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Hilfe für Geflüchtete: Wir brauchen keine neuen Apps

von Christina zur Nedden
Bankkarten für Vertriebene, Prothesen aus dem 3D-Drucker und WhatsApp für Entwicklungshelfer: auf der ICT4Refugees-Konferenz in Berlin haben Regierungsvertreter, NGOs und Startups digitale Technologien für Geflüchtete vorgestellt – und anderen Akteuren davon abgeraten, ständig neue Lösungen zu entwickeln.

„Die größten Innovationen kommen nicht von irgendwelchen Startups aus dem Westen, sondern von alt eingesessenen Telekommunikationsfirmen in den betroffenen Ländern.“ Kilian Kleinschmidt macht den Eindruck, als wisse er, wovon er spricht. Der Experte für humanitäre Hilfe ist krisenerfahren. Zuletzt wurde als „deutscher Bürgermeister von Zaatari bekannt“, als er 2013/2014 das zweitgrößte Flüchtlingslager der Welt im Auftrag der UN-Flüchtlingskommission leitete.

Vergangene Woche saß Kleinschmidt im sicheren Berlin auf der Bühne der Konferenz ICT4Refugees. NGOs, soziale Startups, Entwicklungshelfer und Regierungsvertreter diskutieren dort einen Tag über digitale Technologien für Geflüchtete – ICT ist die englische Abkürzung für Informations- und Kommunikationstechnik. Das Beispiel mit den Telekommunikationsfirmen stammt aus Pakistan. Als im Jahr 2009 Zwei Millionen Familien von den Taliban aus dem Swat-Tal vertrieben wurden, verteilte die Regierung Debitkarten, die mit 300 Dollar aufgeladen waren. „Vertreibung führt oft zu Verschuldung, Menschen müssen horrende Preise dafür zahlen, dass sie auf einen Lastwagen oder Bus aufspringen dürfen. Die Debitkarten waren die beste Hilfe zur Selbsthilfe“, sagt Kleinschmidt.

Doch solche Cash-Lösungen kommen bei internationalen Hilfsorganisationen aber nicht gut an. Sie fürchten, dass direkte Geldspenden korrupte Geschäfte begünstigen, außerdem ist nicht nachweisbar, was Menschen mit dem Geld machen. „Diese ständige Überprüfung von Hilfsorganisationen ist arrogant, wir müssen den Menschen vertrauen“, sagt Kleinschmidt. Er ist Befürworter des Direct-Giving-Konzepts, das in Form eines Grundeinkommens etwa derzeit in Kenia getestet wird.

Von Apps und Web-Anwendungen, wie sie zuhauf von Entwicklungshilfe-Organisationen speziell für Menschen in Krisenregionen entwickelt werden, hält er hingegen wenig. „Von den ganzen Startup-Erfindungen aus dem Westen kommt in den Flüchtlingslagern fast nichts an“, sagt Kleinschmidt.

Mit dem arbeiten, was es gibt
Das Rad nicht ständig neu erfinden zu wollen, empfehlen auch die Autoren der Studie ICT4Refugees, die im Auftrag des Bundesministeriums für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung entstand und den Rahmen für die gleichnamige Konferenz vorgab. Akteuren der Flüchtlingshilfe wird darin geraten, „stets zu überlegen, ob es schon Programme gibt, die sich adaptieren lassen“, anstatt eine neue Software zu entwickeln. Flüchtlinge würden auf ihren Smartphones vor allem populäre, längst existierende Dienste wie WhatsApp und den Facebook Messenger nutzen, um mit Angehörigen, Freunden oder Schleusern in Kontakt zu bleiben. E-Mail, klassisches Surfen im Web oder andere Apps sind demnach weniger beliebt.

Dass an diesem Rat etwas dran ist, findet auch Paula Schwarz von StartupAID, einer Gruppe junger Unternehmen, die Hilfsprojekte unterstützen. Als im Herbst 2015 tausende von Geflüchteten auf der griechischen Insel Lesbos ankamen, waren Regierung und Freiwillige überfordert. Mit ihrem Projekt Marhacar organisierte Schwarz den Einkauf und Vertrieb von Waren an die Camps über WhatsApp und Google Drive. Hilfsorganisationen, NGOs, Mitarbeiter von Flüchtlingscamps, Lageristen und Fahrer nutzen ihren Dienst.

Eine industrielle Revolution für Entwicklungsländer
Ein Bereich, in dem Innovation hingegen gewünscht ist und ermutigt wird, ist der 3D-Druck. Auf der ICT4Refugees-Konferenz erzählt der Kriegsflüchtling Asem Hasna eindrucksvoll, wie er im Syrienkrieg sein Bein verlor und sich mithilfe des Startups Refugee Open Ware eine kostengünstige Prothese ausdruckte. Er ließ sich zum 3D-Print-Experten ausbilden und half anderen Betroffenen. Heute lebt er in einem Flüchtlingslager in Berlin-Schöneberg und gibt Workshops in Robotik für Kinder.

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Auch Andrew Lamb von der humanitären Hilfsorganisation Field Ready setzt in der Entwicklungshilfe auf 3D-Druck. Zur Konferenz brachte er einen Drucker mit, den er in einem Camp in Haiti benutzte um vor Ort kleinteilige, praktische Gegenstände wie Schuhlöffel, Kleiderhaken oder Nabelschnurklemmen herzustellen. Laut Lamb fließen 60-80 Prozent aller Entwicklungsgelder in die Logistik. Die banalsten Dinge würden über fünf Länder reisen, bis sie da ankämen, wo sie gebraucht würden. Field Ready möchte diese Lieferkette durchbrechen und Gegenstände dort herstellen, wo sie gebraucht werden. „Wir möchten die Menschen vor Ort zu Makern machen. 3-D-Druck hat das Potenzial eine industrielle Revolution für Entwicklungsländer zu sein“, sagt Lamb.

Nichts läuft ohne Internet
Dass das Smartphone einer der wichtigsten Begleiter auf der Flucht ist, ist nichts Neues. Die Bundesregierung möchte aber nicht nur, dass Geflüchtete es nutzen um mit ihren Verwandten in Kontakt zu bleiben, sondern auch dazu, sich weiterzubilden auf Plattformen wie Kiron Open Higher Education (Mitautor der Studie) und sich umfassender zu informieren.„Wir möchten das Smartphone als Entwicklungshelfer verstehen“, sagt Thomas Silberhorn, Staatssekretär im BMZ auf der Konferenz.

Wichtig ist aber, dass diese Projekte auch umsetzbar sind. Doch es hapert oft an simplen Dingen wie einem stabilen Internetzugang. Im Zataari Flüchtlingscamp lebten unter Kilian Kleinschmidts Leitung bis zu 120.000 Menschen, das gilt als Großstadt. Kleinschmidt entwickelte ein Konzept, um im Lager urbane Strukturen einzuführen. Auch, weil es immer wieder Beschwerden über schlechten Handy-Empfang gab.

Gemeinsam mit der Stadt Amsterdam und dem IT-Anbieter Cisco Systems will er nun WLAN anbieten und Stromzähler einführen. Er wartet nur noch darauf, dass die jordanische Regierung und die Hilfsorganisationen das Camp als „urbanen Raum“ anerkennen. „Das sollten sie, manche Flüchtlinge werden hier bis zu 20 Jahre lang wohnen“, sagt Kleinschmidt. 

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