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Binaural Bits / Jonathan Ward schickt euch in 78 Platten-Umdrehungen pro Minute um die Welt

von Eva Raisig
Musik hören, die so selten ist, dass man sie in keinem Plattenladen der Welt mehr finden würde, egal wie lange man sucht? Der Blogger und Wissenschaftler Jonathan Ward mach es möglich. Für sein Projekt Excavated Shellac hat er Hunderte ebenso uralte wie seltene Schallplatten digitalisiert und online gestellt.

Jonathan Ward hat seine Regale mit Metallketten gesichert. Das hat einerseits mit seinem Wohnort zu tun — Los Angeles, direkt an der San-Andreas-Verwerfung, wo die pazifische und die nordamerikanische Kontinentalplatte aneinander vorbeischrammen —, andererseits mit dem Inhalt der Regale: Tausenden von hochempfindlichen Schellack-Platten. Seit Jahren sammelt Ward, Wissenschaftler am Getty Research Institute in L.A., in seiner Freizeit alte 78rpm-Platten mit Volks- und Popmusik aus der ganzen Welt. Einige von ihnen sind so selten, dass die Musik darauf unwiederbringlich verloren wäre, gingen sie bei einem Erdbeben zu Bruch.

Doch zumindest ein Teil der kratzigen Klänge wird auch dann noch zu hören sein, wenn die Regale einem Beben entgegen aller Vorsichtsmaßnahmen doch nicht standhalten sollten. Seit acht Jahren stellt Ward in regelmäßigen Abständen eine Auswahl der Musik auf seinem fabelhaften Blog Excavated Shellac vor. Er digitalisiert die Platten, die von überall her zu ihm nach Kalifornien geschifft werden, und stellt sie zum kostenlosen Download zur Verfügung. Musik sei am besten, wenn sie geteilt werde, sagt Ward. Und als Sammler brauche er immer mindestens eine Person, mit der er die wiederentdeckte Musik teilen könne.

Ward bringt uns eine Auswahl von Musik, an die in deutschen Wohnzimmern zu Zeiten des gemeinsamen Vor-dem-Plattenspieler-Sitzens kaum zu denken war. Vielleicht hätte man die Fiedelklänge der Finnin Signe Flatin noch irgendwie hören können. Vielleicht auch das Klarinettenspiel des Mazedoniers Kostas „Gus“ Gadinis, aufgenommen im New York der Vierzigerjahre. Aber die Gesänge von Moza Khamis aus Oman? Eine Opernaufnahme des Chinesen Xin Tian Cai Ban aus den Zwanzigern? Die gesungene Poesie von Dede Kurniasih aus Indonesien? Wahrscheinlich nicht.

Ward schenkt uns nicht nur die Klänge, er schenkt uns auch die Geschichten dahinter.

Es ist aber nicht nur das Teilen der unglaublichen Sammlung, die Excavated Shellac so besonders macht, es ist auch das Teilhaben an den Geschichten hinter den Platten. Bei den ausgegrabenen Schellackplatten bin ich zum ersten Mal über das Stück „Chemirocha“ gestolpert, genauer gesagt über die Legende, die in diesem kenianischen Lied besungen wird. Auf Wards Blog findet sich der Song hinter einem unscheinbaren Link in einem Eintrag vom April 2012. Zuerst hört man das leise Knistern einer Schallplatte, dann setzt die Chepkongo ein, eine sechsseitige Leier, wie sie oft im Westen Kenias zu hören ist, dazu ein rhythmisches Klopfen auf dem Holzkörper des Instruments. Schließlich fangen junge Männer an zu singen. „Chemirocha, Chemirocha“ — ungewohnte Klänge für ein Ohr, das vor allem westliche Musik gewöhnt ist. Und ungewöhnlich ist auch die Geschichte zu dem Stück, die Jonathan Ward erzählt.

Aufgenommen hat das Lied vor mehr als sechs Jahrzehnten der Musikethnologe Hugh Tracey. 1950 war er bei einer seiner Reisen in Ostafrika unterwegs, um im Westen Kenias die Musik der Kipsigis aufzunehmen. In Kapkatet angekommen stellte er überrascht fest, dass die Kipsigis, die er traf, offenbar Aufnahmen des amerikanischen Country-Sängers Jimmie Rodgers gehört hatten. Der war wegen seines ursprünglichen Berufs als Bremser bei der Eisenbahn als „Singing Brakeman“ zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Amerika berühmt geworden und gilt als einer der ersten Country-Stars überhaupt. Trotz seiner vergleichsweise kurzen Karriere (er starb schon mit 35 Jahren an den Folgen einer Tuberkulose) haben sich ganze Generationen von späteren Country-Sängerinnen und -Sängern auf Rodgers bezogen. Und ohne es zu wissen hat der singende Bremser aus den USA wohl auch am östlichen Ufer des Viktoriasees seine musikalischen Spuren hinterlassen. Hugh Tracey hielt später fest, die Kipsigis seien von Jimmie Rodgers Stimme derart fasziniert gewesen, dass sie eine Legende um das Wesen hinter der Stimme schufen: Chemi = Jimmie, Rocha = Rodgers — halb Mensch, halb Antilope, den sie in ihrer Musik verewigten.

Ein Schatzkästchen, das einen in 78 Umdrehungen pro Minute um die Welt schickt.

Jonathan Ward schenkt uns also nicht nur die Klänge, er schenkt uns auch die Geschichten dahinter. Er zieht mit den gut recherchierten Entstehungskontexten der Musik eine zusätzliche Ebene in ihre Rezeption ein. Wer die Hintergründe von „Chemirocha“ kennt, hört das Stück anders. Es ist mehr als die Geschichte einer Legendenbildung. Die Aufnahme erzählt genauso von der Kolonialisierung Kenias durch die Briten, die die Jimmie-Rodgers-Platten ins Land gebracht haben dürften. Für die Kipsigis, soll Hugh Tracey notiert haben, habe Chemirocha für etwas Neues und Fremdes gestanden, das von außerhalb ins Land gekommen war.

Andere Stücke auf dem Blog erzählen von der Entwicklung lokaler Labels in Lateinamerika, Südostasien oder Sub-Sahara-Afrika. Von Frauen, die sich schon vor hundert Jahren im männerdominierten Musikgeschäft durchgesetzt haben. Von der Diaspora des 19. und 20. Jahrhunderts, durch die sich folkloristische Musik in andere Teile der Welt verbreitete und sich unterschiedlichste Stile gegenseitig beeinflussten. Davon, dass Musik und Sprache sich nicht an politische Grenzen halten.

All das beschreibt Ward angenehm unaufgeregt und differenziert. Seine Zusammenstellung „Opika Pende — Africa at 78 rpm“ (dazu hier ein Podcast-Interview mit Musikbeispielen), in der er einen Eindruck von der Vielfalt traditioneller Volks- und früher Popmusik auf dem afrikanischen Kontinent gibt, hat ihm vor ein paar Jahren eine Grammy-Nominierung eingebracht. Das Label Dust-to-Digital hat vor einiger Zeit außerdem Wards Compilation “Strings” herausgebracht.

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Auf Excavated Shellac sind mittlerweile über zweihundert Aufnahmen und ihre Hintergünde zu finden. Es ist ein auditives Schatzkästchen, das einen digital in 78 Umdrehungen pro Minute um die Welt schickt.

Für Schallplattenliebhaber wird eine mp3 niemals an den Klang und an die Stimmung einer Schellack-Platte heranreichen. Aber vielleicht lassen die Fans sich zumindest von Wards Form des Teilens überzeugen — weil sie uns Musik eröffnet, die wir sonst möglicherweise nie zu hören bekommen hätten. Wir können davon sprechen, wie schön es war oder wäre, gemeinsam vor dem Plattenspieler zu sitzen und zu lauschen. Wir könnten aber auch für einen Moment auf Jonathan Wards Blog vorbeischauen. Wir würden ein Knistern hören, ein leises Knacken. Und dann käme Musik.

In der letzten Folge „Binaural Bits“ stellte Christian Grasse die besten Podcasts über Sex vor. 

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