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Geschichte wird weggesperrt. Googles Museum ändert das jetzt

von Oliver Franklin-Wallis
Google bemächtigt sich der Exponate von Museen und archiviert Millionen von Kunstwerken. Wovor Kuratoren erst Angst hatten, könnte jetzt eine neue Sicht auf historische Kunst ermöglichen. Die virtuelle Realität könnte sogar den Weg zu einer völlig neuen Kunstform bahnen.

Im Google Cultural Institut in Paris bewundert Charlotte Fechoz die Sternennacht von Vincent van Gogh. Die Malerei ist nicht wirklich hier – seit 1941 hängt sie im MoMA in New York. Stattdessen betrachtet Fechoz, Koordinatorin des Pariser Arbeitsbereichs Le Lab, das Meisterwerk an der Wand. The Wall ist ein 18 Meter breiter zweistöckiger Bildschirm. Er wurde designt, um Kunstwerke in überdimensionaler Größe zu sehen. Sternennacht, eines von hunderten Meisterwerken, das von Googles Gigapixel Art Camera gescannt wurde, ist zu erstaunlicher Klarheit hochgezogen.

„Man kann sehen, dass die Leinwand nicht vollständig bedeckt ist“, sagt Fechoz, während sie so lange zoomt bis ein einziger Pinselstrich doppelt so groß ist, wie sie selbst. „Laut Experten bedeutet das, Van Gogh hatte es eilig. Er hatte dieses Gefühl von innerer Notwendigkeit.“

Wenn man Googles Kerngeschäft mit einer Bibliothek vergleicht – also das Sammeln und Organisieren von Informationen – dann ist das Cultural Institute seine Kunstgalerie. „Wir versuchen, Einblick zu geben und für Erhalt zu sorgen“, sagt Laurent Gaveau, der 29-jährige Direktor von Le Lab. Die gemeinnützige Plattform, sagt Gaveau, hat eine Funktion: „Wie können Menschen mehr mit Kunst in Berührung gebracht werden?“

2011 als Google Art Project in Gang gesetzt, hatte das Cultural Institute seinen Ursprung als Projekt von Google Mitarbeitern. Google ermöglicht seinen Mitarbeitern 20 Prozent ihrer Zeit, also einen Tag der Woche, Nebenprojekten zu widmen – eines davon war das Google Art Project. Seit der Erweiterung des Instituts, das nun historische Archive sowie Street Art und Performanceküste beinhaltet, umfasst es mehr als sechs Millionen Kunstwerke, Fotos, Videos und Dokumente von 1000 Institutionen, darunter das British Museum und MoMA.

Auf den ersten Blick erscheint Amit Sood, der in Bombay geborene Leiter des Instituts, als unwahrscheinlicher Meister der Künste. „Ich habe nullkommanull Hintergrund in Kunst oder Geschichte“, sagt Sood, der in seinem Londoner Büro sitzt. In Indien aufgewachsen, besuchte er nie Museen. Erst als er ins Ausland zog und Ingenieurtätigkeiten in New York, Stockholm, Singapur und Belgien machte, wurde er Museumsfanatiker: „Ich fand es eine sehr kostengünstige Art, für meine eigene Unterhaltung zu sorgen.“

Kunstinstitutionen sind verantwortlich, ihre eigenen Inhalte auf die Seite zu laden und behalten die Kontrolle über das Copyright.

Bei Google ließen Soods Erfahrungen ihn in Kontakt mit Museen treten. Die Hoffnung war, dass er ihre Kollektionen online bringen könnte. Aber jahrhundertealte Institutionen überreden, ihre Sammlungen Preis zu geben, stellte sich anfangs als schwierig heraus. „Es gab drei oder vier Barrieren, um ihr Vertrauen zu erlangen. Die erste: Es ist Google, ihr werdet kommen, alles nehmen und Werbung draufknallen“, sagt Sood.

Das Cultural Institute war gemeinnützig gegründet worden: Kunstinstitutionen sind verantwortlich, ihre eigenen Inhalte auf die Seite zu laden und behalten die Kontrolle über das Copyright. „Sie wählen, was auf die Plattform kommt, nicht wir“, sagt Sood. (In Anbetracht der jüngsten Copyright-Kontroverse um Google Books ein wichtiger Aspekt. Autoren hatte argumentiert, dass Scans ihrer Arbeiten kein Fair Use gewesen sein soll. Der US Supreme Court entschied im April zu Gunsten von Google.)

Noch eine Angst der Museen: Kunst online zu stellen, könnte die Besucherzahlen in Museen reduzieren. „Wir haben hart gearbeitet, das als falsch zu entlarven“, sagt Sood. „Der einzige Weg war zu warten. Die Zeitschrift Art Newspaper berichtet von jährlichen Rekorden bei Museumsbesuchen.“

Die Besucherdebatte, sagt Sood, untermalt auch den Konflikt zwischen namenhaften Touristenattraktionen und kleineren Institutionen. „Wenn man mit Museen in abgelegenen Gebieten spricht, sagen sie: klar“, sagt Sood. „Ihr Problem ist, dass Leute sie nicht kennen.“

Kuratoren kommen hier her, um Malereien zu untersuchen, die sie seit 30 Jahren studieren.

Charlotte Fechoz

In Paris entwickelt Gaveaus Team Mittel, die dem Publikum ermöglichen sollen, Kunst auf neue Art und Weise zu erleben. Eines seiner ersten Projekte war die Gigapixel Art Camera, die hunderte von Nahaufnahmen zusammenfügt, um Kunstwerke in erstaunlichem Detail festzuhalten. Dieses Gerät hat dutzende Arbeiten fotografiert, von Munchs Der Schrei bis hin zu Chagalls Malereien im Dom der Pariser Oper.

Letzteres eröffnete eine Herausforderung: Die Decke ist von einem kunstvollen Kronleuchter verdeckt, der durch innovative Bildbearbeitungsverfahren umgangen wurde. Die Resultate sind nicht nur visuell beeindruckend: „Kuratoren kommen hier her, um Malereien zu untersuchen, die sie seit 30 Jahren studieren“, sagt Fechoz. Ein kürzlich entstandener Scan des Doms der St. Paul’s Cathedral gibt Zugang zu Bildern aus nächster Nähe, etwas das zuvor selbst für Historiker unerreichbar gewesen ist.

Das Institut hat auch im Bereich von Indoor-Street-View Wegweisendes geleistet. Alles begann, als Sood das Google-Maps-Team ansprach, um das Innere von Galerien zu fotografieren. Das Ergebnis: ein maßgefertigtes 360-Grad-Kamerasystem auf einem beweglichen Transportwagen, das virtuelle Galerietouren ermöglicht. Seit 2015 hat sich das Archiv erweitert und enthält jetzt auch Live-Events, wie die Biennale di Venezia. „Für das Grand Palais in Paris arbeiteten wir mit 3D-Aufnahmen aus der Luft, einem Kamerawagen und einem Trekker-Rucksack für die Treppe“, sagt Gaveau. „Wir haben sogar ein Stativ aufs Dach gestellt.“

Andere Projekte konzentrieren sich darauf, Kunst in alternativen Formen zu entdecken. „Wir haben diese Datenbank von Millionen großartiger Bilder und wir versuchen Wege zu finden, neue Erlebnisse zu kreieren“, sagt Gaveau. Ein unterhaltsamer Prototyp ist Portrait Matcher. Dabei wird eine Webcam benutzt, um die Gesichtsposition des Betrachters zu analysieren und mit einem Kunstwerk aus der Datenbank in Echtzeit zusammenzufügen. Es ist wie ein Spiegel der bildenden Künste – für Kinder möglicherweise eine neue Herangehensweise an ansonsten trockene Bereiche der Kunstgeschichte.

Die Arbeit von Le Lab hatte Einfluss weit über Paris hinaus. Cardboard, Googles kostengünstige Version eines Virtual-Reality-Headsets, startete als Experiment von Damien Henry und David Coz, zwei Ingenieure im Pariser Labor des Instituts. (Der Arbeitsbereich des Labors ist mit Kartonmöbeln eingerichtet, ein Tribut an seine berühmteste Schöpfung.) „Von Anfang an waren Bildung und Kultur im Mittelpunkt des Projekts“, sagt Henry. „Und jetzt können eine Millionen Kinder Virtual Reality in ihren Klassenzimmern erleben.“ Bei der Aufnahme von Performancekünsten in das Repertoire im Dezember 2015, benutzte das Institut die Technologie von Cardboard, um Virtual-Reality-Filme in der Royal Shakespeare Company und Carnegie Hall zu drehen.

Wir wollen eine Brücke sein, zwischen Kultur und Technologien – wie Virtual Reality.

Amit Sood

Im März kreierte Soods Team gemeinsam mit den Königlichen Museen der Schönen Künste in Belgien eine Virtual-Reality-Version von Bruegels Der Sturz der rebellierenden Engel. „Es ist die Vorstellung, sich in ein Gemälde hineinzubegeben“, sagt Henry. „Eine Verbindung herzustellen, zwischen dir selbst und einem Kunstwerk.“

Aber Soods Vision übersteigt die Dokumentation. Das Labor experimentiert auch damit, wie die Zukunft von Kunst aussehen könnte. Im März 2016 lud Soods Team fünf weltbekannte Street-Artists in ihr Labor ein. Sie sollten mit Tilt Brush herumspielen, einer Virtual Reality Mal-App für das HTC Vive, die Google 2015 erworben hatte. „Wir entschieden uns zuerst Straßenkünstler zu nehmen, weil sie mit dieser sehr körperlichen Art zu malen schon vertraut sind“, sagt Henry.

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Hinter den Kulissen von Tilt Brush seh WIRED UK dabei zu, wie die Gemälde mitten in der Luft heraufbeschworen wurden. Skizzierte Umrisse wurden mit Farben und Schatten fassbare Objekte, die im 3D-Raum schwebten. Licht und Struktur erfüllten den vorher leeren Bereich. Sich im Inneren eines jeden Kunstwerks bewegen zu können, während sie kreiert werden – ausgearbeitete kalligraphische Galaxien, kunstvolle Maskenskulpturen, eine explodierende, sich im Licht brechende metallene Landschaft – fühlen sich merkwürdig so an, als ob man sich im Kopf eines Künstlers befindet. Es ist nicht schwer, ein Tilt-Brush-Werk in der Entstehung zu erleben und sich nicht einzubilden, dass man Zeuge des Beginns einer neuen Kunstform ist.

Die Tilt-Brush-Experimente sind nicht Teil von Googles Masterplan. Im Moment sind sie nur ein Einblick in das, was sein könnte. Sood und sein Team möchten, dass das Labor der Ort ist, an dem Sachen gemacht werden können, die nicht sofort neue Erkenntnisse bringen. (Im April wurden die Kunstwerke für Nutzer von HTC Vive zugänglich gemacht – es ist geplant, weitere Künstler einzuladen, um mit der App zu experimentieren.) Das selbe gilt für Googles Artists-in-Residence-Proramm, das auch Partner der jungen Künstlerinitiative 89plus ist, und bereits den Schriftsteller und Künstler Douglas Coupland zu Gast hatte.

Mehr und mehr bringt das Cultural Institute nicht nur Kunst online – es zieht auch in Galerien ein. Portrait Matcher, The Wall und Cardboard wurden alle mit einem tatsächlichen Raum im Kopf entwickelt. Die Cardboard-Headsets in Brüssel, die den Bruegel-Film zeigen, sind genauso Teil der Ausstellung, wie die ausgestellten Bilder.

„Wir wollen eine Brücke sein, zwischen Kultur und Technologien – wie Virtual Reality“, sagt Sood. „Museen haben nicht viel Geld. Wir können die Quelle sein, an der diese Erlebnisse finanziert und erschaffen werden.“

Das könnte der größte Einfluss des Cultural Institutes sein: Uralte Institutionen revolutionären Denkensweisen auszusetzen. Sood ist der Meinung, dass Leute einen zu kurzsichtigen Blick auf das haben, was Kunst und Kultur ist. Manche würde eine sehr lange kuratorische Erklärung über impressionistische Kunst nicht ansprechen. „Aber wenn ich sage: Hey, willst du sehen, wie Klunker um 1800 ausgesehen haben? Ich denke, da besteht viel Möglichkeit zu revolutionieren und das Denken der Leute zu verändern.“

Dieser Text erschien zuerst auf WIRED UK.

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