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„Far Cry Primal“: Eine prähistorische Geschichte der Gewalt

von Michael Rundle
Forscher der Universität Cambridge haben Anfang des Jahres eine schreckliche Entdeckung an einer Küste in Kenia gemacht: 27 Leichen, davon sechs Kinder. Ihre Körper waren gezeichnet von Misshandlungen, ihr Tod muss gewaltsam und brutal gewesen sein.  

Die meisten von ihnen lagen auf dem Bauch, Gesicht nach unten. Manche waren von Pfeilen durchbohrt, andere hatten gebrochene Hände, Rippen und Knie oder schwere Schädelfrakturen. Bei einigen, so auch bei einer Frau, die zum Zeitpunkt ihres Todes ein ungeborenes Kind in ihrem Bauch trug, waren die Hände gefesselt.  Keiner der Toten wurde begraben, sie wurden einfach liegen gelassen, um im Schlamm zu verrotten.

Dieser Strand wurde zum Ort eines Massakers, eines, das sich vor 10.000 Jahren ereignet hat. 

Eine Entdeckung wie diese ist selten. Es gibt nur eine vergleichbare Fundstätte aus dieser Zeit – und zwar im Sudan. Diese wurde in den späten 1960ern entdeckt. Die Gräber dort scheinen allerdings von Siedlern zu stammen, die Toten in Kenia waren wohl Nomaden, Jäger und Sammler. Grausame Funde, die zwar einzigartig sind, aber die Vorstellung begraben, dass die Frühgeschichte der Menscheit auch nur annäherend friedlicher war als die 12.000 Jahre, die folgen sollten. Die Menschen scheinen schon immer bösartige, gehässige Mörder gewesen zu sein – seit sie als Spezies existieren.

Die Macher des Spiels „Far Cry Primal“, ein wunderbarer, neuer prähistorischer Dreh der bekannten Ubisoft First-Person Action-Reihe, stimmen offensichtlich zu. Nach kurzem Intro startet der Spieler, ausgestattet mit Speer, Keule sowie Pfeil und Bogen, in den saftigen Hügeln und Tälern des europäischen Oros. Seine Aufgabe ist es, mordend durch die Wälder sowie Eis- und Sandwüsten der Alten Welt zu ziehen.

Hauptsächlich ist es witzige, alberne Unterhaltung, die von extrem beeindruckender Grafik und Art Direction profitiert; eine bekannte, aber beständige Mixtur aus Entdeckungen und Action Mechanics sowie dem erfrischenden Mangel an Gunplay – obwohl es natürlich Stealth-Angriffe und andere Frames-Per-Second-Cliches bietet.

Einige Kritiker haben das dichte Storytelling bei „Primal“ vermisst, das in anderen Teilen der Far-Cry-Reihe zu finden ist. Auch wenn die Story hier ziemlich minimalistisch gehalten wird, tut das dem Spiel keinen Abbruch. In „Far Cry 3“ ging es um die schlecht gezeichnete Karikatur eines Mannes, der Probleme mit der eigenen Psyche hat und ständig daran scheitert, die Bedeutung von Wahnsinn zu definieren. Die Geschichte von „Far Cry 4“, die von den meisten Spielern ignoriert wurde, handelt von schnörkelosem Guerillakampf. Erzähltechnisch ist „Primal“ total eindimensional. Der Job des Spielers ist, seinen eigenen Stamm, den der Wenja, wieder aufzubauen und vor den Kannibalen der Roten sowie den feuerschwingenden Blauen zu retten. (Die Namen dieser Stämme sind unwichtig. Was allerdings wichtig erscheint, ist, dass deine Feinde die Zeit hatten, ihre Uniformen aufwändig farbig zu gestalten, während du ums Überleben in der brutalen Hölle eines prähistorischen Europas ums Leben kämpfst.) Dein erster Kontakt, den du als Spieler mit den Wenja hast, ist eine Frau, die menschliche Ohren sammelt, um eine Kette daraus zu machen. Diese trägt sie stets um den Hals.  Die Wenja haben wohl noch einen langen Weg vor sich, bevor sie ein politisches Mandat für moralische Überlegenheit übernehmen können.

Das schafft beste Voraussetzungen für extensiven Man-on-Man Konflikt. Du stellst dir Oros wahrscheinlich als wenig besiedelte Gegend vor, aber in Wirklichkeit laufen da so viele Menschen rum, dass es sich eher wie die Simulation eines alptraumhaften nächtlichen Glasgows anfühlt.

Was das Spiel rettet, so wie bei fast jedem „Far Cry“-Titel, sind die Tiere. Oros ist voll von prächtigen Tierarten, die sowhl aggressiv als auch friedlich sind. Eine der größten Freuden in „Primal“ ist es, die verschiedenen Protagonisten der Tierwelt zu trainieren und zu streicheln. Als Beastmaster kannst du Löwen, Braunbären, Wölfe und sogar Honigdachse zähmen und abrichten. Diese können dich beim Angriff auf Außenposten unterstützen und dir helfen, neues Territorium zu erobern oder dich nachts vor anderen Raubtieren beschützen. Außerdem kannst du eine Eule als Späher aussenden, die noch dazu Bomben aus Bienennestern auf deine Gegner wirft. Schließlich wirst du auch deinen Bären, Mammut oder Säbelzahntiger in den Kampf reiten können. Für genau solche aufregenden Ritte scheinen Videospiele erfunden worden zu sein. 

Es gibt Momente in „Primal“, in denen du dich in einer wohligen Ruhe wieder findest. Zum Beispiel dann, wenn du auf eine Anhöhe kletterst, ein freundlicher Höhlenbär an deiner Seite, und du dich noch einmal umdrehst, nur um einen Blick auf die Gletscherlandschaft zu erhaschen, die gerade in das Orange der untergehenden Sonne gehüllt wird. Oder, wenn du dich zusammen mit deinem Jaguar im Gebüsch auf die Lauer legst, abwartest und währenddessen dem Lied der Bäume lauscht oder dem Röhren eines Hirsches in der Ferne. Das sind schöne Momente, die der dünnen Struktur Substanz geben. „Primal“ fehlt letztlich genau das, was auch der Menschheit fehlt: der Sinn für dauerhaften Frieden. 

Aber das Chaos folgt dir, immer: ein Angriff könnte beginnen, ein Quest aktiviert werden oder vielleicht ist es auch nur dein Haus-Raubtier, das sich auf eine Ziege am Wegesrand stürzt. Obwohl du nur still dasitzt und nichts tust, wirst du immer wieder in ein brutales Schlamassel hineingezogen – so wie das, das uns alle seit Menschengedenken verwirrt. 

Das ist natürlich auch der Sinn des Spiels; „Far Cry“ hatte schon immer Angst davor, dass von einem auf den anderen Augenblick Langeweile entstehen könnte. Daher stattete Ubisoft seine Welt mit mehr Collection Mini-Games, Außenposten, Bären, Löwen und unsichtbaren Schlangen aus, als es sie jemals geben könnte. Wenn die Langeweile also doch zuschlagen sollte, und das wird sie, kommt alles auf einmal: Das ist ein Single-Taste, Single-Pace Spiel, das weder besondere Höhen noch besondere Tiefen hat. Es gibt kein Entkommen, nur eine konstante, unechte Geschwindigkeit ohne Momentum.

Andere Spiele könnten für mehr Abwechslung in der Zukunft sorgen; „Wild“, ein angekündigtes Open-World Abenteuer von Michael Ancel (ehemals Gamedesigner bei Ubisoft), das ebenfalls in der Frühzeit spielt, wird ähnliche Features haben – wie zum Beispiel der Besitz von Tieren – verspricht aber ein besseres Verständnis des Maßstabs und eine dynamischere Welt. Auch Guerilla Games kündigen mit „Horizon: Zero Dawn“ ein neues Spiel an, das zwar rein technisch in der fernen Zukunft spielt, in einem Land von Roboter-Dinosauriern und zerstörten Megastädten, in seiner Essenz aber ein prähistorisches Open-World Abenteuer ist. „ARK: Survival Evolved“ ist ein Survival-Game für den PC, das in einem Land voller Dinosaurier spielt.

„Far Cry Primal“ ist kein schlechtes Spiel. Für einige Spieler wird es sicherlich das beste der „Far Cry“-Reihe sein und außerdem zeigt es einen frischen Dreh bei dem Genre FPS-Spiele. Definitiv ist es auch kein Add-On, ähnlich zu dem Standalone-Add-On „Far Cry: Blood Dragon“ bei „Far Cry 3“. Leider ist es aber auch keine Eintrittskarte in eine andere Welt oder Zeit. Das Land 10.000 Jahre vor Christus ähnelt unserem heutigen sehr; im besten Falle lebhaft und ein bisschen monoton, im schlimmsten Falle sowohl langweilig wie grausam. 

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