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Barrierefreiheit: Dieses Smartphone könnt ihr steuern, ohne es zu berühren

von Angela Gruber
Der querschnittsgelähmte Giora Livne und ein Entwickler haben gemeinsam ein Smartphone auf den Markt gebracht, das ohne Berührungen gesteuert wird. Statt auf Tippen oder Wischen reagiert das Sesame Phone auf kleinste Kopfbewegungen — und kann so zum ersten Smartphone für viele Menschen mit schwerer körperlicher Behinderung werden.

Fast zehn Jahre lang hat Giora Livne keinen Telefonanruf alleine getätigt, nie eine SMS ohne die Hilfe seiner Frau oder eines anderen Helfers versendet. Livne, 64, ist querschnittsgelähmt, seit er 2005 von einer Leiter stürzte. Vom Hals an abwärts kann er sich nicht mehr bewegen. Ein Smartphone benutzen: lange undenkbar.

Seit kurzem aber ist auch Livne in die Welt der Smartphone-Nutzer eingetaucht: Als Startup-Gründer hat er das Sesame Phone mitentwickelt. Es ist das erste Smartphone, das sich vollständig ohne Berührungen steuern lässt, so Livne, ein ehemaliger Marinekapitän und Ingenieur aus Haifa in Israel. Das Sesame Phone reagiert auf Kopfbewegungen seines Besitzers, aufgezeichnet durch die Kamera über dem Display. So kann sich der Nutzer ohne Hände durchs Menü navigieren.


Nach einer erfolgreichen Crowdfunding-Kampagne auf Indiegogo werden seit zwei Monaten die ersten Sesame-Geräte an Kunden auf der ganzen Welt geliefert. „Mein Leben lang habe ich Technik geliebt und brauchte früher immer das Neueste vom Neuesten. Es war ein unbeschreiblicher Moment, endlich zum ersten Mal mein eigenes Smartphone zu benutzen“, sagte Livne, und wiegt bei der Erinnerung den Kopf vergnügt leicht hin und her.

Als Steve Jobs 2007 das iPhone vorstellte und die Ära der Smartphones einläutete, blieben Menschen mit einer Diagnose wie Livne außen vor. Zwar gibt es eine PC-Bedienungshilfe für Querschnittsgelähmte, die auch Livne nutzt. Für das Smartphone wartete er aber vergeblich auf ein passendes barrierefreies Angebot: „Barrierefreie Technik ist ein kleiner Markt mit einem Kundenkreis, der oft nicht viel Geld hat. Keine große Firma wie Google oder Apple interessiert sich dafür, teuer maßgeschneiderte Lösungen zu entwickeln.“

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Nun hat Livne sich sein Wunschprodukt selbst geschaffen. Angefangen hat alles mit einem Telefonanruf vor zwei Jahren. Livne hatte im israelischen Fernsehen einen jungen Entwickler gesehen, Oded Ben Dov. Der sprach über sein neuestes Spiel, das sich über Kopfbewegungen der Gamer steuern lässt. Livne rief an und fragte, ob Ben Dov ein Smartphone für ihn bauen könne, erinnerte sich der Entwickler. Zuerst dachte Ben Dov an einen Scherzanruf, aber dann stimmte er einem Gespräch mit Livne zu. „Ich habe zum ersten Mal in meinem Leben einen Querschnittsgelähmten getroffen und mir gedacht: Ich habe die Technologie, um diesem Menschen zu helfen.“

Ben Dov programmiert, seit er sechs ist und hatte zum Zeitpunkt des Anrufs gerade seine eigene Softwarefirma aufgebaut. Sein Spezialgebiet: Computern beizubringen, wie man Gesten und andere visuelle Reize erkennt. Im Sommer 2013 gründen er und Livne ihr Startup Sesame Enable, bald konzentriert sich Entwickler Ben Dov ganz auf seine Arbeit an dem barrierefreien Smartphone. Livne definiert, was das Produkt können muss und ist der wichtigste Tester. Ben Dov arbeitet am Code.

Das Startsignal für das 700 Dollar teure Smartphone: „Open, Sesame!“

Das Startsignal für das 700 Dollar teure Smartphone: „Open, Sesame!“ – Sesam, öffne dich. Durch diese Formel wird das Gerät aktiv. Zusätzliche Hardware braucht es nicht, lediglich der Kopf des Nutzers muss im Blickfeld der Front-Kamera sein. Das Sesame Phone ist ein Google Nexus 5 mit einer Softwareerweiterung, die quasi Teil des Betriebssystems ist. Nutzer können so jede beliebige App herunterladen und bedienen, egal ob Facebook oder Twitter. Per Kopfbewegung wird ein Cursor über den Bildschirm navigiert. Statt zu tippen verweilt der Sesame-Nutzer mit dem Cursor auf einer Fläche und kann so etwa eine App öffnen, auch einige Sprachbefehle sind möglich. Durch eine entsprechende Kopfbewegung kann der Nutzer über den Bildschirm wischen. Eine Aktion wird durch ein Neigen des Kopfes in die angezeigte Richtung bestätigt.

Dass die Sesame-Software nicht wie eine normale App auf ein beliebiges Gerät heruntergeladen werden kann, liegt an den strengen Aufnahmeregeln für Apps in den Stores von Apple und Google. Ben Dovs Software braucht weitgehende Zugriffsrechte und werde von Google und Apple nicht freigegeben, da man eine Destabilisierung des Betriebssystems fürchte, so Ben Dov. Deshalb haben die beiden Gründer sich für die Startphase auf ein Gerät festgelegt, dessen Software sie selbst umbauen und dann gebrauchsfertig ausliefern. „Für unsere Nutzer ist es aktuell kein Problem, dass sie auch ein Smartphone mitkaufen müssen. Sie hatten davor sowieso meistens keines.“

Für Livne ist sein Smartphone das, was es für alle anderen Nutzer auf der Welt wohl auch ist: ein praktischer Begleiter, der Kommunikation erleichtert und bequem Informationen verschafft. Damit er es immer einsetzen kann, hat er sich eine Halterung an seinen Rollstuhl montieren lassen. „Ich bin jetzt mobiler und fahre öfters in den Garten, um allein zu telefonieren“, so Livne. „Die Querschnittslähmung hat mir viel Privatsphäre geraubt. Jetzt kann ich einfach selbst wieder eine Nummer wählen.“ Er ist außerdem ein großer Fan von WhatsApp. „Ich habe eine Gruppe für meine Kinder eingerichtet und lasse sie wissen, wie es mir geht. Das finde ich einfach praktisch.“

50 Exemplare des Geräts haben die Entwickler innerhalb der ersten zwei Monate verschickt, mehrere Tausend sollen es binnen eines Jahres sein. Währenddessen wollen die Gründer bei der Software nachbessern und die Bedienung einfacher machen. Die größte technische Herausforderung sei es, den Algorithmus zu verfeinern, der die Bewegungen des Kopfs erkennt - ohne potenzielle Nutzer auszuschließen. „Giora kann seinen Kopf nur kaum merklich bewegen. Der Algorithmus hat seine Bewegungen lange überhaupt nicht registriert“, sagte Ben Dov. Gleichzeitig gibt es andere Nutzer, deren Kopfbewegungen sehr stark und ruckartig ausfallen. Für beide Fälle soll das Sesame Phone zuverlässig funktionieren. Livne bedient sein Gerät mittlerweile routiniert und liebt es, Angry Birds zu spielen: „Wer mich darin schlagen will, muss fit sein.“

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