Es ist zwar durchaus richtig, dass die (meist nur vermeintliche) Anonymität manche Menschen zu ekelhaften Dingen treibt. Dabei sollte man aber nicht vergessen, wie oft eben jene Anonymität dafür sorgt, dass Menschen sich überhaupt erst äußern können. Dort, wo politische oder persönliche Gründe bestimmte Äußerungen unter Klarnamen verhindern würden, kann die Möglichkeit zur Anonymität viele Debatten bereichern.
Als ich vor einigen Jahren auf meinem Blog Spreeblick über bekannt gewordene Misshandlungen an meiner ehemaligen Schule in den 80er Jahren berichtete, schrieben viele ehemalige Schüler und Lehrer dazu Kommentare, die von ihren persönlichen Erlebnissen in dieser Zeit berichteten. Das war teilweise hilfreich für die Aufarbeitung der Geschehnisse und brachte oft auch den Betroffenen selbst ein wenig Erlösung, weil sie sich zum ersten Mal seit über 30 Jahren äußern konnten. Und zwar anonym.
Außerdem lässt sich jedes Argument der Verfechter des Glaubens, dass sich Menschen im Netz unter ihrem echten Namen besser benehmen, mit einem einzigen Wort widerlegen: Facebook. Die Kommentare, die Facebook-Nutzerinnen und -Nutzer derzeit unter vollem Namen beispielsweise auf Seiten und in offenen Gruppen rund um Pegida und AfD veröffentlichen, sind häufig jenseits von Anstand und Geschmacksgrenzen und nicht selten einer Anzeige würdig. Und keiner dieser Kommentatoren macht sich die Mühe, ein Fake-Profil anzulegen, auf ihren Seiten erfährt man stattdessen beinahe alles über sie.
Da gibt es zum Beispiel den 43-jährigen Mann, der Asylfragen gerne mit „Standrechtlich erschießen!“ lösen möchte und hinter die beiden immerhin korrekt geschriebenen Wörter sicherheitshalber ein zwinkerndes Emoticon setzt. Er ist Geschäftsführer eines Autohauses in Hessen. Oder die Dame Mitte 50 mit drei fast erwachsenen Kinder, die wir alle ebenso bei Facebook bewundern können wie ihren Wunsch, dass man „Steinmeier die Eier abschneiden“ sollte.
Manche Menschen brauchen keine Anonymität, um zu hetzen. Aber viele brauchen sie, um sich überhaupt äußern zu können. Deswegen dürfen wir auch hier die Bedürfnisse vieler nicht wegen des Irrsinns einiger weniger aufgeben!