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Wieso wir eine neue Sprache für Überwachung, Teilhabe und Privatsphäre im Netz brauchen

von Jürgen Geuter
Der Philosoph Ludwig Wittgenstein prägte 1918 den Satz: „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.“ Dabei ging es ihm allerdings nicht darum, keine Geheimnisse auszuplaudern, sondern zu beschreiben, dass unserem Verständnis der Welt immer unsere eigene Sprache zugrunde liegt. Wofür ich keine Worte habe, das existiert quasi nicht.

Die Gültigkeit von Wittgensteins Satz wird mir und sicher auch vielen anderen immer wieder bewusst, wenn wir versuchen, anderen Menschen, die weniger technik- und netzaffin sind, die Digitalsphäre und die in ihr wichtigen Begriffe und Themen nahezubringen. Netzneutralität, Tracking, Big Data und ähnliche Konzepte mögen für Experten eine klare Bedeutung haben, für Nicht-Fachleute lassen sie sich hingegen schwer in begreifbare Sprache fassen. Wie übersetzt man zum Beispiel „Tracking im Web“ in einfach veständliche, angemessene Bilder? Wie werden wir den Nuancen der Begriffe so gerecht, dass wir Menschen, die das Netz einfach nur benutzen wollen, keine Angst machen, sondern ihnen ein Verständnis vermitteln, das ihnen erlaubt, die für sie richtige Entscheidung zu treffen?

Das Ziel: die Strukturen des Netzes auch für Menschen ohne Informatikstudium sicht- und begreifbar machen.

Ein Beispiel: So nützlich all die kleinen Knöpfe zum Liken und Teilen von Texten oder Videos sind und so einfach sie es machen, interessante oder lustige Inhalte an die eigene Peergroup weiterzuleiten — ganz ohne Nebenwirkungen ist deren Einbettung nicht. Schon der Einbau einfacher Bilder von anderen Websites in die eigene kann Informationen über die Besucher meiner Seite an irgendwelche Dritten weiterleiten. Das ist fortgeschrittenen Netzbenutzern vertraut, für viele andere aber völlig unbekannt. Denn einer Website ist nicht ohne weiteres anzusehen, welche Inhalte von welchen Servern stammen. Der Browser fügt alle Bestandteile, egal welchen Ursprungs, zu einer homogenen, glatten Benutzungsoberfläche zusammen. Diese Strukturen sicht- und begreifbar zu machen, auch für Menschen ohne Informatikstudium — damit beschäftigen sich seit einiger Zeit diverse Projekte.

Ghostery ist eines der bekannteren. Nach der Installation des gleichnamigen Plugins in den eigenen Browser zeigt es bei jedem Seitenbesuch eine Liste der auf der Website gefundenen Tracking-Tools an und erlaubt es, diese einzeln oder in ganzen Gruppen zu blockieren. Dazu stellt Ghostery umfangreiche, gut gepflegte Bibliotheken dieser Werkzeuge bereit und ordnet sie unterschiedlichen Kategorien wie zum Beispiel „Werbung“, „Privatsphäre“ und „Widgets“ zu. An sich eine gute Idee und für Experten sehr hilfreich und mächtig, um Websites einzuschätzen und bewusst bestimmtes Tracking zu unterbinden oder zuzulassen. Für Nicht-Experten sind allerdings weder die Listen noch die Kategorien besonders hilfreich: Was ist der Unterschied zwischen der „Widget“-Kategorie und der „Privatsphäre“-Liste? Statt zu erklären und aufzuklären, sorgt das Warnungs-Popup auf jeder Seite mit seiner langen Litanei von Trackern eher dafür, dass die Nutzer massiv verunsichert werden, ohne ihnen wirklich eine fundiertere Entscheidung zu ermöglichen. Ein Werkzeug nur für Power-User also. 

Lightbeam hingegen wird nur für den Firefox-Browser angeboten und wählt einen anderen Weg. Anstatt bei jedem Seitenbesuch Listen von Trackern anzuzeigen, kann per Knopfdruck eine animierte und dynamische Visualisierung der gerade besuchten Website(s) geöffnet werden, die in einer Netzwerkdarstellung deren Struktur und Datenquellen illustriert. Die besuchte Seite wird als Kreis dargestellt, externe Quellen als mit dem Kreis verbundene Dreiecke, teilweise sind sie mit den Icons der Anbieter der eingebauten Inhalte versehen. Durch diese Visualisierung statt einer Tabelle sind die Beziehungen zwischen der gerade besuchten Website und den Servern Dritter deutlich besser und auf einen Blick sichtbar. Ohne weiterführende Kenntnisse ist allerdings auch diese Ansicht verwirrend: Warum haben alle Teile die gleiche Größe? Warum spricht mein Rechner gerade eigentlich mit allen diesen fremden Servern, wo ich doch nur schnell Nachrichten lesen wollte? Und welche Daten fließen eigentlich wohin? Die Struktur einer Website wird durch Lightbeam klarer, ihre Bedeutung für den User allerdings immer noch nicht. Die Bildsprache ist sehr kalt und technisch, wie die gesamte Oberfläche.

WIRED Germany und OpenDataCity haben gerade das Projekt Datenblumen gestartet. Auch hier wird versucht, die Struktur von Websites zu visualisieren, um Usern klarer zu machen, wer beim Surfen möglicherweise Informationen über sie sammelt. Dabei wurde offensichtlich Wert auf eine freundliche, angenehme Darstellung und Sprache gelegt. Die einzelnen Objekte einer Website, die Bilder, der HTML-Code und so weiter werden als Kreise visualisiert, wobei die Farbe ihren Typ und der Radius die Datenmenge kennzeichnen. Die Server eines bestimmten Anbieters werden durch einen Kreis markiert, der alle Inhalte dieses Servers zusammenfasst. Und diese bunten Ansammlungen von Kreisen heißen Datenblumen. Aber auch bei diesem Projekt klappt nicht alles. Auch wenn die Struktur durch die Blume verständlich und greifbar wird, können die Radien der Kreise doch einen falschen Eindruck erwecken: Ein von der Wikipedia nachgeladenes Bild wäre viel größer als beispielsweise der Javascript-Tracking-Code eines Social-Media-Dienstes. So kann der Eindruck entstehen, Wikipedia bekäme mehr Daten von mir als das Tracking-Tool, obwohl eher das Gegenteil der Fall ist. Auch sind die Kategorien für Durchschnitts-User nicht immer verständlich verständlich: Was genau bedeutet eigentlich „Styles“?

Es gibt natürlich noch viel mehr Projekte, die das Thema Tracking verständlicher und transparenter machen wollen. Und bei allen ist es ähnlich wie bei den drei gerade besprochenen: Sie kommunizieren wichtige Informationen, nur nicht immer auf eine verständliche Art, die Missverständnisse vermeidet. Eine Liste aller Tracker, wie Ghostery sie anbietet, ist zwar informativ, überfordert aber schnell. Die Datenblumen sehen nicht nur angenehm aus, sondern machen die Struktur von Websites auch Laien begreifbar. Sie können allerdings einen falschen Eindruck über die Menge der getrackten Daten vermitteln. Technische Zusammenhänge verständlich und trotzdem angemessen zu kommunizieren, ist schwierig.

Und gerade deshalb ist es wichtig, es immer wieder neu zu versuchen. Ghostery, Lightbeam, die Datenblumen und all die anderen Projekte sind Versuche, die richtige Sprache zu finden, um einen schwer greifbaren, technischen Zusammenhang möglichst allgemeinverständlich zu kommunizieren. Dabei sind sie alle nicht perfekt, enthalten Fehler, manchmal viel zu viele Details und unzulässige Vereinfachungen. Trotzdem liefern sie jeweils nützliche und erfolgreiche Ansätze, wie man das Spannungsfeld zwischen Komplexität und Einfachheit auflösen kann.

Click here to be safe forever. Leider reicht das nicht, um mehr als nur die Technik-Elite zu erreichen.

Die Netzbewegung und Technikexperten tun sich oft noch schwer, Politik und Gesellschaft die Wichtigkeit der Netzdebatten für unsere gemeinsame, gesamtgesellschaftliche digitale Zukunft nahezubringen. Es ist eben einfach, einen Link auf ein mit technischen Begriffen durchsetztes Dokument oder ein komplexes Werkzeug zu empfehlen. Click here to be safe forever. Leider reicht das nicht aus, um mehr als die technikkompetente Elite zu erreichen. Und das hat vor allem damit zu tun, dass sich noch keine wirklich gute, angemessene, verständliche Sprache etabliert hat, um digitale Debatten in die analoge Welt zu übersetzen.

Eine solche Sprache wird nie perfekt sein, sie wird nie alle Aspekte eines Problems oder einer Technologie beschreiben oder übersetzen können. Aber das ist auch gar nicht notwendig. Sie muss nur gut genug sein, um einerseits Menschen in die Lage zu versetzen, den für sie richtigen Weg durch die Digitalsphäre zu wählen. Und sich andererseits an den gesellschaftspolitischen Debatten, die das Netz aufbringt — Fragen über Überwachung, Teilhabe, Privatsphäre und Öffentlichkeit — zu beteiligen. Und wenn eine solche Sprache dann noch hübsche Bilder generiert, wie zum Beispiel die Datenblumen, umso besser. 

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