Hinweis zu Affiliate-Links: Alle Produkte werden von der Redaktion unabhängig ausgewählt. Im Falle eines Kaufs des Produkts nach Klick auf den Link erhalten wir ggf. eine Provision.

Mit „Cradle“ hat ein ukrainischer Videospiel-Entwickler einen Traum aus seiner Kindheit nachgebaut

von Oliver Klatt
Während ihre Heimat im Krieg zu zerbrechen droht, veröffentlichen vier Game-Designer aus der Ukraine einfach ein Videospiel. „Cradle“ hat mehr mit einer Traumerfahrung gemein hat als andere, handelsübliche Parallelwelten. Es ist ein Fluchtversuch aus der harten Realität in der Heimat der Entwickler.

In der Mongolei des Jahres 2076 versuchen ein junger Mann namens Enebish und die Roboterdame Ida in „Cradle“ gemeinsam, ihr verloren gegangenes Gedächtnis wiederzufinden. Eine unerklärliche Angst scheint wie eine Seuche unter Menschen um sich zu greifen, die ihr Bewusstsein — wie Ida — schon vor Jahrzehnten in Roboterkörper übertragen haben, um ihr Leben zu verlängern.

icon_cookie

Um diese Inhalte zu sehen, akzeptieren Sie bitte unsere Cookies.

Cookies verwalten

„Die Idee stammt tatsächlich aus einem Traum“, erinnert sich Ilya Tolmachev, Creative Director von „Cradle“ und Gründer des Studios Flying Café. „Darin lebte ich als Kind allein in einer Jurte inmitten der mongolischen Steppe“. Der Unterschied zwischen Traum und wirklichen Leben erschien Tolmachev derart markant, dass er beschloss, ihn mit anderen Menschen zu teilen und in einem Videospiel nachzubauen.

Das ist ihm gelungen. Denn genau wie ein Traum fühlt sich „Cradle“ zu gleichen Teilen vertraut und unwirklich an. Aus der First-Person-Perspektive beginnt man zunächst, die liebevoll ausgestaltete Jurte von Enebish zu erkunden. Man kann Schranktüren öffnen, Schubladen aufziehen, Alltagsgegenstände zur Hand nehmen und Zeitungsausschnitte studieren.

Eine Notiz erinnert einen daran, dass man das Frühstück für einen gewissen Ongots zubereiten soll. Also sammelt und schneidet man Zutaten, setzt Wasser auf und rührt eine Mahlzeit zusammen. So weit, so gewöhnlich. Erst als man das Koch-Minispiel beendet hat und bemerkt, wer da als Gast zu Tisch geladen ist, rückt die Welt von „Cradle“ wieder ein Stück ins Fantastische. Und dann ist da natürlich noch die Roboterfrau Ida, die halbfertig in Enebishs Zelt darauf wartet, dass man sie wieder zusammensetzt.

Der Fotorealismus von „Cradle“ macht die Glaubhaftigkeit des Spiels aus und ist der Tatsache geschuldet, dass alle Mitglieder des Entwicklerteams früher bei GSC Game World gearbeitet haben — den Machern von „Stalker: Shadow of Chernobyl“. Damals verbrachten die 3D Artists und Level Designer Jahre damit, die verlassene Welt um die Ruine des Atomreaktors von Tschernobyl detailgenau zu reproduzieren.

Es war weniger die Spielbarkeit, die „Stalker“ seinerzeit auszeichnete, sondern die penible Umsetzung eines realen Schreckensorts in die Virtualität. Mit „Cradle“ verfolgen die Macher den selben Ansatz. Nur ist es diesmal die Traumlandschaft eines einzelnen Menschen, die mit viel Akribie nachgebildet wurde. „Für uns ist die künstlerische Qualität unserer Produkte enorm wichtig“, sagt Tolmachev. „Wie nennen unser Studio nicht umsonst Flying Café. Wir sind Zuckerbäcker. Der Geschmack unserer Games steht für uns im Mittelpunkt“.

Es ist schwer, sich zu konzentrieren, während das eigene Land vom betrunkenen Nachbarn in Stücke gerissen wird.

Ilya Tolmachev, Game-Designer

Der Entwicklungsprozess von „Cradle“ war jedoch alles andere als ein Zuckerschlecken. 2012 verließ Game-Designer Pavel Mikhailov wegen ideologischer Differenzen das Team. Und auch die Unruhen und der bewaffnete Konflikt in der Ukraine hinterließen ihre Spuren. „Die politische Situation hat unsere Arbeit stark beeinträchtigt“, sagt Tolmachev.

„Es fällt einem schwer, sich zu konzentrieren, während das eigene Land von einem verrückt gemachten, betrunkenen Nachbarn in Stücke gerissen wird.“ Ursprünglich sollte „Cradle“ bereits vor drei Jahren veröffentlicht werden. Dass es in Anbetracht der gegebenen Umstände überhaupt noch erscheint, kommt einer Trotzreaktion gleich.

„Cradle“ wirkt wie ein Fluchtversuch. Wie ein farbenfroher, formschöner Traum, den Tolmachev und sein Team mit ihren Landsleuten und dem Rest der Welt teilen wollen, um zu zeigen: Es gibt noch mehr als Kriegselend und politische Korruption — es gibt Utopien. Es gibt Fantasie. Es gibt Kunst. „Wir wollen den Spielern das Gefühl geben, durch ein Schlüsselloch in eine andere Welt zu blicken“, sagt Tolmachev. „Diese Welt ist groß und tiefgründig. Aber da man nur einen Ausschnitt von ihr zu sehen bekommt, regt das die eigene Vorstellungskraft an. Sich in ihr zu verlieren und eins mit ihr zu werden, ist ein ganz besonderes Vergnügen.“

Für Windows- und Linux-PCs ist „Cradle“ ist über Steam erhältlich. 

GQ Empfiehlt
Nintendos neues Produkt ist aus Pappe

Nintendos neues Produkt ist aus Pappe

von Michael Förtsch