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Inside YouTube #2 / Die VideoDays sind verdammt norma-a-a-al!

von Anja Rützel
„Inside YouTube“ hieß unsere große Reportage, in der WIRED vor einem halben Jahr die deutsche YouTube-Szene beleuchtete. Was seitdem passiert ist, lest ihr in unserer Serie „YouTube revisited“. Heute: Mädchen mit verschmierten Pandabär-Kajalaugen kreischen auf den VideoDays durch ihren Mundschutz.

Teil 1: Inside YouTube #1 / Zwischen bösem Kapitalismus und Re-Hippiesierung

Ist es eine Infektion, eine Epidemie? Ansteckend am Ende? Um die Treptower Arena in Berlin drückt sich am vergangenen Samstag eine Schlange aus 6000 Kindern, sie stehen an für die Berliner VideoDays. Zusammen mit der Kölner Ausgabe der Veranstaltung sind die VideoDays das größte europäische YouTuber-Communitytreffen, und die Kinder und Jugendliche sind gekommen, um ihre liebsten Internetmenschen einmal live und leibhaftig zu sehen. Wenn man die Schlange gaffend abschreitet, stehen dazwischen immer mal wieder ein paar, die einen Mundschutz anhaben: Kleine Buben mit Steckerlbeinen, Mädchen mit verschmierten Pandabär-Kajalaugen.

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„Uns haben auch schon Leute angesprochen: Warum tragt ihr den, habt ihr ne Krankheit?“, sagt eines der Mundmaskenmädchen, deren Gesicht so klein ist, das zwei Drittel davon vom knittrigen, feinporigen Papier bedeckt sind. Sie nickt anerkennend, als man selbst hastig und ranschmeißerisch dazwischensagt, dass sie den Mundschutz sicher wegen Ardy tragen. Das Chirurgen-Accessoire ist nämlich seit neuestem das Markenzeichen von Ardy, der früher mal YouTuber war und heute lieber für seine Musik bekannt sein möchte. Er ist ein Teil der HipHop-Combo Dat Adam, die am Samstag auch bei der großen Liveshow auf den VideoDays auftritt, und mit der Maske will er, so heißt es, Viren aus dem All abwehren. Allen Umstehenden kommt das völlig plausibel vor.

„Es gibt aber auch andere Gerüchte“, sagt ein etwa 15-jähriges Mädchen nahe des Currywurststandes, ihre beiden Mundschutz-Freundinnen links und rechts nicken stumm und synchron wie gruslige Kinder aus einem Horrorfilm: „Vielleicht trägt Ardy den Mundschutz auch, weil er sich einen Bart wachsen lässt. Oder er will nicht, dass man sieht, dass er eine Zahnspange hat. Die genauen Gründe sind aber egal: „Wir tragen sie, weil wir uns fühlen wollen wie er.“

Genau darum geht es auf den Videodays: Das wohlige Gefühl zu nähren, dass diese fast gleichaltrigen Menschen, die auf YouTube zum Teil über eine Million Follower haben und eine neue Kaste von Stars bilden, gleichzeitig doch nahbar geblieben sind. Nicht nur im wörtlichen Sinn, für den man am Vortag bei besonders beliebten YouTubern bis zu fünf Stunden anstehen musste, um sich ihnen eben nähern zu dürfen und ein Autogramm zu bekommen. Und im übertragenen Sinn: Wie in der niedlichen Vorstellung, dass man nicht alleine ist mit seiner Zahnspangenscham, sondern dass auch Ardy darunter leidet und sich darum einen subtil kaschierenden Mundschutz umschnallt. Auch wenn hilflose Erkläronkel gerne behaupten, das Gewese um die YouTuber sei eben die heutige Variante des Boyband-Craze der neunziger Jahre: Es ist eben nicht so. Weil die Fans damals bei aller Hysterie nie wirklich geglaubt haben dürften, dass Robbie und Joey und Justin und Schmusy im Alltag dieselben Probleme haben wie sie selbst.

Obwohl sie im Computer leben, sind sie doch Menschen.

Mutter einer 12-Jährigen


Das Verhältnis zu den YouTubern ist anders und neu. „Obwohl sie im Computer leben, sind sie doch Menschen“, sagt am Samstag nicht etwa eine verblüffte 12-Jährige, sondern ihre Mutter, die in einem Liegestuhl sitzt und quasi als tränentrocknende Boje fungiert, zu der die Tochter im Laufe des Nachmittags immer mal wieder weinend zurückkehrt, wenn sie gerade erneut einen ihrer Lieblings-YouTuber getroffen hatte.

So unverständlich, oberflächlich und albern, laut und grunddumm manche YouTube-Kuriositäten wirken, ist es doch ebenso dumm, über sie zu lachen – nur, weil man selbst zu wenig weiß über diese komische, fremde Welt, durch die man sich wie durch eine Katzenklappe zwängen muss, weil man eigentlich schon zu groß dafür ist. Zu alt, zu abgeklärt fühlt man sich schnell, wenn man als in YouTube-Dimensionen offiziell alter Mensch versucht, diese Welt zu kapieren. 

Wenn die ganze Arena mit ihren Engelchenstimmen „Online, online, durchgehend online“ kreischt, kann es einem auch als Nicht-Kulturpessimist schon sehr kalt über den Rücken laufen.

Andererseits macht die Sherlock-Arbeit auch Spaß, mit der man sich immer wieder neue Puzzleteile zusammenreimt: Wenn man begreift, dass sich das eine Mädchen dort hinten nicht einfach aus blanker jungendlicher Blödheit mit Edding einen Penis auf die Wange gemalt hat, sondern um damit auf ein Erfolgslied von Y-Titty zu verweisen, das später auch noch bei der großen Abschlusshow am Samstag live zur Aufführung kommen wird: „Ihr Schweine habt mich angemalt“, eine Coverversion von Gotyes „Somebody that I used to know“, nur dass der Titty-Text davon handelt, wie es ist, wenn einen die Freunde während einer Suffohnmacht mit Penissen bemalen.

Es gibt durchaus Momente, in denen einem die VideoDays Angst machen. Im Gespräch mit einem 12-jährigen LeFloid-Fan etwa, mit dem man am Fanshirt-Stand ins Gespräch kommt, einem Mädchen, das dem YouTuber und seinen LeNews-Videos längst mehr glaubt als den TV-Nachrichten oder traditionellen Newsseiten im Internet: „Er sagt uns auch die Dinge, von denen wir nicht erfahren sollen, die darum überall sonst verschwiegen werden“, sagt sie, und vielleicht bastelt sie in ihrem Kinderzimmer tatsächlich schon an einem Aluhut aus zusammen gesammelten Kaugummihüllensteifen. Andererseits ist es ja schön, dass die jüngste Jugend überhaupt Anteil nimmt an der Welt um sie herum. Dass diese Teilhabe fast komplett online passiert, ist nun keine Überraschung, darüber haben schließlich auch schon Die Lochis ein Lied geschrieben. Es heißt „Durchgehend online“, und wenn den Refrain („Online, online, durchgehend online“) die ganze Arena mit ihren unschuldigen jungen Engelchenstimmen kreischt, eine Art „Drei Tage wach“ für die Kleinen, kann es einem auch als Nicht-Kulturpessimist schon sehr kalt über den Rücken laufen.

Die große Identifizierungshymne aber kommt von Y-Titty, den derzeit in Kreativpause befindlichen großen alten Buben des Comedy-Videos. Sie werden auf der Bühne von einem Menschen im Peniskostüm begleitet, der bei seinen Tanzversuchen immer wieder über seine eigenen Testikel zu stolpern droht. Als sie ihr ihren Hit „Verdammt normal“ anstimmen, gibt es kein Halten mehr: „Ich bin verdammt normal, ich bin verdammt normal, ich bin verdammt norma-a-a-al“, brüllen die Kinder. Nie hat sich Altsein so tröstlich angefühlt. 

Im ersten Teil unserer Revisited-Serie erklärt Anja Rützel, warum YouTube einen Branchendienst braucht. Vor einem halben Jahr hat WIRED die YouTube-Szene schon einmal beleuchtet, die große Reportage dazu lest ihr hier.

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