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Voll beschränkt: Ein Berliner Video-Startup hat Erfolg mit Aussortieren

von Karsten Lemm
Alles. Immer. Letztlich zu viel. Das kann mürbe machen. Lösungsversuch: Statt Milliarden Videos zu zeigen, wie YouTube und das halbe Web, wählt das Berliner Startup Hyper jeden Tag nur neun kurze Filme aus — und ist damit so schnell so beliebt geworden, dass es von Mic.com gekauft wurde. Nächster Schritt: Ab ins Fernsehen.

Ein Abstecher in die Welt von Hyper verlangt nicht viel vom hektischen Alltag. Zwei Minuten hier, drei Minuten da, und nach spätestens 45 Minuten ist Sendepause. Sollen andere mit maximaler Auswahl locken — Hyper setzt aufs Gegenteil: bewusste Verknappung. Eine handverlesene Sammlung von gerade mal neun Videos pro Tag landet automatisch jeden Morgen auf dem iPad von Hyper-Nutzern, setzt einen Kontrapunkt zum allgegenwärtigen Gewimmel im Rest der Online-Welt. 

„Es gibt immer mehr Inhalte, wir ertrinken in der Fülle des Angebots“, sagt Markus Gilles, Chef des Berliner Startups. „Aber keiner hebt das Gute hervor und löst es vom Hintergrundlärm.“ Warum nicht einen Service daraus machen, diese Aufgabe zu übernehmen, fragten sich Gilles und seine drei Mitgründer — zwei Filmprofis, zwei Programmierer. Ihre App, seit Ende August in Apples App Store erhältlich, fand schnell Anhänger und wurde von Apple zu einem der Top-Programme des Jahres gekürt. Fünf Sterne geben die meisten Nutzer. „Wir sind die am besten bewertete Video-App überhaupt“, sagt Gilles.

Das hat viel mit der Präsentation zu tun. Über den Startbildschirm läuft ein Mosaik aus kleinen Vorschau-Clips, lenkt den Blick, verführt zum Anklicken und Umschauen. Ob das Netz gerade lahmt, spielt beim Videogucken keine Rolle: Die App lädt alle Filme über Nacht automatisch über WLAN herunter. „Auf diese Weise hat man immer eine Verbindung, die sich super schnell anfühlt“, sagt Gilles — selbst in der U-Bahn oder im Flugzeug. Die Videos belegen zwar kostbaren Speicherplatz (etwa 100 Megabyte), alte Videos werden aber automatisch gelöscht, sobald die App neue lädt.

Hunderte von Filmchen schaut sich ein Team aus sechs Dauer-Surfern täglich an, immer auf der Suche nach dem Besonderen im Bilderstrom. Um ein internationales Publikum zu erreichen, spricht Hyper konsequent Englisch. Ein typischer Tag enthält eine Mischung aus Politik und Gesellschaft („Why ISIS Attacked Brussels“), Wissenschaft („What Are the Odds You Exist?“), Kultur („Tarantino Secrets“) und reichlich Staunen, Humor, Drolligkeiten — vom Wunderland der Modelleisenbahnen bis zum Geschmackstest des 200-Dollar-Gesundheitsdrinks von Gwyneth Paltrow.

„Wir versuchen, umfassend und ungewöhnlich zu sein“, erklärt Gilles, ein 36-jähriger ehemaliger Filmproduzent. „Unser Anspruch ist, eine Art Magazin zusammenzustellen, mit redaktionellen Entscheidungen, die dem, was Algorithmen heute können, überlegen sind. Und wir glauben, dass die Zukunft der Medien stark im Identifizieren und Verstärken von Qualitätsinhalten liegt.“ 

Das Konzept kam so gut an, dass Anfang März der amerikanische News-Überflieger Mic.com das Berliner Startup kurzerhand aufkaufte. „Hyper hat die Präsentation von Videos auf Mobilgeräten perfekt hinbekommen, und die App spricht unsere Zielgruppe ideal an“, sagt Chris Altchek, Chef und Mitgründer des New Yorker Startups. Mit seiner Mischung aus harten, gesellschaftsbetonten Nachrichten gleich neben Klatsch, Sex und Kuriosem kommt die schnell wachsende, 2011 gegründete News-Website auf 30 Millionen Besucher im Monat. Drei Viertel sind unter 35 Jahre alt.

„Wir zielen bewusst auf junge, gut gebildete Menschen ab, die ein Interesse an der Welt zeigen.“

Chris Altchek, Mic.com-Mitgründer

 

Für Altchek passt der Hyper-Ansatz vom Weniger-ist-mehr gut in die Firmenstrategie, auf Klasse statt Masse zu setzen. „Wir zielen ganz bewusst auf junge, gut gebildete Menschen ab, die ein Interesse an der Welt zeigen und meist auch gut verdienen“, sagt Altchek. „Deshalb müssen wir nicht versuchen, alles für alle zu sein.“ Statt so viele Klicks zu sammeln, wie es geht, will Altchek lieber Unternehmen dafür gewinnen, sich im Umfeld ausgewählter Hyper-Videos zu präsentieren — eingestreut ins Programm, in Form von Anzeigen in der App, oder mit eigenen Videos, in denen die Marken sich dem Publikum präsentieren können.

„Unser Ehrgeiz mit diesem Projekt ist enorm“, sagt Altchek. „Der Wert von Hyper liegt darin, eine Plattform zu werden, die das Beste aus dem Netz präsentiert.“ Deshalb haben die New Yorker im Eiltempo zusammen mit ihren neuen Berliner Kollegen die Video-App auf Apple TV übertragen. Macht potenziell 30 Millionen zusätzliche Zuschauer, die vor großen Bildschirmen sitzen und hungrig auf Sehenswertes warten.

„Wir merken, unser Konzept geht auf“, sagt Markus Gilles. „Jetzt wollen wir ein breiteres Publikum ansprechen.“ Bei aller freiwilligen Beschränkung sollen Nutzer bald die Möglichkeit bekommen, Vorlieben anzugeben, damit die Auswahl der Videos besser ihren persönlichen Geschmack trifft. Auch eine Android-Version soll es eines Tages geben — aber das wird warten müssen, bis das Hyper-Team in Berlin andere Prioritäten abgehakt hat. 

Ganz vorn steht: Neue Mitarbeiter finden, die mithelfen, die Flut an Videos zu bewältigen. Schließlich ist es keine leichte Aufgabe, täglich neu das Beste herauszufischen. Algorithmen helfen ein wenig beim Vorsortieren — aber am Ende müssen Menschen anschauen, bewerten und entscheiden, was würdig sein soll, ein Hyper-Publikum zu finden. „Wundern Sie sich nicht“, sagt Gilles, „wenn Sie in Berlin bald Anzeigen sehen, in denen nach professionellen Binge-Watchern gesucht wird: ,Lassen Sie sich fürs Video-Schauen bezahlen.‘“ 

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