mit der Energiebranche und dem Transportwesen verschmelzen.

Vielmehr stehe eine Verschmelzung des Internets, das bisher vorwiegend zur Kommunikation diente, mit zwei weiteren Wirtschaftsbereichen an: Energie und Transportwesen. Intelligente Stromnetze sind in der Lage, umweltfreundlich gewonnene Energie je nach Bedarf einzuspeisen, zu speichern und zu verteilen — während auf der anderen Seite elektrische Fahrzeuge billiger werden, als es Benzinautos je sein könnten, argumentiert Rifkin. „Die Fixkosten für Solar- und Windenergie fallen rapide. Die Kurve entwickelt sich exponentiell nach unten, ähnlich wie bei Mikrochips.“

Im Zusammenspiel mit dem Internet der Dinge entstehe ein globales intelligentes Netzwerk, das beispiellose Produktivitätsgewinne erlaube — allerdings nur, wenn es gelinge, dieses Netzwerk neutral zu halten und zu schützen: vor übermächtigen Unternehmen ebenso wie vor Übergriffen des Staates und Missbrauch durch Kriminelle. „Für jeden Augenblick der Begeisterung gibt es einen des Schreckens“, sagt Rifkin. „Wie garantieren wie Netzneutralität? Wie stellen wir sicher, dass Regierungen all das nicht an sich reißen oder dass Unternehmen wie Google, Facebook und Alibaba nicht das offene System in ein teilweise geschlossenes verwandeln, um Monopole zu errichten?“


Die dunklen Kräfte sind nicht weniger mächtig sind als die guten.

Jeremy Rifkin

Entsprechend groß seien die Herausforderungen, die sich Schritt für Schritt beim Aufbau der neuen Infrastruktur stellten: „Datenschutz, Sicherung der Privatsphäre, Kampf gegen Cyberkriminalität und Cyberterrorismus — all das sind Themen von enormer sozialer Tragweite, und mir scheint, dass die dunklen Kräfte nicht weniger mächtig sind als die guten.“

Überall zeigen sich in den Augen des Wirtschaftsforschers Anzeichen für ein Ringen des Neuen mit dem Alten. Während die Welt durch soziale Netzwerke einerseits enger zusammenrücke, „kämpfen wir auf der anderen Seite immer noch Stammeskriege, religiöse Kriege, ideologische Kriege“. In Wirtschaft und Politik stünden dem Fortschritt oft veraltete Vorschriften, tief verwurzelte Interessen und eingefahrene Geschäftsmodelle im Weg. „Es wird Rückschläge geben“, warnt Rifkin. Technik allein sei keine Garantie für Fortschritt. Dennoch sei er „verhalten optimistisch“, dass es gelingen werde, die Herausforderungen zu meistern. Allerdings verlange der Übergang von der zweiten zur dritten industriellen Revolution Zeit. „Wir reden von 30 bis 40 Jahren“, erklärt Rifkin. „So lange hat auch der Übergang von der ersten zur zweiten industriellen Revolution gedauert.“


In der Zwischenzeit ringt die Welt mit den Folgen des Umbruchs. Wie sehr, zeigte sich auch zum Auftakt der DLD-Konferenz. EU-Wettbewerbskommissarin Margrethe Vestager mahnte an, Internetnutzer müssten mehr Einfluss darauf haben, was mit ihren Daten geschieht: „Es ist von kritischer Bedeutung, dass wir das Recht haben zu bestimmen, mit wem wir unsere Informationen teilen und zu welchem Zweck.“ Andererseits wolle natürlich auch niemand auf den „enormen Nutzen“ verzichten, den viele Apps und Online-Dienste bieten. Also was tun? „Wir müssen eine Balance finden zwischen den Rechten des Einzelnen und dem Nutzen, den das Teilen bringt“, argumentiert Vestager. Dazu gehöre auch das „Recht auf Vergessen“, also die Möglichkeit, von Unternehmen zu verlangen, dass sie alle persönlichen Daten löschen — wie es in einem kurz vor Weihnachten verabschiedeten EU-Gesetzesvorschlag vorgesehen ist.

Jeremy Stoppelman, Mitgründer von Yelp, lauschte den Ausführungen der EU-Kommissarin aus der ersten Reihe. Er dürfte aufgehorcht haben, als Vestager vor Konzernen warnte, die durch Datensammeln übermächtig werden könnten: „Wenn einige wenige Unternehmen genug Daten kontrollieren, um alle Kundenwünsche zu befriedigen, könnten sie in der Lage sein, Rivalen aus dem Markt zu drängen.“ Kurz darauf saß Stoppelman selbst auf der Bühne und klagte — nicht zum ersten Mal — über Benachteiligung durch die weltgrößte Suchmaschine. „Google ist unglaublich dominant, besonders hier in Europa“, sagte Stoppelman. Früher habe Yelp davon profitiert: Suchte jemand nach Restaurantempfehlungen oder Cafés, habe Google auf Yelp verlinkt. Immer öfter aber bevorzuge der Suchmaschinengigant nun seine eigenen Angebote. „Ungefähr vor anderthalb Jahren“, so Stoppelman, „drehte Google uns den Hahn ab. Jetzt treten wir auf der Stelle, statt schnell zu wachsen.“ Schon deshalb unterstütze er die Bemühungen der EU-Wettbewerbskommissarin, „gleiche Bedingungen für alle“ durchzusetzen.


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