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Johnny Haeusler zum #Brexit: Das Leben ist kein Mikrochip

von Johnny Haeusler
Nach der Entscheidung einer knappen Mehrheit der Briten für den #Brexit ist auch unser Kolumnist unzufrieden. Und zwar gleich mit dem ganzen System: Ja/Nein-Fragen sind lebensfern, sagt er.

Ein Referendum wie das in Großbritannien zum Ausstieg aus oder Verbleiben in der EU ist immer eine binäre Angelegenheit. Es geht um Null oder Eins. Links oder Rechts. Dafür oder Dagegen. Ja oder Nein.

Lichtschalter und Computersysteme funktionieren so, Volksabstimmungen aber ganz offensichtlich nicht. Anders sind der Schock über das Ergebnis und der Wunsch vieler Menschen auf beiden Meinungsseiten nach einer Wiederholung der Wahl nicht zu erklären.

Auch wenn das Ergebnis ein umgekehrtes wäre, sich also 52 Prozent der Britinnen und Briten für die EU entschieden hätten, wäre das kein zufriedenstellendes Resultat einer Entscheidung mit solcher Tragweite. Die bräuchte wesentlich mehr Rückhalt in der Bevölkerung. 52 Menschen entscheiden über das Leben von 48 anderen? Ja, so geht Demokratie, ich weiß. Fair ist das aber nicht. Denn eine Ja-Nein-Frage ist manchmal einfach Unsinn. Das Leben ist kein Mikrochip.

Im Moment gibt es bei demokratischen Wahlen meist nur eine Stimme, aber eben mehrere Optionen. Auch wenn einem die Unterschiede zwischen den zum Beispiel bald in Berlin zur Wahl stehenden Möglichkeiten nicht genügen mögen: Es stehen immerhin 32 Parteien für das Abgeordnetenhaus zur Auswahl. Bei einem Referendum wie dem in Großbritannien aber gibt es keine Optionen als die Wahl zwischen Ja und Nein.

Menschen konnten die Idee einer Europäischen Union zwar grundsätzlich prima finden, bei großer Unzufriedenheit mit den vermeintlichen Auswirkungen auf ihr eigenes Land mussten sie jedoch fast zwangsläufig für einen Ausstieg stimmen. Die Optionen „Ich bin für einen Verbleib in der EU, fordere aber mehr Transparenz und Einblick bei der Umsetzung europäischer Politik“ gab es nicht. Obwohl sie vielleicht eine Mehrheit gehabt hätte.

Auch außerhalb Großbritanniens können viele Menschen mit der EU-Regierung in Brüssel nicht viel anfangen – ob aus Unwissenheit oder aus berechtigten Gründen, das soll uns dabei vorerst egal sein. Würde eine Abstimmung über eine EU-Mitgliedschaft in den Niederlanden, in Frankreich, Spanien, Griechenland wirklich anders ausfallen als in Großbritannien? Oder wären dort nicht auch die „Aussteiger“ in der Mehrheit, vielleicht aus reinem Protest gegen ein System, das zu wenige verstehen? Vielleicht sogar, weil es kaum noch zu verstehen ist?

Wie viele Menschen gab es wohl in Großbritannien, die dem sehr umstrittenen David Cameron als Unterstützer der EU einfach nicht vertrauten und deshalb für einen Ausstieg stimmten? Wie viele Menschen haben erst nach der Abstimmung erkannt, wie sehr sie von der Leave-Kampagne belogen wurden? Und wie viele waren bei der Wahl unsicher, fühlten sich aber zurecht verpflichtet, teilzunehmen und stimmten für das aus ihrer Sicht kleinere Übel (um danach festzustellen, dass es das größere sein könnte)?

Es ist hinterher leicht, mit dem Finger auf die Wählerinnen und Wähler zu zeigen, ihnen vorzuwerfen, sich im Vorfeld nicht richtig informiert zu haben. Besser wäre es aber, den Unsicheren und denen in den Meinungsgrauzonen bei einem nächsten Referendum mehr Optionen anzubieten.

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Zugegeben: „Ich bin für einen Verbleib/Ausstieg, wenn...“ klingt nach einer politisch nicht leicht umsetzbaren Forderung. Und die zusätzliche Option „Ich fordere mehr unabhängige Information und die Wiederholung des Referendums in sechs Monaten“ würde die Sache auch nicht einfacher machen. Solche Optionen wären aber vielleicht wichtig, und gepaart mit einer – zum Beispiel – nötigen Zweidrittelmehrheit fairer als die Schwarzweiß-Frage nach Ja oder Nein.

Vielleicht würde ein solches Referendum kein sofort umsetzbares Ergebnis hervorbringen (was ja gleichzeitig einiges aussagen würde). Viel komplexer als das, was jetzt vor der britischen Regierung liegt, wäre es aber auch nicht.

Ein Referendum auf einer so binären Basis wie wir sie gerade erlebt haben, wirkt wie ein Facebook-Post und wird von einigen Wählerinnen und Wählern offenbar auch ähnlich behandelt: Daumen hoch oder Daumen runter. Wer nicht für uns ist, ist gegen uns. Als wären das Leben, die Politik, die Gesellschaft durch Lichtschalter zu regeln. Oder Mikrochips.

Letzte Woche forderte unser Kolumnist: Gebt der Mailbox eine neue Chance! 

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