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Jeremy Rifkin: „Google und Facebook müssen reguliert werden“

von Joachim Hentschel
Der Ökonom Jeremy Rifkin liebt das Internet — so sehr, dass er der Community sogar zutraut, den Kapitalismus zu stürzen. Aber was soll dann aus den Netzkonzernen werden?

Jeremy Rifkin ist es gewohnt, dass Staatsleute wie Angela Merkel oder der chinesische Vizepremier Wang Yang ihm gläubig zuhören — entsprechend schwierig kann es werden, seinen Redefluss zu unterbrechen. Der Enthusiasmus, mit dem der 69-jährige Soziotheoretiker beim Interview in Berlin seine Thesen erläutert, wirkt mis­sionarisch: In seinem Buch „Die Null-Grenzkosten-Gesellschaft“ hat er nun eine Vision für die Weltwirtschaft gezeichnet, in der durch Vernetzung, Sharing, erneuerbare Energien und preiswerten 3D-Druck eine Art Selbstversorgerökonomie entsteht. Ein Paradies für die Verbraucher, der Horror für die Industrie.

Vor unseren Augen entwickelt sich ein völlig neues Wirtschaftssystem.

Jeremy Rifkin

WIRED: In Ihrem neuen Buch sagen Sie den Untergang des Kapitalismus voraus. Werden Sie in den USA als Kommunist beschimpft?
Jeremy Rifkin: Im Gegenteil, ich habe ein großartiges Echo bekommen. Dass ich damit nichts Neues erfunden habe, ist ja klar: Ich habe aus beobachtbaren Trends eine Schlussfolgerung gezogen. Wenn man all die technologischen und ökonomischen Einzelereignisse in die richtige Perspektive setzt, erkennt man nun mal, dass sich vor unseren Augen ein völlig neues Wirtschaftssystem entwickelt.

WIRED: Sogar der Vizekanzler Sigmar Gabriel hat für die deutsche Ausgabe ein Promo-Zitat verfasst.
Rifkin: Er sagt, mein Buch spreche einen zentralen Widerspruch im kapitalistischen Konstrukt an: dass es in der Konsumwirtschaft zwar immer darum geht, die Produktionskosten zu senken – das System sich aber gerade dadurch selbst abschafft, sobald in einer optimal vernetzten Gesellschaft diese Kosten gegen null gehen. Wir sehen schon erste Zeichen dieses neuen Zeitalters: die Share Economy auf Basis der collaborative commons, eines kollaborativen Gemeinguts.

WIRED: Also doch, das Ende des Kapitalismus?
Rifkin: Das ist zu plakativ formuliert. Die Share Economy, von der ich spreche, gibt es ja heute auch schon, neben dem klassischen, tauschwertorientierten Markt, die Grenzen sind fließend. Auch in 35 Jahren wird es kapitalistisch orientierte Unternehmen geben, vielleicht werden sie sogar noch einmal aufblühen, aber in anderer Funktion als heute: als reine Aggregatoren von Commons-Netzwerken, die Plattformen dafür schaffen, dass andere sich vernetzen. Es gibt da ja ein grundlegendes Missverständnis, wie bei diesem jungen Mann, mit dem ich neulich im Fernsehen diskutiert habe — wie hieß er noch mal? (Die Promoterin des Buchverlags mischt sich ein: Sascha Lobo!)

Das können Sie gerne schreiben: Sascha Lobo hat nicht den Hauch einer Ahnung!

Jeremy Rifkin

WIRED: Lobo hat unter anderem auf „Spiegel Online“ einen Artikel darüber geschrieben, dass Firmen wie Uber, die sich als Teil der Share Economy ausgeben, in Wahrheit nur verkappten, gewinnorientierten Kapitalismus repräsentieren.
Rifkin: Das können Sie gerne schreiben: Der Mann hat nicht den Hauch einer Ahnung! Was er nicht versteht: Firmen wie Google, Facebook und eben auch Uber haben eine kollaborative Logistik geschaffen, über die Hunderte von Millionen, vielleicht Milliarden Menschen eine echte Share Economy aufbauen können, ihre eigenen Produkte mit minimalen Grenzkosten herstellen und teilen können. In meiner Jugend war es noch selbstverständlich, dass jeder ein Auto besaß. Die Kinder der Millennium-Generation wollen das nicht mehr — sie wollen nur Zugang zum Carsharing. Und was kostet es heute, eine solche Website aufzusetzen? Nichts!

WIRED: Inwiefern entkräftet das Lobos Argument?
Rifkin: Ich sage es Ihnen. Uber ist ein wunderbares Beispiel für das, was ich mit dem Aufstieg der creative commons meine: Es bündelt alle drei Aspekte des Internets: das kommunikative Netz, das logistische Netz und das Internet der Energie, die Smart Grids, wenn man davon ausgeht, dass in absehbarer Zeit auf den Straßen vor allem Elektroautos fahren werden — so wie jetzt schon beim Carsharing-Dienst Autolib’ in Paris. In zehn Jahren werden die Wagen sich selbst steuern, vielleicht kommen sie schon aus dem 3D-Drucker, so wie jetzt der Strati, der auf der International Manufacturing Technology Show in Chicago vorgestellt wurde. Firmen wie Uber und Lyft stellen vor allem den Service zur Verfügung.

WIRED: Aber sie arbeiten gewinnorientiert, nicht gemeinnützig.
Rifkin: Denken Sie weiter. Warum in aller Welt sollten sich all die Fahrer dauerhaft von einer Firma ausbeuten lassen, die den Gewinn abschöpft? Wie wenig würde es eine Stadt wie Berlin oder Hamburg kosten, eine eigene Website einzurichten, um Fahrer und Kunden miteinander in Kontakt zu bringen? Warum sollte man es nicht auch bei Fahrdiensten so machen wie die Deutschen in den Bürger-Energiegenossenschaften? Das soll Lobo mir mal erklären. Ich war gerade in Italien, da sprechen diverse Städte schon über solche Modelle. Ich garantiere Ihnen, es wird so kommen.

WIRED: Was gewaltige Folgen für die Autoindustrie hätte.
Rifkin: Genau. Jedes geteilte Auto macht im Durchschnitt die Herstellung von 15 Autos überflüssig. Was der Unterhaltungsindustrie passiert ist, dem Musikgeschäft, den News-Medien, letztendlich auch den Energieerzeugern, das wird auch die Autoindustrie treffen. Larry Burns, der früher Vizechef der Entwicklungsabteilung von General Motors war, hat Ende 2013 an der Universität von Michigan eine große Studie zur Mobilität in Ann Arbor geleitet, einer mittelgroßen Stadt. Ergebnis: Wenn man dort mit Carsharing und dem bereits existierenden Internet der Dinge arbeitet, kann man in Zukunft 80 Prozent aller Autos abschaffen. Welche Schockstöße das durch die Automobilindustrie schicken würde!

Die Vorstellung, dass Millionen Menschen still abwarten, was ein paar Großkonzerne mit ihren Daten anstellen, ist naiv.

Jeremy Rifkin

WIRED: Die Firmen entwickeln längst Pläne, sich vom rein produzierenden Gewerbe mehr in Dienstleister zu wandeln.
Rifkin: Ja, wie eben gesagt: Sie versuchen, sich zu den Aggregatoren der Transport- und Logistiknetzwerke zu machen. Das wirft allerdings dieselbe Frage auf, die wir uns auch schon im Zusammenhang mit Google oder Facebook gestellt haben: Sobald wir beim Super-Internet der Dinge angekommen sind, könnten einige dieser gewinnorientierten Aggregatoren zu Weltmonopolisten werden — und müssen deshalb politisch reguliert werden, wie es auf EU-Ebene ja schon mit Google passiert. Etwas Ähnliches hat es ja zu Beginn der Industrialisierung gegeben: Arbeiter schlossen sich in Gewerkschaften zusammen, um die Kontrolle darüber zurückzugewinnen, was mit ihrer Arbeitskraft geschieht. Die Vorstellung, dass Millionen Menschen still und devot abwarten, was ein paar riesige Konzerne mit ihren Daten anstellen, ist nicht nur naiv. Sie straft die Weltgeschichte Lügen.

WIRED: Traditionell glaubt man ja, dass die Antriebskraft hinter jeder Art von Fortschritt der Wettbewerb ist. In dem Szenario, das Sie zeichnen, würde es den nicht mehr geben. Welche Kraft würde an seine Stelle treten?
Rifkin: Der Mythos, den Sie hier nachplappern, wird von einigen meiner Kollegen aus der Wirtschaftssoziologie am Leben erhalten. Adam Smith hat das erfunden, die These, dass jedes Individuum in erster Linie seinem Eigeninteresse folgt. Ich fand das immer schon dubios – und wenn man sich nun die Massen von Leuten anschaut, die zu Hause sitzen und sich freiwillig all die Innovationen ausdenken, die Open-Source-Software, die Blogs, Musik, Filme und copyrightfreien Kulturgüter, dann kann man annehmen, dass die Adam Smith wohl nicht gelesen haben. Vor allem die derzeitige Generation wächst, dank des Internets, im Geist eines sozialen Unternehmertums auf: Die Leute erleben, wie sie an kollektiver Wertschätzung gewinnen, wenn sie etwas zur Gemeinschaft beitragen. Manchmal mit finanziellem Gewinn, manchmal nicht.

WIRED: Aufwendigere technologische Innovationen wären auf dieser Basis trotzdem nicht denkbar, 3D-Drucker hin oder her.
Rifkin: Ja, aber dennoch vergessen wir zu oft, dass ein großer Teil solcher Entwicklungen gar nicht aus dem wettbewerbsorientierten Markt kommt, sondern aus dem öffentlichen Sektor, von Regierungen, Universitäten. In den USA hat in diesem Jahr das Buch Das Kapital des Staates von Mariana Mazzucato viel Aufsehen erregt, in dem die Autorin nachweist, wie viele entscheidende technologische Innovationen der letzten Generationen durch Steuergeld finanziert wurden. Das iPhone? Fast alle Einzelteile stammen aus öffentlich finanzierter Forschung. Das Internet? Ein Projekt des Pentagons. Sie können immer mehr Beispiele finden.

WIRED: Obwohl Sie von einer weltweiten Revolution sprechen, nehmen Sie die meisten Beispiele aus der westlich geprägten Sphäre. Was ist mit autoritären Staaten? Sind die von den Umwälzungen ausgeschlossen?
Rifkin: Wir erleben heute ein Nebeneinander von Systemen, die aus ganz verschiedenen Epochen der Geschichte stammen: Stammeskonflikte, religiös motivierte Kriege, ideologisch geprägte Kämpfe, die längst überkommenen Ideen von Geopolitik und nationaler Identität folgen. Das gibt es alles noch, ein Riesenchaos. Aber wenn wir nach vorn schauen, die Flugbahn der Ideen fixieren, sehen wir etwas Neues entstehen: Ein Teil der Menschheit, die junge Generation, die sich synchron mit den Technologien bewegt, entwickelt ein neues, ich würde sagen: biosphärisches Bewusstsein. Ein Wissen darum, wie die Dinge weltweit zusammenhängen. Sei es, dass man ein Erdbeben überall auf der Welt auf Twitter live miterlebt — oder dass 15-Jährige in den USA ihre Eltern fragen, ob man denn heute wirklich noch zwei Autos braucht.

WIRED: Klingt alles wunderbar. Aber ist das am Ende nicht ein idealistischer Wunschtraum?
Rifkin: Wenn Sie meine Bücher kennen, wissen Sie: Ich bin alles andere als ein Optimist. Ich weiß genau, dass große Katastrophen oder schlechte politische Führung uns auch ganz schnell wieder zurückkatapultieren können. Trotzdem sehe ich alle Anzeichen dafür, dass sich das Bewusstsein ändert. Und wenn wir in den wirtschaftlichen Kontexten des 20. Jahrhunderts kleben bleiben würden, wäre das viel eher unser Untergang.

Update: Entgegen Jeremy Rifkins Behauptung hat Sascha Lobo nach eigener Aussage nie mit ihm in einer Talkshow gesessen. Die Thesen zur Sharing Economy, auf die Rifkin sich bezieht, hat Lobo unter anderem in seiner Kolumne bei Spiegel Online formuliert

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