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Deutschlands Elektro-Autonomer: Dieser Mann lebt off-the-grid

von Benedikt Plass-Fleßenkämper
Kritiker bezeichnen die Beschlüsse des jüngsten Koalitionsgipfels zur Energiepolitik als faulen, weil kostspieligen Kompromiss. Überhaupt mahlen die Regierungsmühlen langsam, erst bis 2050 soll der Stromverbrauch in Deutschland größtenteils aus erneuerbaren Energien gedeckt werden. Dass Energieautarkie jedoch schon heute möglich ist, beweisen Menschen wie der bayerische Zahnarzt Bernhard Lörsch, der Haus und e-Golf mit Sonnenstrom versorgt. Noch dürfte sein Beispiel für die breite Masse aber kaum umsetzbar sein.

Die Energiewende zugunsten des Klimaschutzes ist unumgänglich, damit der Planet Erde langfristig überleben kann. Das sieht so auch Bernhard Lörsch (53). Er versorgt sein Häuschen am Ortsrand von Lengmoos in der Gemeinde Gars a. Inn, in dem er zusammen mit einem Dutzend Katzen und seinem Hund lebt, größtenteils mit selbst produziertem Solarstrom. „Ich interessiere mich für Konzepte zur erneuerbaren Energie und liebe eine möglichst autarke Lebensweise“, sagt er im WIRED-Interview. „Ich halte den Raubbau an den fossilen Vorräten für schade, schädlich und — soweit es unsere Nachfahren anbelangt — auch schändlich.“
 
Seit 1992 ist Lörsch als niedergelassener Zahnarzt in einer Gemeinschaftspraxis in Waldkraiburg tätig. Seit einiger Zeit fährt er täglich mit einem e-Golf zur Arbeit, den er ebenfalls mit selbst erzeugtem Sonnenstrom betankt. Längst ist das E-Mobil zu seinem bevorzugten Fortbewegungsmittel avanciert: In nur acht Monaten hat er damit rund 30.000 Kilometer zurückgelegt.

Der im sächsischen Freiberg lebende Timo Leukefeld, der das erste energieautarke Haus Deutschlands ohne Stromanschluss gebaut hat, glaubt genau wie Bernhard Lörsch an regenerative Energien als zukunftsweisendes Konzept. „Häuser zu entwickeln, die sich unabhängig und intelligent selbst mit Wärme, Strom und Mobilität aus der Sonne versorgen, ist für mich nachhaltig“, schreibt er auf seiner Website. „Ich meine damit eine ganz neue Kultur des Energieverbrauchens, die bedeutet nicht Verzicht, davor haben wir ja alle Angst, sondern intelligent verschwenden!"
 
Menschen wie Lörsch und Leukefeld sind progressive Prototypen, die die Energiewende bereits leben. Davon ist die Bundesregierung noch weit entfernt: Man wird zwar nicht müde zu betonen, dass Kohlestrom keine Zukunft hat und will das letzte Atomkraftwerk im Jahr 2022 vom Netz nehmen, doch erst bis 2050 soll der Strombedarf der Deutschen zu 80 Prozent aus erneuerbaren Energien gedeckt werden. Die Umstellung auf Wind- und Sonnenstrom ist eine Mammutaufgabe, denn die Politik kämpft mit Problemen wie überlasteten Stromnetzen und stockendem Netzausbau – und mit sich selbst.

Der jüngste Koalitionsgipfel Anfang Juli hat gezeigt, dass Deutschlands Energiepolitik zu sehr die Industrieinteressen bedient. Der Streit innerhalb der großen Koalition wurde zwar beigelegt und man verständigte sich auf ein Paket aus mehreren Maßnahmen, mit dem die Bundesregierung ihre Klimaschutzziele bis 2020 einhalten will. So sollen unter anderem mehrere Braunkohlekraftwerke abgeschaltet und Engpässe beim Stromnetzausbau beseitigt werden.
 
Nicht wenige Kritiker sind aber der Meinung, dass hier nur Schlichtungsversuche und Kompromisse auf Kosten der Steuerzahler betrieben werden. Schließlich ist die von Sigmar Gabriel geplante Klimaabgabe für Kohlekraftwerke endgültig vom Tisch – der Wirtschaftsminister beugte sich dem Widerstand der Energiewirtschaft in Form großer Konzerne wie RWE und E.on, die sich zuletzt über steigende Aktienkurse freuen durften.

Eva Bulling-Schröter von der Linkspartei bezeichnete das Scheitern der Klimaabgabe als Gabriels „schlimmste Niederlage“, Grünen-Fraktionschef Anton Hofreiter beurteilte die Pläne der Bundesregierung als „Bankrotterklärung, die schmutzig und teuer“ sei. Selbst aus den eigenen Reihenbekommt Gabriel Widerstand zu spüren, etwa von Bundesumweltministerin Barbara Hendricks oder der Energiepolitische Sprecherin der SPD-Fraktion im Thüringer Landtag, Eleonore Mühlbauer. Und auch Umweltaktivisten wie der BUND-Vorsitzende Hubert Weiger („ein fauler Kompromiss zu Lasten des Klimaschutzes, der horrend teuer wird“) oder WWF-Klimaschutzexpertin Regine Günther sind mit den Koalitionsbeschlüssen höchst unzufrieden.
 
Dass die vor allem in Bayern ungeliebten Stromtrassen nach den neuen Plänen der Bundesregierung in den Boden verlegt werden sollen, dürfte Bernhard Lörsch an seinem bayerischen Wohnort kaum tangieren. Die autarke Versorgung mit Solarstrom sei ein Segen; sein Hauskraftwerk und die Wallbox, beides Lösungen des Osnabrücker Cleantech-Unternehmens E3/DC, möchte er nicht mehr missen.

Laut Lörsch seien die Anschaffungskosten für die Umstellung auf autonome Energieversorgung und Elektromobilität „in etwa so teuer wie ein SUV oder eine gängige Limousine der oberen Mittelklasse“ gewesen. „Ich habe für die Photovoltaikanlage, das Hauskraftwerk und den e-Golf inklusive Mehrwertsteuer und Montagekosten etwa 70.000 Euro bezahlt“, so der Zahnarzt. Das ist für den Durchschnittsdeutschen, der laut Statista im Jahr 2014 ein Bruttojahreseinkommen in Höhe 31.981 Euro verdient hat, viel Geld. Lörsch glaubt aber, dass sich die Anlagekosten für seine autonome Energieversorgung in einigen Jahren amortisiert haben werden: „Als Unternehmer habe ich die Erfahrung gemacht, dass sich Innovationen trotz anfänglich hoher Investitionen häufig langfristig rechnen.“
 
Seinen e-Golf nutzt Lörsch äußerst intensiv. „Ich fahre 25 Kilometer in die Arbeit, mittags nach Hause, wieder in die Arbeit und abends zurück. Einige sonstige Fahrten – Einkauf, Kino, Eltern und so weiter – inklusive, sind das etwa 100 bis 150 Kilometer täglich“, erklärt Lörsch. Ursprünglich wollte er sich das Elektroauto nur als Zweitwagen zulegen, doch nach der Anschaffung im Sommer 2014 überzeugte ihn der e-Golf in Sachen Effizienz derart, dass er seinen VW-Bus zwar behielt („ein Luxus, den ich mir leiste“), ihn aber nur in Ausnahmefällen benutzt, etwa bei Tiefschnee im Winter oder für Auslandsfahrten. „Der Durchschnittsverbrauch meines e-Golfs beträgt 12,7 Kilowattstunden auf 100 Kilometern; dies entspricht dem Energiegehalt von 1,2 Litern Benzin auf 100 Kilometern.“

Viele Bekannte und Fachleuten hätten ihn gewarnt, dass Elektromobilität schlicht nicht funktionieren würde, „zum Beispiel bei Minusgraden“, erklärt Lörsch. „Das Gegenteil war der Fall: Mein ‚Zweitwagen’ mutierte sehr schnell zum favorisierten Fahrzeug, und ich konnte zu meiner Verwunderung praktisch alle in meinem Alltag anfallenden Fahrten mühelos mit dem Elektroauto absolvieren. Auch im Winter.“
 
Als weitere Vorteile eines E-Mobils nennt er neben der zehnjährigen Befreiung von der KFZ-Steuer vor allem den weitgehend wartungs- und verschleißfreien Betrieb: „Ölwechsel, Bremsen und ASU fallen beim Elektroauto selten beziehungsweise gar nicht an und viele zum Teil verschleißintensive Teile von Verbrennerautos wie Auspuff, Kupplung, Getriebe, Ölpumpe, Lichtmaschine oder Keilriemen gibt es hier gar nicht.“


Die rekuperativen Eigenschaften seines e-Golfs gefallen ihm ebenfalls. „Mit einem Elektroauto benutzt man die Bremse fast nie, da das Fahrzeug, wenn man vom Gaspedal heruntergeht, in den Generatorbetrieb übergeht und die Bewegungsenergie des Fahrzeugs in Strom zurückverwandelt. Beim Bergabfahren füllt sich quasi der ‚Tank’ von selbst wieder auf.“

Lörsch sieht aber auch einige Nachteile gegenüber einem Benzinfahrzeug: Verbrauch und damit Reichweite würden beim Elektroauto spürbarer als beim Verbrennerfahrzeug von Fahrweise und diversen äußeren Faktoren wie Schneematsch, Kälte oder Fahrzeugklimatisierung abhängen.

Und was macht der 53-Jährige, falls er mal größere Strecken fahren möchte? „Es gibt im Internet, zum Beispiel bei GoingElectric.de, ein komfortabel abrufbares Verzeichnis von mehreren tausend öffentlich nutzbaren Ladesäulen in Deutschland und europaweit. Man kann mit dem e-Golf also durchaus Langstrecken absolvieren.“

Für die Umsetzung der Arbeiten an Lörschs Haus war adSol verantwortlich. Eine technische Herausforderung, sagt Ingo Martin, Geschäftsführer des Münchner Unternehmens. „Weil hier wesentliche Teile der Mobilität mit einem Elektrofahrzeug zurückgelegt werden, bestand die Herausforderung darin, möglichst viel Sonnenenergie in die Autobatterien zu bekommen. Die verwendete Technik von E3/DC ermöglicht durch intelligente Kommunikation zwischen der Ladestation und dem Hauskraftwerk maximale Sonnenenergie zu laden. Das ist ökologisch sinnvoll und hochwirtschaftlich. Zukünftig wird es auch möglich sein, tagsüber gespeicherte Energie nach abendlicher Rückkehr in das Elektrofahrzeug umzuladen.“
 
Da nun auch Tesla und Daimler eigene Super-Batterien auf den Markt bringen wollen, könnte man meinen, dass die Zukunft der autarken Energieversorgung in Deutschland schon jetzt beginnt. E3/DC-Geschäftsführer Andreas Piepenbrink bekräftigt zwar, dass die Ankündigungen der Heimspeicher-Lösungen für Zuhause dem Markt gut tun, doch speziell Teslas Pläne beurteilt er kritisch: „Die Tesla-Technik ist von Panasonic, und das Batteriedesign kommt direkt aus dem Fahrzeug. Es ist ein Hochvoltsystem, das nicht so unkritisch ist, insbesondere bei der Installation. E3/DC setzt auf Schutzkleinspannungs-Lösung mit 48 Volt, die jeder Installateur und Kunde problemlos und wartungsfrei betreiben kann.“ Es handle sich bei Teslas Powerwall um ein reines Batteriesystem – Kosten für Wechselrichter und unter anderem Betriebsführung kämen oben drauf. „Einfach ausgedrückt: Tesla hängt eine Autobatterie an die Wand“, so Piepenbrink.

Bernhard Lörsch jedenfalls ist vom Leben als Elektroautofahrer und Energieselbstversorger begeistert und glaubt, dass Solarenergie in Deutschland eine große Zukunft hat: „Speziell wer ein eigenes Haus und eine freie, nach Osten/Westen/Süden ausgerichtete Dachfläche hat, kann bereits mit relativ kleinen Photovoltaikanlagen in Kombination mit einer Hausbatterie den häuslichen Strombedarf zum größten Teil decken.“ Nach seinen Erfahrungen sei im Winter der Zukauf von einer variablen Menge Strom erforderlich, während zu den anderen Jahreszeiten der Haushaltsbedarf gedeckt und ein Überschuss ins öffentliche Stromnetz eingespeist werden könne.
 
Die stark gefallenen Investitionskosten für Photovoltaikanlagen und die fallenden Preise für Batteriespeicher machen eine autonome, dezentrale Selbstversorgung für viele Konsumenten zu einer attraktiven Alternative. Experten sind allerdings der Meinung, dass es noch eine ganze Zeit lang dauern wird, bis die Energieautarkie in Deutschland Einzug hält. Das liegt nicht nur an den technisch recht komplexen Abläufen, jahrelange Gewohnheiten der Konsumenten und der Skepsis vieler Menschen gegenüber neuen Technologien. Autarke Energieversorgung für die breite Masse rechnet sich einfach nicht, hat das Umweltbundesamt (UBA) in einer 2013 durchgeführten Studie herausgefunden. Zwar könnte man in ländlichen Regionen den Energiebedarf aller Haushalte allein durch Solar- und Windenergie decken, selbst wenn die Bewohner ausschließlich Elektroautos fahren. Dafür seien jedoch gewaltige Energiespeicher nötig. Würde man nun jedoch den Strombedarf von Gewerbe und Industrie in ländlichen Regionen mit einbeziehen, sei Energieautarkie wirtschaftlich nicht mehr vertretbar, so die Studie. In Städten und Gebieten mit hoher Bevölkerungsdichte sei Energieautarkie mit Solar- und Windanlagen schon ohne Berücksichtigung der Industrie nicht umsetzbar. Auf breiter Front wird die Energiewende noch auf sich warten lassen, davon ist UBA-Präsident Jochen Flasbarth überzeugt. Er ist der Ansicht, dass lokale Autarkie als Konzept in Einzelfällen und unter günstigen Bedingungen zwar umsetzbar sein könne, „ein Ansatz für eine tragfähige regenerative Energieversorgung ganz Deutschlands ist sie jedoch nicht.“


Auch die Stromwirtschaft steht dem Trend zur privaten Eigenerzeugung von Strom skeptisch gegenüber. „Wir sehen Technologieentwicklungen zu mehr Effizienz generell positiv", sagte der Freiberger Stadtwerke-Chef Axel Schneegans in Bezug auf das energieautarke Haus von Timo Leukefeld gegenüber VDI Nachrichten. „Aber wenn sich Bürger, die sich die große Investition leisten können oder wollen, aus der Solidargemeinschaft der durch den Strompreis finanzierten Netzkosten zurückziehen, dann wird das problematisch.“
 
Bleiben Energiewende-Vorreiter und Versorgungsautarkisten wie das Dorf Feldheim in Brandenburg, Familie Schmitt in der Eifel, Ökoparadiese wie das Kanareneiland El Hierro und die dänische Insel Samsø oder eben Einzelkämpfer à la Bernhard Lörsch und Timo Leukefeld also vorerst die Ausnahme?
 
Daran möchte adSol-Geschäftsführer Ingo Martin nicht glauben. „Wir erkennen deutlich, dass die Nachfrage nach intelligenten Energieerzeugungssystemen stark zunimmt, weil immer mehr Menschen den Wunsch nach mehr Unabhängigkeit im Energiebereich haben. Hier besteht der Wunsch nach Unabhängigkeit im Strom-, Wärme- und Mobilitätsbereich im Vordergrund. Gezielte Aufklärung führt dazu, dass sich informierte Menschen diesen neuen Technologien öffnen und ihren ganz persönlichen Beitrag zur Energiewende leisten.“

Menschen wie Bernhard Lörsch jedenfalls sind der lebende Beweis dafür, dass erneuerbare Energien zumindest als individueller Lebensentwurf schon heute wunderbar funktionieren können – sofern man den passenden Lebensraum bewohnt, neuen Technologien gegenüber aufgeschlossen und im Alltag ein wenig flexibel ist. Und: Man muss es sich finanziell natürlich leisten können. 

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