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#FASHIONTECH / Designforscher Fabian Hemmert entwickelt ein lebendiges Handy

von Sonja Peteranderl
Handys, die einen Pulsschlag haben, vernetzte Kleidung und unsere persönliche Beziehung zu Hightech: Diese Dinge erforschen Fabian Hemmert und seine Kollegen am Design Research Lab der Berliner Universität der Künste. Bei der #FASHIONTECH-Konferenz am 20. Januar in Berlin wird Hemmert in seinem Talk erklären, wie tragbare Technologie die Gesellschaft verändert. Im Interview mit WIRED Germany verrät er vorab, warum Fitness-Tracker nicht glücklich machen, Menschen mit Behinderung Wearables-Experten sind und was die böse Königin aus „Schneewittchen“ mit unseren Smartphones zu tun hat.

WIRED: Das Design Research Lab ist eine Schnittstelle zwischen Unternehmen und Wissenschaft. Spüren Sie, dass das Interesse an Wearables wächst?
Fabian Hemmert: Auf jeden Fall. Wir haben gerade eine neue Etage eröffnet, auf der besonders zu diesem Thema geforscht wird. Forschung zu Wearables wird gerade stark gefördert, das ist eine gute Entwicklung. Und einige dieser Geräte kann man ja auch schon kaufen. Smartwatches sind allerdings immer noch eine Art „Handy light“, ein Mobiltelefon, in ein kleineres Gehäuse gepackt. Ich persönlich sehe mich zukünftig nicht mit meiner Uhr telefonieren. Und auch das Thema Fitness-Tracking halte ich für problematisch.

WIRED: Warum?
Hemmert: Es macht mich vielleicht zu einem optimierteren Menschen, aber ich glaube nicht, dass es mich glücklicher macht. Ich habe mir auch mal eine WLAN-Waage gekauft, so dass ich auf meinem Handy sehen konnte, wie meine Gewichtskurve ist — totaler Quatsch. Wenn man das Ziel hat, sich selbst zu hassen, kann man das vielleicht machen. Im Bereich Fitness und Sport kommen aber sicher noch spannendere Anwendungen auf uns zu.

Hinter Google Glass steht das falsche Menschenbild: ein geistiges Wesen, das in einem Körper gefangen ist.

Fabian Hemmert

WIRED: Wie sieht die Zukunft der Wearables also aus?
Hemmert: Man kann das in mehrere Richtungen denken. Zum Beispiel in Richtung Google Glass — und wenn man einen Schritt weiter denkt: die Google-Kontaktlinse, das Google-Gehirnimplantat, die Verschmelzung des Geistes mit dem Computer. Das kann man machen, aber ich möchte das für mich nicht. Vor Google-Kontaktlinsen hätte ich persönlich Angst, weil ich davor nicht meine Augen verschließen kann. Ich glaube, dass ein falsches Menschenbild dahintersteckt. Google Glass sieht uns als ein vorrangig geistiges Wesen, das in einem Körper gefangen ist. Ich sehe das anders: Unsere Hände sollten mehr mit dem Digitalen interagieren, weil sie unser zentrales Werkzeug zum Begreifen der Welt sind. Ich finde deswegen Wearables aus Textil viel spannender.

WIRED: Welche Prototypen entstehen gerade im Design Research Lab?
Hemmert: Meine Kollegin Katharina Bredies forscht seit einigen Jahren zum Thema interaktive Textilien und der Frage, wie sich Interface-Elemente aus der klassischen Computerinteraktion wie Schalter oder Lautstärke-Regler auf Textil übertragen lassen. Einer ihrer Prototypen ist eine Mütze, die gleichzeitig auch ein Radio ist. Ich kann es anschalten, indem ich unten einen Knoten in die Mütze mache. Dort ist leitendes Garn eingearbeitet, durch das Binden des Knotens wird ein Schaltkreis geschlossen. Öffne ich den Knoten wieder, schalte ich das Radio aus. Die Mütze hat außerdem zwei Bommel und erkennt, wie die Stellung dieser Bommel ist: Wenn ich an der einen Seite ziehe, wird es leiser, an der anderen lauter.

Menschen mit Behinderung sollten nicht aus dem Innovationsprozess herausgedrängt, sondern gerade beim Thema Wearables als Experten wahrgenommen werden.

Fabian Hemmert

WIRED: Ein subtilerer MP3-Player also. Aber was wäre denn eine Funktion, die wirklich den Alltag revolutioniert?
Hemmert: Es gibt bei Taubblinden — also Menschen, die weder sehen noch hören können — ein Alphabet, das in die Hand getastet wird. Die Vokale sitzen zum Beispiel auf den Fingerspitzen, das S in der Mitte der Handfläche, es ist eine Art haptisches Braille. Das ist für sich genommen super, aber wenn ich einen Meter vom Empfänger entfernt sitze, haben wir keine Chance zu kommunizieren, weil ich für die Berührung direkt neben ihm sein müsste. Und falls ich einer größeren Gruppe einen Witz erzähle, muss ich ihn bei 20 Leuten auch 20 Mal wiederholen. Mein Kollege Tom Bieling hat mit dem „Mobile Lorm Glove“ einen Handschuh entwickelt, der dieses Problem löst. Auf dem Handschuh sind Sensoren und Aktuatoren angebracht. Tippe ich etwas in die Hand, werden die Buchstaben per Bluetooth an das Handy und von dort aus weiter gesendet. Man kann mit dem Handschuh aber auch Textnachrichten empfangen. Dabei braucht nur der Taubblinde den Handschuh, sein Gegenüber kann ganz normal auf dem Handy tippen — es ist also eine Adapter-Technologie. Eine Kernthese von Bielings Arbeit ist, dass Menschen mit Behinderung nicht aus dem Innovationsprozess herausgedrängt werden sollten, sondern gerade bei technologischen Entwicklungen wie Wearables als Experten wahrgenommen und eingebunden werden sollten.

WIRED: Weil sie Usability von Wearables am besten beurteilen können?
Hemmert: Ja, Gestenkommunikation steht bei ihnen schließlich auf der Tagesordnung. Gehörlose und Blinde kennen sich oft sehr gut mit Haptik aus. Ich finde darüber hinaus aber auch den Gedanken spannend, dass jeder von uns zeitweise „behindert“ ist. Wenn ich mit Kopfhörern und Tüten durch die Stadt laufe zum Beispiel. Weil ich mit der Musik in den Ohren nicht so richtig gut höre und ich meine Hände nicht benutzen kann.

WIRED: Wo sehen Sie das größte Potential für Wearables?
Hemmert: Da stellt sich zunächst die Frage: Welche Themen unseres Alltags haben besonders viel mit unserem Körper zu tun? Sport und Gesundheit. Bis man auch den Bereich der Steuererklärung durch Wearables abdeckt, wird es noch dauern — oder es wird nie passieren. Aber Gesundheit ist ein Riesenthema. Schlaganfallpatienten bekommen heute oft einen roten Knopf um den Hals, mit dem sie um Hilfe rufen können — eine gute Funktion, die in dieser Form aber stigmatisierend ist. Der Knopf signalisiert sofort: Ich bin krank und brauche vielleicht Hilfe. Katharina Bredies hat eine Notfalljacke entwickelt, die aussieht wie eine normale Strickjacke. Wenn der Träger sich ans Herz fasst, erkennt ein Zerrsensor aus leitendem Garn das und löst per Bluetooth einen Anruf aus.

Ich finde es gut, wenn mein Computer zum Textil wird, weil ich ihn dann auch mal in die Ecke werfen kann.

Fabian Hemmert

WIRED: Wearables werden immer kleiner und unsichtbarer: Macht das die Träger eher unabhängiger von Technologie oder wird die Beziehung noch intensiver, weil Mensch und Maschine fast verschmelzen?
Hemmert: Die Technik kommt uns definitiv näher. Aber ich finde es gut, wenn der Computer zum Textil wird, weil ich ihn dann auch mal in die Ecke werfen kann und er nicht sofort kaputt geht. Das entspannt das Verhältnis: Ich muss technische Geräte wie mein Handy dann nicht mehr wie ein rohes Ei behandeln.

WIRED: Material für Wearables muss einiges aushalten können. Was sind dabei die Herausforderungen?
Hemmert: Wenn wir über Textilien reden, ist Waschbarkeit natürlich ein Thema. Katharina Bredies hat einige Prototypen gebaut, bei denen die Elektronik mit einem leitenden Klettverschluss am Kleidungsstück angebracht wird und sich so herausnehmen lässt. Man kann sie aber auch einfach an andere Kleidungsstücke anbringen. Und Energie ist natürlich ein Thema: Wo kommt der Strom her? Ein Lösungsansatz für dieses Problem heißt Energy Harvesting.

WIRED: Wenn ich zum Beispiel wie beim Solar-Bikini die Energiequelle für meine Musik oder mein Handy direkt am Körper trage?
Hemmert: Nicht ganz. Energy Harvesting bedeutet, dass Energie aus der Bewegung des menschlichen Körpers gewonnen wird. Wenn eine Art Dynamo, ähnlich wie bei einer Automatikuhr, die Bewegungsenergie am Knöchel oder am Handgelenk abgreift, lässt sich damit ein elektronisches Gerät betreiben oder aufladen.

WIRED: An was forschen Sie selbst derzeit?
Hemmert: In meiner Forschung geht es unter anderem um die Frage, wie das Handy der Zukunft aussehen wird. Wenn man sich das heute ansieht, stellt man fest, dass wir beim Umgang mit dem Handy kaum etwas fühlen. Man könnte auch fragen: Wie sieht der Mensch eigentlich aus Sicht des Handys aus? Nicht mehr als ein Finger und ein Auge — und das finde ich schade. In meiner Forschung konzentriere ich mich auf die Haptik. Eine Frage dabei ist, wie sich die Empfindungsfähigkeit des Menschen, das Fühlen, mehr in unseren Umgang mit digitalen Inhalten integrieren lässt. Das wäre beispielsweise möglich, wenn Handys je nach Inhalt dicker und dünner würden, oder wenn sie rechts und links schwerer werden könnten, um uns von A nach B zu führen.

WIRED: Das Mobiltelefon nimmt also zu, sobald mehr Content auftaucht?
Hemmert: Genau. Ein klassisches Buch ist rechts dick und links dünn, wenn ich anfange zu lesen. Während ich lese, wandern die Seiten dann von rechts nach links. Ich kann also fühlen, wo im Buch ich gerade bin. Ich habe einen Handy-Prototypen gebaut, der an verschiedenen Stellen dicker und dünner werden kann. Ich kann also auch hier fühlen, wo in einem E-Book ich gerade bin.

Mein Handy-Prototyp hat eine Atmung und einen Puls. Wenn eine SMS kommt, ist er aufgeregt, er hechelt, der Puls wird schneller.

Fabian Hemmert

WIRED: Ist das eher ein interessantes Experiment oder eine Funktion, die tatsächlich einen Zusatznutzen hat?
Hemmert: Was aus praktischer Sicht bisher am besten ankam, war die Navigation mit Gewichtsverlagerung — also ein Handy, das seine Batterie innen hin- und herschieben und so rechts, links, oben oder unten schwerer werden kann. Es dirigiert mich zum Beispiel bei einer GPS-Navigation zum nächsten Starbucks. Ich muss dem Handy wie einer Wünschelrute nachlaufen: Wenn es vorn schwerer wird, muss ich einfach geradeaus gehen, wenn es links schwerer wird, biege ich nach links ab. Ein Handy könnte auch dicker werden, um einen verpassten Anruf anzuzeigen. Dann müsste ich nur noch in meine Tasche fassen, ohne auf das Display zu schauen. Ein anderer Prototyp, den ich gebaut habe, hatte eine Atmung und einen Pulsschlag — das „lebendige Handy“. Wenn eine SMS kommt, ist es aufgeregt, es hechelt, der Puls wird schneller. Eine Art Adrenalineffekt beim Handy.

WIRED: Wollen die Menschen wirklich so ein Tamagotchi-Handy?
Hemmert: Die Leute finden es entweder niedlich oder sie finden es gruselig, weil es sehr intensiv ist. Die einen sagen: Oh, wie putzig, das würde ich gerne streicheln. Den anderen ist das eine zu enge Beziehung zu ihrem Gerät. Vielleicht ist es auch die nächste Droge für Handysüchtige. Nach einem Test-Wochenende hatten einige Probanden, denen ich das „lebendige Handy“ mitgegeben hatte, das Gefühl, es fehle ihnen etwas. Als wären sie ohne Portemonnaie, ohne Schlüssel oder eben ohne Handy aus dem Haus geht. Das finde ich hinterfragenswürdig: Wie eng soll eigentlich die Beziehung zwischen Mensch und Gerät sein?

Die Königin hat nur die Desktop-Variante des Spiegels, wir haben ihn in Form unseres Smartphones immer dabei.

Fabian Hemmert

WIRED: Was würden Sie sagen?
Hemmert: Die dramatische Figur, die mir immer einfällt, ist Darth Vader aus „Star Wars“, der Hybrid aus Mensch und Maschine, der ohne die Maschine nicht überleben kann. Diese Abhängigkeit finde ich schwierig. Bei Studien wurden Menschen im MRT gescannt, während sie die Facebook-Wall herunterscrollten. Im Gehirn passiert genau das gleiche wie bei Spielsüchtigen, kurz bevor der einarmige Bandit „Ding-Ding-Ding“ macht. Unser Verhältnis zum Handy ist heute so wie das der bösen Königin aus Schneewittchen zu ihrem Spiegel — man checkt seine Facebook-Seite und googelt sich selbst. Die Königin ist neurotisch und hat dennoch Glück, weil sie nur die Desktop-Variante des Spiegels besitzt. Wir hingegen haben ihn durch unser Smartphone die ganze Zeit dabei. Das führt uns in Versuchung, uns einem permanenten Vergleich mit unseren Freunden auszusetzen. Dass dabei oft ein Zerrbild der Realität entsteht, weil alle nur die coolen und nicht die langweiligen Sachen posten, ist uns dabei nicht immer bewusst.

WIRED: Was sind die Nebenwirkungen der permanenten Vernetztheit?
Hemmert: Einerseits multipliziert das Handy meine Fähigkeit zu kommunizieren, andererseits verfrachtet es mich in den Zombie-Modus. Ein Zombie ist, philosophisch betrachtet, ein Mensch ohne eine bewusste Wahrnehmung von sich selbst und seiner Umwelt. Wenn ich mein Handy in der Hand habe, versetzt es mich schnell in diesen Modus — kein schönes Gefühl. Ich achte in letzter Zeit sehr auf meine Smartphone-Nutzungshygiene. Ich habe Safari deaktiviert, ich habe also keinen Browser, ich schreibe und lese keine Mails darauf. Ich kann nur telefonieren und Nachrichten schreiben — und das fühlt sich gut an.

Technik sollte eher im Hintergrund bleiben wie ein Butler — ohne uns zu überwachen.

Fabian Hemmert

WIRED: Trotzdem tragen Sie eine Smartwatch am Handgelenk.
Hemmert: Ich benutze die Pepple Smartwatch, darauf kann man seine SMS und seine E-Mails lesen. Das mache ich aber nicht, ich benutze sie als Filter. Ich habe mein Handy so eingestellt, dass es weder bei Anrufen, noch bei SMS vibriert, WhatsApp erscheint nicht mal im Lockscreen. Es ist alles komplett auf Null heruntergefahren. Die Uhr dient mir als Filter, weil nur Anrufe durchgestellt werden. Wenn mich jemand anruft, dann vibriert meine Uhr und der Name wird angezeigt. Dann kann ich entscheiden, ob ich den Anruf annehme oder nicht. Das hat den positiven Effekt, dass ich mein Handy nicht immer in der Hosentasche habe — das wäre früher nicht passiert. Jetzt ist es irgendwo in der Jacke oder Tasche, völlig egal.

WIRED: Die Frage ist aber doch auch: Wie viele Geräte wollen wir noch haben? Eine Smartwatch bedeutet noch ein Gadget mehr. Wäre nicht ein Device sinnvoller, das alles integriert und das Smartphone irgendwann überflüssig macht?
Hemmert: Das kann man in mehrere Richtungen denken, wenn man sich das Mengenverhältnis Computer zu Mensch anguckt. Als Computer erfunden wurden, gab es einen Rechner pro Universität, den haben sich dann tausend oder zehntausend Leute geteilt. In den Achtzigerjahren lag das Verhältnis mit Personal Computing irgendwann bei 1:1. Heute besitzen viele in Berlin vielleicht vier oder fünf Geräte. Die Frage ist, ob sich dieses Verhältnis so weiterentwickelt, ob es eines Tages nicht mehr einen Computer pro tausend Leute ist, sondern tausend Computer pro Mensch. Denkbar wäre es. Aber wofür sind die dann alle da? Was ich bei der heutigen Entwicklung besonders spannend finde: Das Wearable sorgt dafür, dass mir das Handy nicht mehr so wichtig ist, nicht mehr so ein emotionales Objekt. Ich würde mir für die Beziehung zwischen Mensch und Computer wünschen, dass sie entspannter wird. Die Technik sollte eher im Hintergrund bleiben wie ein Butler — aber ohne uns zu überwachen. Durch Wearables verschwindet die Technik in den Hintergrund, und das ist gut, weil der Mensch dann wieder im Mittelpunkt stehen kann. 

Eindrücke von der Konferenz:

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WIRED war Medienpartner der #FASHIONTECH 2015. Zur Konferenz haben wir ein Interview mit Designforscher Fabian Hemmert geführt, der gerade ein lebendiges Handy entwickelt hat. PREMIUM-Chefin Anita Tillmann erklärt, wo sie die Schnittstelle zwischen Mode und Technologie sieht. Stilnest-CEO Julian Leitloff verrät, wie sein Startup mit 3D-Druckern das Schmuckdesign hacken will. Und Modemacherin Phoebe Hess behauptet: „Farben sind etwas für Leute, die nicht designen können.“ 

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