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VR-Kinofilme: So ein Theater!

von Dominik Schönleben
Der Niederländer Jip Samhoud hat das erste VR-Kino-Deutschlands in Berlin eröffnet. Sein Ziel: Storytelling in der virtuellen Realität in die ganze Welt bringen. Im WIRED-Interview erzählt der 26-jährige Gründer, warum die Regeln des klassischen Films in der virtuellen Realität nicht gelten.

Vergesst Multiplex-Säle: Deutschlands erstes VR-Kino sieht aus wie ein Café. Hier im Zentrum Berlins, im Dachgeschoss der ehemaligen Münzerei sitzen am Premierenabend knapp 30 Menschen auf eierschalenförmigen Sesseln, die man problemlos in jede Richtung drehen kann. Ein Beamer projiziert einen Sternenhimmel an die Decke. An den Wänden kleben Plakate. Doch für diese Realität interessiert sich an diesem Abend niemand.

Oder so: Diese Realität kann keiner der Kinobesucher sehen, denn ihr Blick richtet sich hinein in die VR-Brille, die jeder trägt. Sie verdeckt die Augen, doch jeder, der ohne Brille in den Raum schaut, erkennt in den Gesichtern etwas von dem, was in der Virtual Reality gerade passiert. Und die Menschen bewegen ihre Köpfe, mal hierhin, mal dorthin.

Was sie sehen: Einen Frühstückstisch eines jungen, erfolgreichen Pärchens. Und man selbst sitzt mit dran. Man bewegt den Kopf, um deren Dialog zu folgen, es geht um die Pläne der nächsten Tage: Wohltätigkeitsgala, Drehtermin und Meetings. Dann hört man plötzlich hinter sich, wie eine Tür geöffnet wird und dreht sich reflexartig um. Ein Kamerateam samt Moderator platzt plötzlich in die idyllische Situation, sie haben einen Flüchtling im Schlepptau. So beginnt Samhouds erster VR-Kinofilm.

Hier liegt der Unterschied zum klassischen Kino. Das Erlebnis steht im Vordergrund. Man lehnt sich nicht zurück und lässt sich vom Film berieseln, man muss aktiv teilnehmen. So wie der Autor dieses Textes. Man wendet unwillkürlich den Kopf immer in die Richtung, in der es spannend wird, wird im Ping-Pong der Dialoge hin und hergerissen, oder kann, wenn es langweilig wird, abschweifen und die Umgebung erkunden; die virtuelle, wohlgemerkt.

Für Jib Samhoud, den Gründer des Virtual Reality Cinemas, steht der VR-Film erst am Anfang. Noch laufen die von ihm gezeigten Filme auf einer Samsung Gear VR. Das ist eine eher preiswerte Brille für knapp 100 Euro, die ein Galaxy-Smartphone als Monitor benutzt. Doch bereits auf dieser eher simplen VR-Brille lässt sich das Potenzial des VR-Kinos erahnen. Anstatt einfach nur etwas zu sehen, ist man plötzlich wie live dabei.

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Samhoud ist nicht nur Gründer des weltweit ersten VR-Kinos in Amsterdam, sondern auch Regisseur. Denn was dem Medium noch fehlt sind Filme. Das meiste was bisher für VR-Brillen produziert wurde, sieht eher aus wie ambitionierte Tech-Demos. Es fehlt das Storytelling, es fehlen die Geschichten.

Seine ersten Erfahrungen mit VR sammelte Samhoud mit Werbefilmen. Und das sieht man auch seinem ersten VR-Film „In Your Face“ an, der sich mit der Flüchtlingskrise beschäftigt. Am Ende des Films wenden sich die Schauspieler an den Zuschauer, sprechen ihn direkt an — die dritte Wand zu durchbrechen, ist in der virtuellen Realität ein eindrucksvolles Stilmittel.

WIRED hat mit Jib Samhoud darüber gesprochen, worauf es beim VR-Filmmaking ankommt und warum es vor allem Theater-Regisseuren leicht fällt, gute Filme für das noch junge Medium zu drehen.

WIRED: Wie erzählt man eine Geschichte in der virtuellen Realität?
Jib Samhoud: Es gibt einige Tricks, wie man den Zuschauer nicht verliert. Wenn etwa ein Mord passiert, dann muss man sichergehen, dass der Zuschauer es auch sieht. Man kann etwa die Aufmerksamkeit mit dem 3D-Sound darauf lenken. Oder der Schauspieler kann furchterfüllt in die entsprechende Richtung schauen. Es ist ein normaler psychologischer Effekt, dass der Zuschauer seinem Blick folgt. Und wenn man als Regisseur ganz sichergehen will, dann muss man den Zuschauer — also die Kamera — in die entsprechende Richtung bewegen.

WIRED: Wenn du von einem VR-Kinofilm sprichst, dann sind das aber keine 90 Minuten, oder?
Samhoud: Es sind sogar nur 15 Minuten, über die wir sprechen. Besucher des Kinos werden mehrere Filme in einem 35-minütigen Paket sehen.

WIRED: Wieso nur so kurz?
Samhoud: Was wir in unserem ersten Kino in Amsterdam gelernt haben, war, dass 35 Minuten das Maximum sind, wie lange man entspannt zusehen kann. Ein VR-Film ist drei Mal so anspruchsvoll für das Gehirn wie ein normaler Film.

WIRED: Den Leuten wird also nach spätestens 40 Minuten schlecht?
Samhoud: Einige kriegen Kopfschmerzen oder ihnen wird schwindelig, wenn man die 35-Minuten-Barriere überschreitet. Bei VR wird oft davon gesprochen, dass Leuten schlecht wird oder sie sich übergeben. Aber das hat einen anderen Grund. Das passiert, wenn man die Kamera bewegt. Das Gehirn denkt, man bewege sich, tut es aber nicht. Deshalb wird einem dann schlecht. Wir versuchen auf Bewegung zu verzichten.

WIRED: Es gibt also keine Kameraschwenks in deinem Film?
Samhoud: Fast. Nur an einer Stelle. Und ich habe mich aktiv dafür entschieden, dass sich der Zuschauer dabei unwohl fühlt.

Viele Theaterregisseure sind besser darin VR-Erlebnisse zu erschaffen als Filmregisseure.

Jib Samhoud, VR-Regisseur

WIRED: Das Gefühl des Unwohlseins beim Zuschauer hervorzurufen, ist also ein neues Werkzeug fürs Filmedrehen?
Samhoud: Ja, ein bisschen. VR hat viel Potenzial. Die Menschen sind emotional mehr damit verbunden, was passiert. All unsere Sinne werden verstärkt. Und die Eindrücke, die VR hinterlässt, sind stärker.

WIRED: Aber neben dem Schwenken sollte doch auch das Schneiden im VR-Film ein Problem sein?
Samhoud: Definitiv. In einem normalen Film würde man bereits in den ersten Minuten 20 bis 30 verschiedene Perspektiven zeigen. Im VR-Kino schneidet man nur, wenn man von einem Ort zum anderen wechselt. Das ist eine echte Herausforderung, weil die Szenen oft bis zu drei Minuten lang sind. Es ist mehr wie eine Theateraufführung. Die Schauspieler müssen auch spielen, wenn sie gerade nicht am Dialog teilnehmen.

WIRED: Geht es vielen Regisseuren nicht bei ihren Filmen darum, möglichst viel Kontrolle über das Erlebnis zu haben? Das geht in VR dann ja nicht mehr, der Zuschauer kann einfach woanders hinschauen.
Samhoud: Viele Regisseure mit denen ich gesprochen habe, haben Angst davor. Mir hingegen gefällt die Herausforderung, Menschen dazu zu bekommen, in eine bestimmte Richtung zu schauen. Ich glaube, dass viele Theaterregisseure besser darin sind VR-Erlebnisse zu erschaffen als Filmregisseure. Auch die müssen die Aufmerksamkeit der Menschen von einer Seite der Bühne zur anderen lenken können und es gibt Szenen, die meist ohne große Veränderung für fünf Minuten andauern. Theaterregisseure haben die Herangehensweise eines VR-Regisseurs.

WIRED: Warum geht es in deinem ersten VR-Film über Flüchtlinge?
Samhoud: Ich habe mich dafür entschieden, ein soziales Thema aufzugreifen, weil ich es interessant finde, wie durch einen VR-Film das Verhalten von Menschen beeinflusst werden kann. Mein Film handelt von der Flüchtlingskrise. Es geht um ein holländisches Ehepaar — beide sind im echten Leben berühmte Schauspieler — und sie spielen sich selbst. Eine Kameracrew kommt in ihr Haus und sagt: Würdet ihr diesen Flüchtling aufnehmen? Die beiden stehen exemplarisch für das, was an den Grenzen unserer Länder passiert. Ich will, dass die Menschen darüber nachdenken.

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