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„Beasts of No Nation“: Wie Netflix die Filmverwertungskette revolutionieren will

von Jasmin Tomschi
Heute veröffentlicht Netflix mit dem Kriegsdrama „Beasts of No Nation“ erstmals einen Film über seine Streaming-Plattform und im Kino gleichzeitig — und realisiert damit eine Vision, bei der es nicht mehr um möglichst viele Blockbuster im Programm geht, sondern um eine ganz neue Art des Filmkonsums.

„Wir wissen, dass ihr euch neuere Filme wünscht“, schrieb Ted Sarandos Ende August auf dem Netflix-Blog. Gerade war bekannt geworden, dass der kalifornische Streaming-Dienst den Vertrag mit seinem US-Content-Partner Epix nicht verlängern wird. „Die wünschen wir uns auch“, versicherte der Programmchef. Nur eben nicht länger als kostspielige Ausbeute aus dem harten Kampf um Filmlizenzen. Stattdessen gibt Netflix nun dutzende Eigenproduktionen von und mit Hollywoodgrößen wie Bill Murray, Angelina Jolie oder Adam Sandler in Auftrag.

Die Abonnenten toben trotzdem. Weil in den USA und Kanada aus strategischen Gründen gerade Titel wie „The Wolf of Wall Street“ aus der Online-Videothek verschwunden sind. Und damit sowohl für bestehende als auch für potenzielle Netflix-Nutzer ein wesentlicher Anreiz verloren geht: jederzeit aus einem wachsenden Katalog von aktuellen Blockbustern wählen zu können.

Dennoch verläuft für Netflix alles nach Plan. Denn der führende Internet-TV-Anbieter will sich lieber über eigene Inhalte definieren — und mit Ausgaben in Milliardenhöhe das Zeitfenster zwischen der Premiere im Kino und Filmabend auf dem eigenen Sofa verkürzen.

Die Rechte für den ersten Netflix-Originalfilm, das von Emmy-Preisträger Cary Fukunaga adaptierte Kriegsdrama „Beasts Of No Nation“, sollen knapp zwölf Millionen Dollar gekostet haben. Für diesen Preis darf man sich, egal ob Abonnent oder nicht, ab heute erstmals entscheiden: Wo will man Idris Elba in der Rolle eines Warlords sehen, wie er Abraham Attah als Kindersoldaten rekrutiert — weltweit via Stream oder (vorerst nur in den USA und Großbritannien) auf der großen Leinwand ausgewählter Kinos?

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Dass die Zuschauer genug vom Warten haben, zeigte sich schon 2014 so deutlich wie noch nie: Nach Anschlagsdrohungen und einem Hackerangriff lief Sonys umstrittene Nordkorea-Satire „The Interview“ am 25. Dezember nicht wie geplant in 2000 bis 3000 Standorten großer Kinoketten an, sondern wurde in 331 Indie-Kinos gezeigt und schon am Vortag zum digitalen Erwerb ins Netz gestellt. Was auf den ersten Blick nach einer Notlösung aussah, nahm innerhalb von vier Tagen mehr als 15 Millionen Dollar und in einem Monat 40 Millionen Dollar ein — nur über Video on Demand (VoD) im Netz. Nicht nur wegen viel Wirbel in den Medien, sondern auch aufgrund einer Verschiebung im Konsumverhalten.

‚The Interview‘ zeigte trotz allem Wirbel in den Medien auch eine Verschiebung im Konsumverhalten.

Sony ist nicht das erste Studio, das mit einer sogenannten Day-and-Date-Veröffentlichung, also einem zeitgleichen Kino- und Video-on-Demand-Start, solche Einnahmen verzeichnete. Zum Vergleich: Lionsgate und Roadside Attractions nahmen 2011 mit „Der große Crash — Margin Call“ rund fünf Millionen Dollar im Kino und weitere fünf Millionen über VoD-Verkäufe ein. 2012 verdiente Lionsgate mit „Arbitrage“ knapp acht Millionen an den Kinokassen und 14 Millionen online, während Radius-TWC mit „Die Hochzeit unserer dicksten Freundin“ 500.000 Dollar im Kino und 8.2 Millionen Dollar im Netz kassierte — und mit „Snowpiercer“ 2014 nach nur zwei Wochen online genauso viel einspielte wie nach fünf Wochen im Kino.

Je konsequenter das Publikum seinen Konsum in die Online-Welt verlagert, desto wichtiger werden digitale Vertriebswege, die über die etablierten Systeme hinausgehen. In der Realität gelten allerdings immer noch die Regeln der traditionellen Verwertungskette — jenes Konstrukt aus Abkommen und Verträgen zwischen Studios und Anbietern, das vorgibt, wo und für wie lange ein Film in der finanziell ertragreichsten Reihenfolge erscheinen muss. Bislang durfte eine Produktion, die in den Kinos lief, 90 Tage lang nur dort gezeigt werden. Erst danach kam der Film vom DVD-Verleih und -Verkauf nach mehreren Monaten zur Premiere ins Pay-TV und zwei Jahre nach Kinostart schließlich ins Free-TV.

Es gelten leider immer noch die Regeln der traditionellen Verwertungskette.

Heute öffnet sich das erste Verwertungsfenster im Kino, wo ein Film zwischen vier bis acht Wochen, bei Blockbustern auch schon mal bis zu einem halben Jahr zu sehen ist. Nach durchschnittlich vier Monaten folgt der Videostart: Zuerst physisch als DVD oder Blu-ray, dann als digitales Pay-per-view-Produkt, das bei Anbietern wie Apples iTunes Store per Einzelabruf geladen werden kann. Ein halbes Jahr später tut sich dann das sogenannte First Pay Window für Sender wie Sky auf, die den besagten Streifen ab diesem Punkt ins Programm ihres Abo-Services aufnehmen dürfen.

Verliert die Zuschauerschaft zwischenzeitlich das Interesse am Film oder hat ihn sich längst illegal aus dem Netz gezogen, stellt das die gesamte Industrie vor eine Herausforderung. Deshalb rücken die Fenster der Verwertungskette immer dichter aneinander oder werden ergänzt, etwa schon ein Jahr nach dem First Pay Window um die beitragspflichtigen Online-Videotheken der sogenannten Subscription-Video-on-Demand-Services (SVoD). Hier heißen die neuen Mitbewerber Watchever, Maxdome, Snap by Sky, Amazon Prime — und Netflix. Jener Streaming-Dienst, der gerade nicht nur seine direkte Konkurrenz, sondern auch den TV-Sektor und die Produzenten von Filmen und Serien aufzumischen versucht.

Denn während die Rechte für Inhalte bislang noch auf nicht-exklusiver Basis unter den SVoD-Anbietern aufgeteilt wurden, drängt Netflix immer stärker zur Exklusivität. Immer öfter überbietet der Streaming-Dienst auch Fernsehsender bei Lizenzverhandlungen, etwa beim US-Deal mit den Walt Disney Studios, durch den Titel von Disney, Marvel und Pixar ab 2016 schon acht Monate nach Kinostart exklusiv bei Netflix gestreamt werden können. Und damit das Unternehmen aus Kalifornien über die Verfügbarkeit des Contents zukünftig vollkommen frei entscheiden kann, wird auch noch selbst produziert: Dokus und Serien wie „House of Cards“ oder „Narcos“ für den Online-Katalog — und Day-and-Date-Veröffentlichungen wie „Beasts of No Nation“ zusätzlich fürs Kino.

Es geht nicht um die nächste große Blockbuster-Trilogie, sondern um Chancen für kleinere Filmemacher.

„Exklusivität ist ein Punkt, den auch wir fordern und fördern“, sagt Rüdiger Böss, Executive Vice President Group Programming Acquisitions bei ProSieben Sat.1. Neben Shows und Eigenproduktionen schließt das deutsche Medienunternehmen auch immer häufiger exklusive Verträge mit Hollywoodstudios ab und kann Serien wie „Empire“ oder „The 100“ über Pay-TV, Free-TV und SVoD verwerten. Böss weiß, dass diese Entwicklung in Zukunft noch weiter zunehmen wird, sieht jedoch genügend Platz für alle Anbieter: „Bestimmte Programme eignen sich trotz Exklusivität eher für Nischendienste und weniger für die breite Masse. ‚House of Cards‘ haben wir beispielsweise schon vor Netflix in Deutschland auf ProSieben MAXX ausgestrahlt, nur leider mit mäßigem Erfolg.“

Doch Netflix ist schon einen Schritt weiter: „Wir haben das Erlebnis für Fans des Fernsehens verändert, indem wir komplette Staffeln auf der ganzen Welt gleichzeitig verfügbar gemacht haben. Jetzt produzieren wir Filme, die auf Netflix und in einigen Fällen zur gleichen Zeit im Kino starten werden“, erklärt Programmchef Sarandos. Und auch Amazon bestätigt, neben Serien eine Reihe von Filmen produzieren und sie wenige Wochen nach Kinostart auf seinem Streaming-Dienst verfügbar machen zu wollen. Auf dem Programm steht jedoch nicht die nächste Blockbuster-Trilogie, sondern Indie-Filme, Komödien und die Chance für kleinere Filmemacher, mit ihrem Werk auf Anhieb ein größeres Publikum erreichen zu können — im Fall von Netflix 65 Millionen Abonnenten weltweit.

„Der Ansatz dieser Unternehmen ist grundsätzlich kein verwerflicher“, sagt Andreas Kramer, Geschäftsführer des Hauptverbands Deutscher Filmtheater. Ihm zufolge versuchen europäische Kinos aber eher, ihre Kapazitäten für traditionell geförderte Produktionen freizuhalten, die klar definierte Qualitätsmerkmale hätten und mit dem Kino als Versammlungsstätte auch eine soziale Funktionen erfüllen würden. „Verwerflich wird es erst, wenn ohne Exklusivität im Kino ein kulturelles Defizit entsteht“, sagt Kramer — neben finanziellen Risiken, die nicht nur unternehmerische, sondern auch gesellschaftliche Fragen aufwerfen würden.

So weist er darauf hin, dass die Hälfte des Kinoticket-Preises in die Verleihmiete, an die GEMA und die Filmförderungsanstalt fließt und vom Rest alles von Personalausgaben bis Energiekosten beglichen werden muss. „Würden mit einem Day-and-Date-Release weitere Einnahmen wegfallen, hätte das massive Konsequenzen.“ Denn durch diesen Verlust würde ein wesentlicher Bestandteil der Finanzierung neuer Kinofilme fehlen.

Wer mehr Geld in Qualität und Exklusivität steckt, muss über kurz oder lang seine Kunden zur Kasse bitten.

In den USA werden Netflix-Produktionen von vielen Kinos boykottiert, in erster Linie weil sie gegen die 90-Tage-Exklusivität der Verwertungskette verstoßen. Dabei sind sowohl die ersten Filme des Streaming-Dienstes als auch die größten VoD-Erfolge der Studios keine Konkurrenz für das Kino, sondern eher für das Fernsehen. Rüdiger Böss von ProSieben Sat.1 gibt sich dennoch gelassen. „Wir glauben, dass in einem flexiblen Mix alle Marktteilnehmer zufriedengestellt werden können. Attacken nutzen niemandem, letztendlich auch nicht unseren Zuschauern“, sagt er. „Heutzutage tauchen ständig neue Mitbewerber wie Streaming-Dienste am Markt auf, nicht alle davon sehen wir als Konkurrenten. Manchmal ergänzt man sich auch ganz gut.“

Bleibt abzuwarten, ob die Zusammenarbeit verschiedener Anbieter innerhalb der Verwertungskette mit zunehmendem Wettbewerb innovativer wird. Fest steht, dass die Trends, die in der Industrie aktuell an vielen Stellen für Spannungen sorgen, wichtige Impulse für ein etabliertes, aber stellenweise veraltetes Modell liefern. Und sicher ist auch, dass Pläne wie die von Netflix ihren Preis haben werden: Wer mehr Geld in Qualität und Exklusivität steckt, wird längerfristig auf Quantität verzichten — und seine Kunden über kurz oder lang zur Kasse bitten müssen. 

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