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Lässt sich Frauenfeindlichkeit auf Twitter in Zahlen fassen?

von Chris Köver
Der britische Thinktank Demos hat in einer aktuellen Studie herausgefunden, dass täglich Tausende frauenfeindlicher Nachrichten auf Twitter verschickt werden. Wirklich überraschend ist das nicht, interessant ist aber, wie die Forscher zu ihrer Erkenntnis gelangt sind.

Forscher des britischen Thinktanks Demos haben drei Wochen lang über Twitters offene Schnittstelle Tweets gesammelt und untersucht, wie oft darin die Schlüsselwörter „slut“ (Schlampe) und „whore“ (Hure) verwendet wurden. Die Studie ist Teil der Anti-Hass-Kampagne Reclaim the Internet, die vergangene Woche in Großbritannien vorgestellt wurde.

In den insgesamt 1,4 Millionen in diesem Zeitraum gesammelten Tweets fand Demos 213.000 Nachrichten, die einen der beiden Begriffe als „aggressiv frauenfeindliche“ Beschimpfung einsetzten – das sind etwa sechs in der Minute beziehungsweise 9200 am Tag. Die Angriffe richteten sich gegen 80.000 Twitter-Nutzerinnen, darunter Stars wie Azealia Banks oder Beyoncé, aber auch Politikerinnen wie Hillary Clinton.

Soweit überrascht das alles wenig. Twitter ist bekannt als Haifischbecken, in dem besonders Frauen und People of Color bedroht und beschimpft werden, sobald sie das Wort ergreifen. Auch ist Twitter sicher nicht der einzige Ort im Netz, an dem diese Probleme das Klima vergiften und dafür sorgen, dass alle, außer weißen heterosexuellen Männern aus der Debatte aussteigen oder einen hohen Preis dafür zahlen, an ihr teilzunehmen.

Wir haben Twitter gewählt, weil sie großzügiger dabei sind, ihre Daten mit Wissenschaftlern zu teilen

Alex Krasodomski-Jones, Mitautor der Studie

Das betont auch ein Autor der Studie, Alex Krasodomski-Jones: „Wir haben Twitter gewählt, weil sie großzügiger dabei sind, ihre Daten mit Wissenschaftlern wie uns zu teilen.“ Das Problem betreffe aber alle Social-Media-Plattformen und deswegen müssten auch alle in die Diskussion von Lösungen mit einbezogen werden.

Interessant ist die Studie dennoch – weniger aufgrund der Zahlen als wegen der Methode, die Demos angewandt hat: Die Studie selbst steht nicht online, allerdings erklärt ein Forscher in einem Blogpost, wie er und seine Kollegen vorgegangen sind. Denn natürlich ist nicht jeder Tweet mit dem Begriff „slut“ eine frauenfeindliche Beschimpfung. Genauso gut kann es um die feministischen „Slutwalk“-Märsche gehen oder eine kritische Diskussion der Verwendung dieses Begriffs.

Um festzustellen, welche Tweets tatsächlich „aggressiv frauenfeindlich“ sind, setzten die Forscher daher ein sprachverarbeitendes Programm namens Method52 ein. Der Algorithmus findet nicht nur Schlüsselworte, sondern analysiert auch den Kontext, in dem sie auftauchen. So kann man damit etwa feststellen, ob ein Tweet harmlos gemeint ist oder als Angriff gegen eine andere Person – etwa wenn er in Kombination mit anderen Wortkonstellationen wie „halt den Mund“ oder „du“ auftaucht. Das funktioniert laut Demos mit einer mehr als 80-prozentigen Treffsicherheit.

33 Prozent der Tweets, so Demos, seien demnach aggressiv gewesen. In neun Prozent der Fälle hätten die Absender sich auf sich selbst bezogen („I’m a slut for beautiful sunsets“) oder Freunde angeschrieben („happy birthday little slut I guess I love you“). Die restlichen Tweets fielen in die Kategorie „Sonstiges“ und diskutierten Themen wie die Slutwalks oder die abwertende Verwendung des Begriffs.

Frauen sind offenbar genauso entspannt in der Verwendung von frauenfeindlicher Sprache wie Männer

Studie

Wer die Debatten rund um Gewalt auf Twitter verfolgt, horcht an dieser Stelle vermutlich auf, denn all das könnte man so zusammenfassen: Demos hat ein Werkzeug entwickelt, das mit mehr als 80-prozentiger Treffsicherheit frauenfeindliche Gewalt auf Twitter ausmacht – ohne dass einzelne Nutzerinnen erst darauf hinweisen müssen.

Das ist bemerkenswert, denn genau das fordern diejenigen, gegen die sich diese Gewalt richtet, seit Jahren von Twitter. Es müsse doch eine bessere Möglichkeit geben, gewalttätige Tweets auszusieben als das so genannte Flagging – also die Option, einen Tweet von Hand als Beschimpfung oder Bedrohung zu markieren und entfernen zu lassen. Twitter selbst konnte sich erst vor Kurzem dazu durchringen, ein solches Tool zu entwickeln, derzeit befindet es sich in der Testphase. Das Demos Centre for the Analysis of Social Media, das hinter der Studie steht, verfügt offenbar schon seit 2012 über ein Programm, das genau diese Funktion erfüllt.

Interessant ist noch ein weiterer Punkt: Laut Demos stammen 50 Prozent der frauenfeindlichen Tweets von Absenderinnen. Oder wie die Autoren schreiben: „Frauen sind offenbar genauso entspannt in der Verwendung von frauenfeindlicher Sprache wie Männer.“ Wie die Forscher das Geschlecht von Absendern und Empfängern eines Tweets überhaupt ausgemacht haben, legen sie in ihrem ursprünglichen Post nicht offen. Twitter verlangt von seinen Nutzern keine Geschlechtszuordnung. Ob ein Account einem Mann oder einer Frau gehört, kann man höchstens aus Vornamen oder Selbstbeschreibungen ableiten. Auf Nachfrage von TechCrunch bestätigen die Forscher, genau dieses Verfahren angewandt zu haben. Das wäre zumindest eine Erwähnung wert gewesen.

Viele Medien hielten sich aber ohnehin nicht mit diesem Problem auf. Sie machen die Information mit der 50-Prozent-Frauenquote gleich zur Headline – darunter etwa die BBC.

Dass Frauen im Netz andere Frauen sexistisch beschimpfen und beleidigen, wirkt vielleicht zunächst berichtenswert, weil es der Annahme widerspricht, Männer seien hier die Täter und Frauen ausschließlich die Opfer von misogyner Gewalt. Allerdings ist diese Erkenntnis auch nicht ganz neu: Studien wiesen in der Vergangenheit immer wieder darauf hin, dass Frauen die Beleidigungen, die sich gegen sie richten, auch selbst einsetzen. Auch ist eine der beiden Twitterer, die 2014 für ihre Drohungen gegen die britische Aktivistin Caroline Criado-Perez zu einer Gefängnisstrafe verurteilt worden sind, eine Frau.

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Wie allerdings eine Twitter-Nutzerin im Gespräch mit Fusion herausstellt, geht es weniger darum, wer die Gewalt ausübt als um die Frage, gegen wen sie sich richtet. Frauenfeindlichkeit sei so tief in unserer Kultur verankert, dass Frauen darauf ebenso zurückgreifen wie Männer, wenn sie eine Frau angreifen und verletzen wollen. Die Vorstellung, diese Gewalt sei jedoch „schlimmer“ wenn sie von Frauen ausgeht, sei im Kern ebenfalls sexistisch.

Die neue Studie von Demos ist eine Weiterführung ihrer im Jahr 2014 begonnenen Forschung zum Thema Online-Gewalt gegen Frauen. Die neuen Erkenntnisse sind Teil einer Kampagne gegen Hass im Netz, die vergangenen Woche in Großbritannien vorgestellt wurde. Unter dem Titel Reclaim the Internet fordern Politikerinnen unterschiedlicher Parteien dazu auf, gemeinsam Lösungen zu diskutieren, wie man der sexistischen, rassistischen oder homophoben Hassrede im Netz begegnen kann. 

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